Kleine Seligkeiten im Alltag - Fotoaufnahmen erzählen Geschichten

Leonie und Peter-Uri Frankenstein in Briesenhorst 1944, Jüdisches Museum Berlin

 

Die Ausstellung „Das Leben festhalten. Fotoalben jüdischer Familien im Schatten des Holocaust“ im Museum Schöneberg in Berlin präsentiert Einblicke in Nischen, die fern der Öffentlichkeit waren: Der private Alltag wie er von jüdischen Familien in Fotoalben festgehalten wurde. Die verschiedenen Perspektiven und Bilder lassen Familienmitglieder auf Reisen gehen oder sich in der Stadt begegnen. Später wird man Zeuge ihrer Verfolgung und begleitet sie ins Exil. (JR)

Von Sabine Schereck

Aufgrund seiner Religion seine Arbeitsstelle räumen zu müssen, nicht mehr die vertrauten Strandbäder betreten zu dürfen oder den Pass entzogen zu bekommen, ließ die Lebenswelt der Juden in Deutschland nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 immer weiter schrumpfen. Die Unterdrückung und Gefahren, denen sie ausgesetzt waren, sind in zahlreichen Filmen und Büchern illustriert.

Die Ausstellung „Das Leben festhalten. Fotoalben jüdischer Familien im Schatten des Holocaust“ im Museum Schöneberg in Berlin präsentiert nun eine andere Perspektive. Sie nimmt die Nischen in den Blick, die fern der Öffentlichkeit waren: Der private Alltag wie er von jüdischen Familien in Fotoalben festgehalten wurde. Ihre verschiedenen Schwerpunkte lassen ihre Familienmitglieder im Stadtleben begegnen und auf Reisen erleben. Später wird man Zeuge ihrer Verfolgung und begleitet sie ins Exil.

 

Eingefangene Augenblicke

Der Abschnitt Stadtleben ist ein guter Einstieg. Der dazugehörige Wandtext verweist darauf, dass die Repressalien des NS-Regimes in der Provinz stärker zu spüren waren als in der Großstadt, wo es mehr Freiräume gab. Edith Schlohmann musste ihr Leben in Swinemünde 1936 aufgeben, wo sie vom Gymnasium ausgeschlossen wurde. Sie zog nach Berlin und verdiente ihren Unterhalt in einer Arztpraxis. Auch Walter Frankenstein wurde von seiner brandenburgischen Schule verwiesen. Er kam in Berlin im Auerbach’schen Waisenhaus unter. Seine Fotos sind besonders spannend, sein gesamtes Leben überhaupt, wie der Verlauf der Ausstellung zeigt. Es war schon außergewöhnlich als Jugendlicher eine Kamera zu haben; im Waisenhaus richtete er sie auf den Alltag dort: den Klassenraum, hinter Bücherstapel lernende Jungen; er knipste sie beim Radio hören, beim Zeitung lesen oder im Hof Akkordeon spielend. Da sind auch der Schlafsaal, die morgendliche, noch schläfrige Routine im Waschraum, das anleitende oder zurechtweisende Personal.

 

Raum zum Atmen

Anders als Schlohmann und Frankenstein, ist für die Familien Chotzen und Treitel Berlin Heimat.

Reisen sind stets besondere Anlässe für Fotos und Erinnerungen. So fährt Edith im Sommer Heim an die Ostsee. Die herzliche Umarmung mit einer Freundin am Strand lässt nichts von den existierenden Ausgrenzungen am Strand ahnen. Das Bild von 1936 mit den glücklichen Freundinnen ist in der Ausstellung groß aufgezogen für die Wand, auf der Juden ausgrenzende Verbote der Nazis pointiert vergegenwärtigen, womit Juden konfrontiert waren. Darunter bereits am 22.8.1933 „Für Juden gilt am Strandbad Wannsee ein Badeverbot“. Die Reiseziele der Familie Chotzen konnten 1938 schon nicht mehr so weit gesteckt werden. Sie verbringen ein paar Tage bei einer befreundeten Familie in Teupitz in Brandenburg. Viele Bilder entstehen im Garten: Natur und frische Luft bieten etwas Raum zum Atmen. Zu der Zeit sind Unterkünfte von Bekannten die einzig sicheren.

Ausstellung 'Das Leben festhalten' im Museum Schöneberg. Berlin 2024. Foto: Prisca Martaguet


 

Gefahr und Glück nah beieinander

1938 verschlechterten sich die Lebensbedingungen drastisch und das Thema Verfolgung umfasst die Bilder. Die Einblicke ins Leben der Familie Chotzen lassen das Herz schwer werden, gleichzeitig zeigen sie, wie sie den Widrigkeiten trotzt und lassen Momente aufflackern, die dokumentieren, dass sie sich nicht unterkriegen ließen. Da sind die Aufnahmen des Vaters von 1940, nachdem er die körperliche harte Zwangsarbeit nicht mehr verrichten konnte. Einer der vier Brüder musste bei der Müllabfuhr arbeiten. Die Fotos entstanden heimlich. Lichtblicke hingegen waren Besuche beim Hachschara-Lager Gut Winkel bei Fürstenwalde, wo sich jüdische Jugendliche für Arbeit in Palästina ausbilden ließen. Obwohl die Chotzen-Brüder keine Emigration planten, konnten sie dort Sport treiben und waren in Gesellschaft. Das Lager bestand bis 1941. Eine Seite im Album hat die Überschrift „Berliner Leben 1941“. Die Fotos zeigen Ausflüge in die Stadt, um nicht durch die Unterdrückung zu ersticken. Es war durchaus gefährlich. Ein Bild hält fest, wie die Jungen auf ein Dach geklettert sind.

Bei Walter Frankenstein lagen äußere Gefahr und privates Glück nah bei einander. Auch er wurde 1941 zur Zwangsarbeit verpflichtet. Dem Gegenüber stand 1942 seine Heirat mit Leonie Rosner und im darauffolgenden Jahr die Geburt seines Sohnes Uri. Nachdem er gerade noch der Deportation entging, tauchte die Familie unter. Die Fotos wurden in einer Blechdose im Grunewald verwahrt. 1944 kam ihr zweiter Sohn zur Welt. Leonie war mutig: unter falschen Namen kontaktiert sie die Meldestelle für Ausgebombte und bekam eine Unterkunft auf einem Bauernhof in Briesenhorst, im heutigen Polen, zugeteilt. Fotos zeigen sie glücklich mit dem 1-jährigen Kind im Hof. Das Verhältnis zur Bäuerin muss gut gewesen sein, denn vermutlich hat sie die Aufnahmen gemacht. Auffallend sind die Bildunterschriften wie „Leonie och Uri Frankenstein 1944 i Briesenhorst/Tyskland i den illegaler tiden“ – sie sind auf Schwedisch. Die nächste Albumseite zeigt Passfotos aus dem Sommer 1945. Sie überleben die letzten Kriegstage in einem Bunker in Berlin und emigrieren danach nach Palästina. Da sie dort nicht heimisch wurden, zogen sie 1956 nach Schweden, wo Walter Frankstein noch heute lebt.

 

Neubeginn

Edith Schlohmann hingegen kehrte Berlin bereits im März 1939 den Rücken. Sie ging nach England, wo sie sich zur Krankenschwester ausbilden ließ. Fotos blicken auf scheinbar glückliche Zeiten mit Kolleginnen zurück. Sie konnte ihre Schwester noch nachholen. Für ihre Eltern war es zu spät.

Auch der Großteil der Familie Chotzen überlebte den Krieg nicht, lediglich ein Sohn und die nicht-jüdische Mutter. Die Geschichte der Familie Treitel wird erst im Abschnitt Exil wieder aufgegriffen. Das Album zeigt Passfotos und die Zeile: „Wir wandern aus 1939“. Die Söhne Kurt und Günther kamen 1939 mit dem Kindertransport nach England. Ihren Eltern und ihrer Schwester gelang die Flucht wenig später. Alle begannen in London ein neues, erfolgreiches Leben. Fotos zeigen Familienfeiern, den Schulabschluss und die Arbeit.

Der unmittelbare Blick in den Alltag macht die Stärke der von Robert Mueller-Stahl kuratierten Ausstellung aus. Sie noch läuft bis 30.3.2025.

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