Ein Ritchie-Boy erinnert sich: Werner T. Angress - Flucht und Rückkehr. Erinnerungen eines jüdischen Berliners

Werner T. Angress emigrierte 1939 mit seiner jüdischen Familie in die USA, kehrte aber 1944 vom D-Day an als Soldat der US-Armee zurück und kämpfte bis zum Ende des Krieges gegen die Nationalsozialisten. Mit seinen Deutschkenntnissen war Angress Teil der geheimdienstlichen Einheit „Die Ritchie-Boys“. Nach dem Krieg studierte Werner Angress Geschichte, lehrte an den Universitäten Berkeley und New York und kehrte schließlich 1988 in seine Heimatstadt Berlin zurück, wo er im Jahre 2010 verstarb. (JR)

Von Theodor Joseph

Welch ein Leben! Werner „Tom“ Angress (1920-2010): Er stammte aus einer bürgerlichen jüdischen Familie in Berlin, „sehr bourgeois, sehr preußisch, in vielem an das Ambiente im Roman Jettchen Gebert“ erinnernd, wie er in seiner Autobiographie schreibt. Das familiäre Milieu war typisch für viele andere Juden in den Berliner Weimarer Jahren. Typisch auch für Juden, wenn man es so sagen darf, die ab 1933 verfolgt, vertreiben und ermordet wurden – unter den Augen eines billigenden, zumindest gleichgültigen, und manchmal auch aktive Beihilfe leistenden deutschen Bildungsbürgertums.

Angress verließ 1939, 19-jährig, seine Heimatstadt Berlin in Richtung USA. Dort lehrte er 35 Jahre als Professor für europäische Geschichte in Berkeley und New York. Als US-Soldat kämpfte er vom D-Day im Juni 1944 bis zum Kriegsende im Mai 1945. Nach seiner Emeritierung kehrte Angress 1988 nach Berlin zurück, blieb als Historiker für deutsch-jüdische Geschichte in Deutschland weiterhin aktiv. Als Mensch war Angress, wie der Herausgeber der Angressschen Erinnerungen, Norbert Kampe, schreibt, völlig unautoritär – als Wissenschaftler jedoch eine Autorität.

Als Jugendlicher wurde Angress Mitglied des antizionistischen jüdischen Jugendbundes „Schwarzes Fähnlein“. Angesichts des wachsenden Antisemitismus unter den Nationalsozialisten wechselte er 1933 auf eine jüdische Schule in Berlin. Die Familie floh 1937 in die Niederlande und beschloss 1939, in die USA auszuwandern, was nur teilweise gelang. Zuvor hatte Angress sich noch auf dem Lehrgut Groß Breesen bei Breslau zum Landarbeiter ausbilden lassen, um auf einem ausländischen Arbeitsmarkt bestehen zu können. Da die gemeinsame Flucht die finanziellen Möglichkeiten der Familie überstiegen hätte, wurde Werner Angress als junger, leistungsfähiger Mann dazu bestimmt, die Emigration der Familie, also der Eltern und seiner jüngeren Brüder, vorzubereiten.

In seinen Erinnerungen beschreibt Angress seine ersten 25 Lebensjahre, in denen er mit dem Judentum haderte. Er erzählt fesselnd, weil auch die Zeitspanne, die er reflektiert, spannend bis aufregend war – das Schicksal seiner Generation als assimilierter deutscher Jude, der seine Heimat verlassen musste, gleichwohl in den USA eine erstaunliche akademische Karriere machen konnte.

In der US-Armee ließ er sich als deutscher Muttersprachler im Camp „Ritchie“ zum Gefangenenverhörer („Richie Boy“) ausbilden, die die Aufgabe hatten, gefangene Wehrmachtssoldaten und Mitglieder der Waffen-SS zu verhören. Er selbst geriet zeitweilig in deutsche Kriegsgefangenschaft, als Jude, der seine deutsch-jüdische Identität verheimlichen musste, ein lebensgefährliches Unterfangen.

Angress war an der Befreiung des KZ Wöbbelin, ein Außenlager des KZ Neuengamme, beteiligt. Erstaunlich, dass er bis zu diesem Zeitpunkt, wo der Holocaust beinahe beendet war, nichts von den Vernichtungslagern wie Auschwitz oder Majdanek gehört hatte.

Bei seinen Verhören wurde Angress von den deutschen Gefangenen oft gefragt, ob sie nun erschossen werden würden, worauf dieser antwortete: „Wir sind doch keine Nazis“. Und wenn er gefragt wurde, woher er so gut deutsch spräche, erwiderte er, er sei Amerikaner deutscher Abstammung, was sowohl richtig als auch falsch war. Dass er Emigrant und Jude war, hat er keinem je erzählt.

Als amerikanischer Verhörer („Interrogator“) deutsch-jüdischer Herkunft erwies sich Angress als jemand, der deutschen Kriegsgefangenen gegenüber mitunter Mitgefühl empfand, sich als ein im humanistischen Geist erzogener Mann erwies, jemand, den seine Vorgesetzten daran erinnern mussten, dass er kein Seelsorger sei.

Auf der Grundlage seiner Verhöre junger Angehöriger der Waffen-SS in einem Kriegsgefangenen-Durchgangslager bei Ludwigslust nach Ende des Zweiten Weltkrieges nahm Angress Günter Grass während der Debatte um dessen verschwiegene Dienstzeit bei der Waffen-SS und ihrer Bekanntmachung in dessen Roman „Beim Häuten der Zwiebel“ in Schutz. Er, Angress, habe vor allem „verführte Mitläufer“ verhört, „[h]albe Kinder […], dazu bestimmt, in den letzten Kriegstagen verheizt zu werden.“

Am 13. Mai 1945 fand Angress in Amsterdam seine Mutter und seine beiden jüngeren Brüder wieder und erfuhr, dass sein Vater 1942 nach Auschwitz deportiert worden war. Dort ist dieser im Januar 1943 „mit preußischer Effizienz“ ermordet worden.

Das Jahr 1945 war in doppelter Hinsicht ein Einschnitt in Werner Angress Leben: Nach seinem Kriegsdienst begann er im Spätherbst 1945 sein Geschichts-Studium in den Vereinigten Staaten, wo er auch promovierte und habilitiert wurde. Es folgte nach und nach ein erfülltes akademisches Leben als anerkannter und geschätzter Historiker, ein Leben, das von der Frage geleitet war, wie sich Deutschland zwölf Jahre lang einem Hitler inbrünstig in die Arme werfen konnte.

Leider beschreiben die Angressschen Erinnerungen nur die Zeit bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, wobei die Leser sicherlich gerne mehr über dessen Zeit „danach“ erfahren hätten.

 

Werner T. Angress: Flucht und Rückkehr. Erinnerungen eines jüdischen Berliners 1920-1945. Hentrich & Hentrich Verlag Berlin Leipzig, 384 S., 24,90 Euro

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