Orli Reichert-Wald – Der „Engel von Auschwitz“

Orli Wald© Wikipedia/Senderratner


Orli Reichert-Wald wurde 1936 als kommunistische Widerstandkämpferin von der Gestapo verhaftet und wegen Hochverrats zu 4 Jahren und 6 Monaten Zuchthaus verurteilt. Ihr Martyrium unter den NS-Folterern sollte aber bis zur Befreiung durch die Rote Armee 1945 andauern und führte sie in die Konzentrationslager Ravensbrück und Auschwitz-Birkenau. Trotz ihres eigenen Leids half sie ihren Mitgefangenen und arbeitete schließlich als Lagerkrankenschwester unter dem sadistischen SS-Lagerarzt und Mörder Josef Mengele. Obwohl selbst keine Jüdin, half Orli jüdischen Menschen, wo immer sie es konnte. Sie schmuggelte Essensrationen zu den Häftlingen, die es dringend brauchten oder verschaffte Geschwächten eine kurze Ruhepause, indem sie die Krankenakten manipulierte. Doch war sie tagtäglich Zeugin des unfassbaren Grauens und der entmenschten medizinischen Experimente des sogenannten „Todesengels von Auschwitz“. Auch nach ihrer Befreiung ließ Auschwitz sie nicht los – sie zerbrach seelisch an den schrecklichen Erinnerungen und verstarb schwer depressiv 1962 in Illten bei Hannover. (JR)

Von Esther Ginsburg

Auf dem Grabstein der Familie Wald auf dem Friedhof Engesohde in Hannover ist zu lesen: "Orli 1914-1962". Hinter dieser kurzen Inschrift verbirgt sich die Lebensgeschichte der Frau, die der „Engel von Auschwitz“ genannt wurde. Sie währte nur 48 Jahre.

Orli Reichert-Wald war eine deutsche Widerstandskämpferin und politische Gefangene. Sie verbrachte neun Jahre in Gefängnissen und Konzentrationslagern. Ihr Weg führte sie über das Frauengefängnis Ziegenhain bei Kassel in die Konzentrationslager Ravensbrück und Auschwitz. Im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau war Orli auf der Krankenstation für Häftlinge tätig und arbeitete unter Dr. Mengele. Sie versuchte, viele Frauen vor dem Tod zu bewahren, hatte aber zeitlebens das Gefühl, dafür nicht genug getan zu haben. Nach dem Krieg litt Orli an schweren Depressionen, von denen sie sich bis zu ihrem frühen Tod nicht mehr erholte.

Orli Reichert-Wald wurde als Aurelia Torgau am 1. Juli 1914 in dem Dorf Bourell in Frankreich geboren und war das jüngste von sechs Kindern in der Familie des Lokomotivführers August Torgau. Ihre Mutter Maria war Französin.

Kurz nach ihrer Geburt, im Jahr 1914, brach der Erste Weltkrieg aus - Deutschland erklärte dem benachbarten Frankreich den Krieg. Die deutsch-französische Familie Torgau wird zum "fremden Feind". Sie werden im September 1916 in ein Internierungslager geschickt. Maria Torgau und ihre Kinder werden aus Frankreich deportiert und landen zunächst in Luxemburg und dann in Trier, Deutschland. Der Vater blieb unterdessen in französischer Obhut. Erst im Frühjahr 1919 konnte er zu seiner Familie nach Trier zurückkehren und fand dort bald Arbeit als Bahnarbeiter. Nach seiner Entlassung wurde August Torgau Kommunist und gehörte zu den Gründern der Trierer Ortsgruppe der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD).

 

 

Widerstand im Untergrund

Die gesamte Familie Torgau engagierte sich in der kommunistischen Bewegung: Orlis ältere Brüder Fritz und Willi wurden aktive Mitglieder im Kommunistischen Jugendverband Deutschlands (KJVD). Nach Hitlers Machtübernahme 1933 wurden die Aktivitäten der KPD für illegal erklärt und die Partei ging in den Untergrund.

Nach dem Schulabschluss in Trier macht Orli eine Ausbildung zur Verkäuferin bei einer Konsumgenossenschaft. Trotz der Gefahr entschloss sich Orli 1933, wie ihre Familienangehörigen, dem KJVD beizutreten und begann den illegalen Kampf gegen den Nationalsozialismus.

Als Mitglied des kommunistischen Widerstands wurde sie als Kurier ins benachbarte Luxemburg geschickt, von wo aus sie und ihre Brüder antifaschistische Literatur nach Trier in Nazi-Deutschland schmuggelten. 1934 wurde Orli zum ersten Mal von der Gestapo verhaftet, aber aus Mangel an Beweisen bald wieder freigelassen. Unter Lebensgefahr setzte sie ihre Arbeit im Untergrund fort.

Ein Jahr später, am 6. August 1935, heiratete Orli Friedrich Reichert und nahm seinen Nachnamen an. Ihr Mann war anfangs wie sie Mitglied des KJVD, doch später gingen ihre politischen Ansichten weit auseinander. Sechs Monate nach ihrer Heirat wurde Fritz Mitglied der NS-Sturmabteilung (SA) und war entschieden gegen die illegalen Aktivitäten seiner Frau.

Das Paar trennte sich im März 1936, als Reichert versuchte, mit der Aufdeckung ihrer Widerstandsgruppe im Untergrund zu drohen. Es ist nicht bekannt, ob diese Anzeige von ihm stammte, aber zwei Monate später, im Juni 1936, wurden Mitglieder der kommunistischen Widerstandsgruppe, darunter auch Orli, verhaftet und wegen Vorbereitung eines Hochverrats angeklagt. Die Verhaftung von Orli, so berichten ihr nahestehende Personen, erfolgte aufgrund der kompromittierenden Zeugenaussage ihres Ehemannes.

Orli befand sich zu dieser Zeit in Luxemburg. Sie wurde gezwungen, sich der Gestapo in Trier zu stellen, nachdem man ihr mit der Verhaftung ihrer Eltern gedroht hatte, sollte sie nicht zurückkehren. Während der Verhöre folterten die Gestapobeamten die junge Frau brutal, schlugen sie, zwangen sie zu stundenlangem Stehen und quälten sie mit Schlafentzug.

 

Gefängnis und Konzentrationslager

Am 21. Dezember 1936, im Alter von 22 Jahren, wurde Orli als Widerstandskämpferin vom Oberlandesgericht Hamm wegen Hochverrats zu 4,5 Jahren Zuchthaus verurteilt. Willi und Fritz Torgau wurden von demselben Gericht zu 7 Jahren Haft verurteilt. Beide wurden bald darauf in Konzentrationslager gebracht.

Orli kam in das Frauengefängnis in Ziegenhein bei Kassel und verbrachte drei Jahre ihrer 4,5-jährigen Haftstrafe in Einzelhaft. Das Gnadengesuch der Mutter für ihre Tochter wurde von der Gestapo Trier mit der Begründung abgelehnt, dass sie, wie andere Mitglieder der Familie Torgau, aktives Mitglied der örtlichen kommunistischen Widerstandsbewegung war. Ihr Ehemann Fritz Reichert blieb in der NSDAP aktiv und reichte 1939 die offizielle Scheidung ein. Reichert erklärte vor Gericht, dass eine Fortsetzung der Ehe nicht mehr möglich sei. Während ihrer Haft konnte Orli den Nachnamen ihres Mannes nicht aufgeben und war gezwungen, ihn während der langen Jahre ihrer Inhaftierung zu tragen.

Im Jahr 1940 musste Orly in einem Prozess als Hauptzeugin gegen den Führer der Kommunistischen Partei Luxemburgs, Zenon Bernard, aussagen. Die Gestapo versprach ihr dafür die Freilassung aus der Haft, aber Orli war fest entschlossen, Bernard trotz aller Widrigkeiten nicht zu belasten. Wegen ihrer Weigerung, mit den Nazis zusammenzuarbeiten, wird sie, die bereits mit ihrer Freilassung rechnete, zu einer weiteren Haftstrafe verurteilt.

Drei Tage vor Weihnachten 1940 wird sie in das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück deportiert, wo sie etwa 15 Monate verbringt. Dort erhält sie als politische Gefangene die Nummer 5319/3901 und muss ein rotes Dreieck auf ihrer Häftlingsjacke tragen.

Haftzeit in Auschwitz-Birkenau

Ende März 1942 wurde Orli zusammen mit 998 Häftlingen aus Ravensbrück in das Konzentrationslager Auschwitz gebracht, wo sie die politische Häftlingsnummer 502 erhielt. Dort verbrachte sie mehr als ein Jahr und musste zusammen mit der Häftlingsärztin Adelaide Hautval den Lagerkrankenbau für Frauen organisieren. Orli wurde bald zur Aufseherin der Lagerkrankenstation und machte eine Ausbildung zur Krankenschwester. Als Aufseherin genoss sie gewisse Privilegien und durfte in einem eigenen Zimmer wohnen.

Im August 1942 wurde das Frauenlager nach Auschwitz-Birkenau verlegt, wo die Bedingungen noch unerträglicher waren. Auf der Krankenstation des Lagers wurde sie ständig Zeugin unvorstellbarer Schrecken: Birkenauer Ärzte ermordeten auf Anweisung von Dr. Mengele Babys mit Phenolspritzen, führten "medizinische Experimente" durch und selektierten Patienten für Gasvergiftungen.

Die jüdische ehemalige Auschwitz-Häftling Margareta Glas-Larsson erinnerte sich: "Ich traf Orli Reichert zum ersten Mal im Mai 1943 im Krankenrevier von Auschwitz-Birkenau. Sie war damals die Älteste im Lager und hatte bereits etwa acht Jahre im Gefängnis verbracht. In diesem schlimmsten aller Todeslager kämpfte Orli mutig und selbstlos gegen die SS und die Lagerärzte unter der Leitung von Dr. Mengele, vor allem für das Leben der jüdischen Häftlinge. Diese gütige, sympathische Frau, die mit einem bemerkenswerten Geist ausgestattet war, gab uns durch ihre Existenz und ihren unermüdlichen Kampf die Kraft, diese Hölle psychisch und physisch zu überleben. Sie hat meinem Mann und mir das Leben gerettet. Mein Mann, der nur ein Bein hatte, wäre ohne ihr Eingreifen und ihre Mitwirkung mit Sicherheit den Gaskammern zum Opfer gefallen. Ich war eine enge Freundin von Orli. Ich erinnere mich oft an ihre Worte: "Ich kann die traurigen großen Augen der jüdischen Mädchen nicht ertragen. Ich muss so viele von ihnen retten, wie ich kann."

 

Kampf gegen Dr. Mengele

Als Leiterin der Krankenstation musste sie Dr. Mengele bei der Selektion unterstützen und gleichzeitig den unglücklichen Opfern hinter seinem Rücken helfen. In der Krankenstation wurde Orli wegen ihrer Selbstlosigkeit und Fürsorge für die Menschen in der Lagerhölle der "Engel von Auschwitz" genannt.

Sie rettete Menschen, indem sie ihnen kleine Mengen an Lebensmitteln schmuggelte oder sich an ihren Krankenakten zu schaffen machte. Ständig musste sie ihr Leben riskieren, um Häftlinge (darunter die Ärztin der Krankenstation, die Gefangene Adelaide Hautval) vor einer Typhuserkrankung zu bewahren. Orli gelingt es, den Gefangenen zu helfen, indem sie sie unter falschem Verdacht auf Typhus in die Krankenstation einweist, um ihren drohenden Tod irgendwie hinauszuzögern.

Es ist auch wichtig zu erwähnen, dass Orli in unmittelbarer Nähe von Dr. Mengele Mitglied der deutschen Widerstandsgruppe in Auschwitz war. Ähnliche Gruppen wurden von Häftlingen aus verschiedenen europäischen Ländern gebildet. Die deutsche Gruppe, die von Bruno Baum geleitet wurde, bestand 1943 hauptsächlich aus Kommunisten und Sozialdemokraten. Ihre Mitglieder hatten die meiste Erfahrung im Lagerwiderstand, da sie seit 1933 inhaftiert waren. Die männlichen und weiblichen Zellen der Gruppe arbeiteten in Auschwitz, Birkenau und Monowitz. Die Mitglieder der Widerstandsgruppen kümmerten sich um die KZ-Häftlinge, darunter auch Kinder, und versuchten, ihnen das Überleben zu sichern. Sie versuchten, Fluchten zu organisieren und Informationen über das Konzentrationslager an die Außenwelt weiterzugeben.

Im Winter 1943 erkrankte Orli an Typhus, von dem sie nie ganz geheilt wurde. Am Ende des Jahres erlitt sie einen Rückfall. Während ihres Aufenthalts in Birkenau erkrankte sie auch an Tuberkulose und verfiel bald in eine schwere Depression. Im Sommer 1943 unternahm sie einen Selbstmordversuch mit einer Überdosis Beruhigungsmittel, wurde aber glücklicherweise gerettet. "Unsere jüdische Lagerärztin Ena Weiß", erinnert sich Margareta Glass-Larsson, "zerrte Orli buchstäblich aus einem Auto, das auf dem Weg in die Gaskammer war. Nach ihrer Aussage konnte sie 'nicht mehr die ganze Zeit dem Tod zusehen'."

 

Todesmarsch

Eines Tages rief der Lagerarzt Orli zu sich: "Reichert, Sie sind entlassen worden. In ein paar Tagen werden Sie frei sein." Nach diesem Gespräch weinte Orli sehr und sagte, dass sie nicht aus dem Krankenrevier entlassen werden wolle. "Was wird dann mit euch allen geschehen? - wiederholte sie. - Meine Aufgabe ist es, weiterhin das kostbare Leben meiner Schwestern zu retten". Aber dann wurde Orli doch nicht freigelassen. Auf freiem Fuß wäre sie für die SS zu gefährlich gewesen.

Im Januar 1945 überlebte sie einen 50 Kilometer langen Todesmarsch zu Fuß von Auschwitz zum Konzentrationslager Ravensbrück und dessen Außenlager Malchow. Dorthin wurden 9.000 Frauen, die noch laufen konnten, zusammengetrieben. Am 27. Januar 1945 wurde Auschwitz von der Roten Armee befreit.

In Malchow traf Orli auf Häftlingsfrauen, die sie bereits kannte. Die Überlebende Jeanne Yuda erinnert sich: "Die Mädchen waren begeistert und aufgeregt: Unsere Orli ist wieder bei uns! Ich kenne keine andere Lagerinsassin, die ein so wunderbarer Mensch geblieben ist wie sie."

Cover eines Buches über Orly Reichert-Wald

In den letzten Apriltagen 1945 gelang Orli zusammen mit anderen Häftlingen die Flucht aus Malchow. Die bevorstehende Befreiung war nicht nur freudig: Die Befreier - Soldaten der Roten Armee - fühlten sich manchmal berechtigt, für ihre Rettung eine exorbitante Bezahlung zu verlangen. Oft erwarteten sie auch Dankbarkeit intimer Art. Wenn eine Frau nicht gehorchte, wurde sie vergewaltigt. So war es auch bei Orli.

 

Neubeginn nach dem Krieg

Im Mai 1945 kam Orli im zerstörten Ostberlin an, wo sie sich im Bezirk Pankow niederließ. Sie bleibt dem Kommunismus treu und tritt der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) und der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes bei. Für sie beginnt ein neues Leben mit alten Wunden in ihrer Seele.

Sie beginnt, einen Artikel für die Berliner Zeitung zu schreiben. Ihr Artikel über Louise Kautsky, eine politische Gefangene, die in Auschwitz starb, erregt die Aufmerksamkeit des Chefredakteurs der Berliner Zeitung Rudolf Herrnstadt, der Orli als Redakteurin engagieren will. Doch die Idee lässt sich nicht verwirklichen: Ein Ausbruch von Tuberkulose und Depressionen erfordert Orlis dringenden Aufenthalt in einem Sanatorium.

Sie wird in den Südharz, nach Sülzhayn, geschickt, wo sich die Verfolgten des Nationalsozialismus erholen. Dort lernt sie den Journalisten Eduard Wald aus Hannover kennen, der wie Orli viele Jahre als politischer Häftling in Konzentrationslagern und Gefängnissen verbracht und sich in einer Widerstandsgruppe engagiert hatte. Nach dem persönlichen Leid, das sie ertragen musste, war es für Orli nicht leicht, wieder Vertrauen zu Männern zu fassen, aber zwei Jahre nach dem Krieg heiratete sie wieder. Sie und Eduard heirateten im November 1947 und zogen im Frühjahr 1948 nach Hannover. Anlässlich der Hochzeit erlaubten die DDR-Behörden Orli, das Land zu verlassen.

Eduard Wald kümmerte sich sehr um seine Frau und unterstützte sie stets in ihrem langen und demütigenden Kampf um die Anerkennung als Opfer des Nationalsozialismus und um die ihr zustehende finanzielle Entschädigung. Die Situation im Nachkriegsdeutschland schockiert Orli: Sie ist traurig darüber, dass die wichtigsten Positionen im Lande oft mit ehemaligen Nazis besetzt sind.

 

Das Schrecken holte sie wieder ein

Aufgrund ihres labilen Gesundheitszustands, der mit ihrer Medikamentenabhängigkeit zusammenhängt, kann Orli nicht einmal ehrenamtliche Tätigkeiten ausüben, wie z. B. ehemaligen NS-Opfern bei der Sozialhilfe helfen. Sie wird ständig von den Erinnerungen an die Schrecken und Verbrechen der Konzentrationslager heimgesucht. Sie kann keine Musik hören, die sie zu sehr an das Lagerorchester erinnert, das den Abtransport der Opfer in die Gaskammern begleitete. Sie versucht sich im kreativen Schreiben und nimmt Malunterricht bei dem Künstler Erich Wegner.

Wald rät ihr, ihre Erinnerungen aufzuschreiben, und hofft, dass dies eine positive Wirkung auf sie haben wird. Doch das Gegenteil ist der Fall: Orli erlebt die Schrecken des Lagers noch einmal und wird depressiv. Trotzdem versucht sie, für die sozialdemokratischen Zeitungen autobiografische Artikel und Gedichte über Auschwitz zu schreiben. Es gelingen ihr mehrere Prosawerke, die von Empörung, Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit geprägt sind.

In der Kurzgeschichte "Taschentuch", die im April 1948 in der Zeitung "Thüringer Volk" veröffentlicht wurde, beschreibt sie beispielsweise, wie es ihr nicht gelang, das kleine blinde Mädchen Christel vor der Giftspritze zu schützen. Orli kümmerte sich im Krankenbau liebevoll um Christel, als wäre sie ihr eigenes Kind, musste sie aber einem SS-Unterscharführer ausliefern, der das kleine Mädchen mitnahm, um ihr Phenol ins Herz zu spritzen ...

Orli muss sich immer wieder in stationäre psychiatrische Behandlung begeben, und die Abstände zwischen diesen Einweisungen werden immer kürzer. Der Auschwitz-Überlebende Hermann Langbein, kommunistischer Widerstandskämpfer aus Wien und Mitbegründer des Internationalen Komitees der Auschwitz-Häftlinge, besuchte Orli mit dem Angebot, beim ersten "Auschwitz-Prozess" in Frankfurt, der von 1963 bis 1965 stattfand, als Zeugin auszusagen. In Langbeins Beisein studierte Orli die von ihm zur Verfügung gestellte Liste mit den Namen der Angeklagten und gab zu jedem von ihnen detaillierte Auskünfte.

Langbein erzählte später, dass Orlis Hände während des Treffens vor Nervosität zitterten und er ihr die Liste abnehmen wollte. Sie bestand jedoch darauf, das Gespräch fortzusetzen. "Sie wusste zu viel darüber, was im Lager vor sich ging", erinnerte sich Herman Langbein. Auch über die tödlichen Phenol-Impfungen, die Kindern im Säuglingsalter verabreicht wurden. Der Stress der Zeugenaussage im ersten Auschwitz-Prozess in Frankfurt verursachte bei ihr schwere Depressionen.

Voller Schmerz und Verzweiflung schrieb sie an den SS-Unterscharführer, der das blinde Mädchen aus Auschwitz-Birkenau zur Vernichtung abgeholt hatte: "Sie sind ein Mörder und Sie werden sich dafür verantworten müssen", aber das änderte damals nichts.

 

Auschwitz ließ sie nicht los

Als im April 1961 in Israel der Prozess gegen Adolf Eichmann, einen der Hauptverantwortlichen für die Ermordung von Millionen von Juden in Europa, begann, wurde Orli erneut mit einem Nervenzusammenbruch in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Es kam ihr vor, als sei sie immer noch in Auschwitz. In ihren Gedanken ist der Krieg noch immer präsent, und sie macht sich ständig Vorwürfe, nicht genug für ihre Mitgefangenen getan zu haben.

Sie kommt mit den Erinnerungen an die Konzentrationslager nicht zurecht und unternimmt einen Selbstmordversuch. Nachdem sie das Konzentrationslager überlebt hat, verliert sie den Lebenswillen. 1954 war Orli neun Monate lang in der psychiatrischen Klinik Tiefenbrunn untergebracht. Der behandelnde Arzt vermerkt in ihrer Krankengeschichte: "Depressiver Zustand nach Befreiung aus dem KZ Auschwitz. Die Patientin findet sich in der Welt nicht zurecht. Sie hat keinen Glauben mehr an die Menschheit, sondern ein Gefühl für die Sinnlosigkeit des Lebens".

Am 1. Januar 1962 wurde in den Krankenakten der Klinik eine schwere Übererregung der Patientin vermerkt, die nur durch eine hohe Medikamentendosis gelindert werden konnte. Sie starb noch am selben Tag in den Wahrendorffschen Anstalten in Ilten bei Hannover. Auschwitz hatte Orli endgültig vernichtet, eine mutige, der Gewalt trotzende Leidensgenossin, die sich in der schrecklichsten Zeit ihre Menschlichkeit bewahren konnte.

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