Shelly Kupferbergs Debüt-Roman „Isidor“: Vom Erfolg zur Verfolgung

Shelly Kupferberg und Cyrus Overbeck vor einem Bild „Sophie Scholl“ bei der Buchpräsentation „Isidor“ in der Alten Brotfabrik in Duisburg
© Christa Spindler

Die jüdische Publizistin Shelly Kupferberg begibt sich in ihrem Roman auf den Lebensweg ihres Urgroßonkels Isidor Geller, der in der feinen Wiener Gesellschaft gefeiert war und mit dem Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland alles verlor. An Isidors Schicksal ist klar nachvollziehbar, wie der Akt der Vernichtung sich bereits unmittelbar nach dem Anschluss an Deutschland anhand bürokratischer Prozesse manifestierte. All diese Überlegungen bündelt Shelly Kupferberg in der Frage: „Was bleibt von einem Menschen übrig, wenn nichts von ihm übrigbleibt?“ (JR)

Von Dr. Ludger Joseph Heid

Shelly Kupferberg ist eine in Tel Aviv geborene und in Berlin lebende Journalistin, Publizistin, und gefragte Moderatorin, die nunmehr ihren Debüt-Roman „Isidor“ vorgelegt hat – ein jüdisches Leben, das im „hinterletzten ärmlichen Winkel“ in einem ostgalizischen Kaff namens Lokutni begann und in Wien elendig endete. „Isidor“ ist ein glänzend geschriebenes Buch, das den Leser von Anfang bis Ende fesselt. Kupferbergs „Isidor“ ist eine schön-traurige Familiengeschichte – ihre eigene. Sie zeichnet den Lebensweg des Israel/Isidor Geller nach, feinfühlig, persönlich, empathisch, intim. „Isidor“ steckt voller Poesie.

Es ist die Geschichte von Shelly Kupferbergs Urgroßonkel Isidor Geller (15.9.1886-17.11.1938), der seinen Geburtsnamen „Israel“ ablegte, und seinen Vaternamen „Judenfreund“ nicht tragen musste. Das lag daran, weil die Ehe seiner Eltern, wie es religiöser Tradition entsprach, nur im Tempel und nicht vor einem weltlichen Standesamt geschlossen worden war - und damit illegitim war, die Kinder als unehelich galten. Die Kinder wurden demzufolge nach ihrer Mutter „Geller“ genannt. Isidors Mutter hieß Batja (Bessie) Geller, sein Vater trug den Namen Eisik Judenfreund. Isidors Geschwister, allesamt nach 1880 geboren, trugen die der Bibel entnommenen Namen: David, Rubin (Rudolf), Nathan und Fejge (Franziska), keine Namen, die Türen öffneten. Shelly Kupferbergs „Isidor“ ist zugleich eine Hommage an ihren Großvater Walter Grab.

 

Assimilation durch Umbenennung

Gellers eigentlicher Vorname lautet „Israel“, er selbst hat seinen jüdisch konnotierten Vornamen alliterierend in Isidor geändert. Der Name „Israel“ dürfte der Personenname mit der stärksten antisemitischen Ladung sein – der Name als Stigma. Für ihn mag diese Namensänderung ein Stück Assimilation auf seinem Emanzipationsweg bedeutet haben. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der einst seltene Vorname „Isidor“ im deutschen Sprachraum gängig. Damit bekam dieser Name eine Verbreitung, der für Juden nicht das Jüdisch-Alttestamentarische symbolisierte, sondern den geglückten Versuch, sich der deutschen Welt anzugleichen – der Versuch, vom genannten „Israel“ im Gleichklangnamen „Isidor“ unterzukommen. Indes: Für Antisemiten symbolisierte der (aus dem Griechischen stammende!) Name „Isidor“ das genaue Gegenteil, nämlich die Tatsache, dass man sich eben nur äußerlich angenähert und das unauslöschlich Jüdische vergeblich verdeckt habe. Die Entgegensetzung von „Isidor“ und Deutschsein wurde perfekt.

Von „Israel“ zu „Isidor“ ist nur ein kleiner phonetischer Schritt, seinen jiddischen Vornamen zu verdeutschen, war zugleich ein Versuch, nicht sofort als Ostjude erkannt zu werden. Doch warum legte er sich den Vornamen „Isidor“ zu? Wusste er nicht, dass auch dieser Name unbezweifelbar die Speerspitze antisemitischer Namenpolemik war? Dem Namen Isidor, so Dietz Bering in seiner fulminanten Studie Der Name als Stigma, haftete die Komponente „besonders negativer jüdischer Typ“ an und gab der Markierung drückendes Gewicht. Möglicherweise glaubte Isidor sich etymologisch geschützt durch die Tatsache, dass der Name Isidor gar nicht jüdisch-hebräischer, sondern griechischer Herkunft ist - „Geschenk der Isis“.

Die Welt, aus der Isidor stammt, schien der irdischen Welt weit entrückt, es war die Welt des Talmudgelehrten Vaters Eisik, die Welt des Chassidismus, die Enge eines galizischen Schtetls, des Jochs der 613 Ge- und Verbote. Es war ein ärmliches Milieu, in dem Isidor aufwuchs: Der Vater, tagsüber in der Schil „Gemore“ lernend und sein Leben mit dem Studium der heiligen Bücher verbringend, trug nichts zum Familienhaushalt bei. Dafür kannte er allerdings den Talmud auswendig. Eine Welt, Lichtjahre entfernt von der väterlichen Welt, die Heine besungen hat, der für seine „Freunde“ ein „neues“ und „besseres“ Lied dichtete und der „hier auf Erden schon das Himmelreich“ errichten wollte. Das erhoffte sich auch Isidor, indem er seinem Zuhause den Rücken kehrte, sich einen neuen Namen gab und mit seiner Wanderschaft in die k.u.k.-Metropole Wien das orthodoxe Judentum, seine Muttersprache Jiddisch und seinen ererbten Namen hinter sich ließ. Isidor strebte nach den „Zuckererbsen für jedermann“, der Himmel sollte den Engeln und Spatzen überlassen bleiben.

Und dazu noch der Vatername: Judenfreund! Israel Judenfreund! Wie will ein solcher Namensträger in einer säkularen Welt zurechtkommen, ohne sich antisemitischer Attacken erwehren zu müssen? Angesichts dieses Gegeneinanders musste jeder, der diesen ominösen Namen kombiniert mit einem ohnegleichen „jüdisch“ markierten Familiennamen, in besonderer Weise der Lächerlichkeit preisgegeben sein. Während also andere Juden unbedingt den Namen „Isidor“, der in zahllosen Witzen figuriert wurde, loswerden wollten, legte sich Geller diesen markierten Namen zu. War das sein persönlicher Ausdruck von Selbstbewusstsein, von Stolz gar?

 

Anerkennung seines Lebensweges

Shelly Kupferberg ist die Enkelin von Walter Grab (1919-2000), einem international renommierten israelischen Historiker und Literaturwissenschaftler, Jakobiner-Forscher. Seinen fesselnden Erzählungen verdankt die Enkelin das Wissen über Isidor, der Bruder von Grabs Mutter Franziska (Fejge). Die weiteren Details über das Leben (und Sterben) Isidor Gellers entdeckte sie in österreichischen Archiven, allen voran das Archiv des Bundesdenkmalamtes in Wien, wo die archivalische „Black Box“ von Isidors Leben ausgewertet wurde - und auf dem Hängeboden ihres Großvaters Walter in der Tel Aviver Gordon Straße 15. Dieses (Vor-)Wissen löste das Ticket zur Neugier. Kurz: Ihr detektivisches Gen begann sich zu regen. So entdeckte sie im Österreichischen Staatsarchiv Kurlisten, aus denen hervorgeht, in welchen Orten und Hotels und in welcher Begleitung Isidor Urlaub machte. Bei all ihren Recherchen und Erkenntnissen über Isidors Leben hatte sie das Gefühl, sie gebe ihm eine Geschichte – seine Geschichte zurück. Das allein bedeutet eine späte Anerkennung seines Lebensweges und seiner Träume.

Der aus ärmlichen Verhältnissen stammende Isidor (manchmal ließ er sich auch Ignaz oder Innozenz nennen) Geller hatte sich in Wien, wo er 1908, 22-jährig, eintraf, eine weltliche Bildung angeeignet, Jura studiert und in diesem Fach promoviert, eine gefragte anwaltliche Sozietät aufgebaut und war bis zum Kommerzialrat aufgestiegen, um es dann bis zum Berater der österreichischen Regierung zu bringen. Durch geschickte Geldanlagen war er zu Wohlstand gekommen, kurz: er war steinreich, jemand, der sich alles leisten konnte.

Der Initialgedanke, mehr über diesen geheimnisumwitterten Urgroßonkel ans Licht zu bringen, kam Shelly Kupferberg 2018 während einer Tagung zur Nazi-Raubkunst „20 Jahre Washingtoner Prinzipien – Wege in die Zukunft“, eine Tagung, die sie moderierte. Sie wollte mehr über diesen mysteriösen Verwandten erfahren. Mit einem Mal erinnerte sie sich: In dem Palais ihres betuchten Urgroßonkels musste doch auch Kunst an den Wänden gehangen haben, und überhaupt: Teppiche, bibliophile Bücher und vieles mehr.

Die Geschichte des „Isidor“ ist eine Geschichte vom phänomenalen Aufstieg und tiefem Fall, man mag sich an die Geschichte des Hofjuden Joseph Süß Oppenheimer (1698-1738), Hoffaktor und Finanzberater am württembergischen Hof Herzog Karl Alexanders, erinnert fühlen, die Geschichte, die Lion Feuchtwanger unnachahmlich in seinem Roman „Jud Süß“ beschrieben hat. Oppenheimer wurde Opfer eines Justizmordes aufgrund judenfeindlicher Anschuldigungen, er wurde hingerichtet und sein Leichnam sechs Jahre lang in einem Käfig zur Schau gestellt. Dr. Israel alias Isidor Geller wurde zwar nicht in einem Metallkäfig aufgehängt und dem Gespött der Wiener Bevölkerung zur Schau gestellt, doch fand er sich in den Folterkellern der Gestapo wieder, die ihn neben all der Demütigungen und Qualen so lange traktierten, bis er sein Vermögen den Nazis überschrieb. Die Nazis waren keine Mörder – sie waren Raubmörder.

Anschluss und „Endlösung“

Hitler holte am 15. März 1938 im Handstreich seine alte Heimat, wie er es vor hunderttausenden enthusiasmierten Wienern und vor der Weltgeschichte offiziell und großspurig verkündete, heim ins Reich. Es waren die „dröhnenden Akkorde eines nationalen Gebets“, wie Joseph Goebbels, der hinkende Propagandaminister, in seiner gewohnt blumigen Agitationssprache meinte, als er den Einzug des Österreichers Adolf Hitler in die österreichische Hauptstadt Wien für den groß-deutschen Rundfunk kommentierte: „So ist aus den unendlichen Qualen des deutschen Volkes in Österreich am Ende doch die Erlösung gekommen“. Und der „Erlösung“ sollte die „Endlösung“ auf dem Fuße folgen, zunächst verbal, doch bald schon final. Und alles ging sehr schnell: In den stürmischen Märztagen des Jahres 1938 überschlugen sich in Österreich die politischen Ereignisse.

Die Schreckensherrschaft begann, eine widerliche Mischung aus geplanten „Säuberungen“ der Deutschen und den spontanen lokalen Ausbrüchen grausamer Vergnügungen – Terror gegen Sozialdemokraten, vor allem aber gegen Juden. Tatsächlich zeigten sich die österreichischen Helfershelfer williger als ihre deutschen Nazivorbilder bei der Misshandlung von Hilflosen.

Was in Österreich im März 1938 geschah, war zum großen Teil ein Ausbruch des Pöbels, der sich an jüdischem Eigentum bereichern wollte. In diesem unerhörten Raubzug wurden tausende Wohnungen, Geschäfte, Betriebe und andere Unternehmungen, die Juden gehörten, „arisiert“. So geschah es auch in der Canovagasse 7, eine Etage mit zehn Zimmern im Stadtpalais des Freiherrn Eugéne de Rothschild, die beste Lage der Wiener Innenstadt, die Wohnung des Kommerzialrates Dr. Isidor Geller. Halb Wien traf sich hier. Es wurde parliert, debattiert, getrunken, philosophiert. In dieser Atmosphäre ergab sich auch schon mal das eine oder andere Geschäft. Man hofierte den großzügigen Gastgeber, man konsultierte ihn, man umwarb ihn, man wollte teilhaben am Luxus des Dr. Geller. Doch all dies zählte nichts mehr als die Nazis sich Wien und dann ganz Österreich bemächtigten.

Es kam in Wien, wo zu diesem Zeitpunkt etwa 175 000 Juden lebten, zu wüsteren antisemitischen Ausschreitungen, als es sie bis dahin in Nazideutschland selbst gegeben hatte. Die Zwischenfälle auf den Straßen österreichischer Städte und Dörfer unmittelbar nach der deutschen Invasion waren abscheulicher als alle, die man bis dahin in Hitlers Reich erlebt hatte. Österreich im März 1938, das war sozusagen eine Generalprobe für die deutschen Pogrome im kommenden November. Der Dramatiker Carl Zuckmayer, der in diesen Tagen zufällig in Wien war, beschreibt seine Eindrücke so: „Die Unterwelt hatte ihre Pforten aufgetan und ihre niedrigsten, scheußlichsten, unreinsten Geister losgelassen. Die Stadt verwandelte sich in ein Alptraumgemälde des Hieronymus Bosch. ... Die Luft war von einem unablässig gellenden, wüsten, hysterischen Gekreische erfüllt, aus Männer- und Weiberkehlen...“

Einen dieser Exzesse erlebte auch Isidors Neffe Walter Grab, der gerade an der Universität Wien sein Studium aufgenommen hatte. Auch wenn seine Schilderung, die er in seinen Erinnerungen (Walter Grab: Meine vier Leben. Gedächtniskünstler, Emigrant, Jakobinerforscher, Demokrat, Köln 1999) ebenso plastisch wie drastisch festgehalten hat, an unangenehmer Derbheit kaum zu überbieten ist, verdeutlicht sie doch den alltäglichen aus den Fugen geratenen Judenhass, der auf den Wiener Straßen des Jahres 1938 zum Ausdruck kam.

Warum Wien? Gerade Wien! Deswegen Wien, weil hier Adolf Eichmann das „Sonderkommando des SD-Referates II-112“ entwickelte. Gerade in der Donaumetropole, wie kaum irgendwo sonst, wurden die Verbrechen an Juden als gesellschaftliches Ereignis jubelnd vermeldet, dessen Erfolge in öffentlichen Raubzügen, Verächtlichmachung und Demütigungen, in Prügelorgien, in Pogromen, wie etwa im November 1938, mit Morden, Brandlegungen und Vergewaltigungen gefeiert wurden. Auch waren die Wiener Juden keineswegs Opfer einer von außen kommenden Politik: Jene Ausschreitungen und Raubzüge, die bisher in Deutschland (noch) unvorstellbar waren und nunmehr das ganz besondere Ambiente des nazistischen Wiens ausmachten, setzten nicht erst mit dem Einmarsch der Deutschen ein – es war bereits vorhanden.

 

Raubzug der Nazis

Der im vorauseilenden Gehorsam an den Tag gelegte Arbeitseifer, die Schnelligkeit und Pedanterie, mit denen im Wien des Jahres 1938 antijüdische Maßnahmen, Erlasse und Gesetze beschlossen und durchgeführt wurden, führt die sprichwörtliche Schlampigkeit oder Langsamkeit der Wiener Bürokratie geradezu ad absurdum. Das bekam Isidor Geller zu spüren, nachdem die Nazis ihn einer „Sonderbehandlung“ unterzogen.

Unmittelbar nach der „Heimholung“ ins „Großdeutsche Reich“ im März 1938 begann ein einzigartiger „legalisierter“ Raubzug der Nazis gegen die gesamte jüdische Bevölkerung, der anfangs ein solch anarchistisches Ausmaß annahm, dass selbst die Nazis in das Chaos eingreifen mussten. Unter einem erfundenen System der Pseudorechtmäßigkeit klangen moralisch schlechte Handlungen auf einmal gut: Allein in Wien wurden 70.000 Wohnungen, unzählige Betriebe und Geschäfte „arisiert“.

Isidor war nicht in der Lage, auch nicht willens, die Zeichen der Zeit zu erkennen – und hat sie wohl verdrängt. Mögliche Warnungen scheint er nicht ernst genommen zu haben, glaubte sich vielleicht geschützt durch diejenigen Autoritäten, die sich im sonntäglichen Glanz der Gellerschen Einladungen gesonnt hatten. Sein immer noch jugendlicher Neffe Walter, gleichwohl ausgestattet mit einem besseren Gespür für die politische Lage, fragte den Onkel, warum er Wien nicht längst verlassen habe. Das wollte sich der erwachsene Onkel nicht sagen lassen, und verwies den aufmüpfigen Neffen aus dem Haus. Doch wo waren all diese illustren Gäste, die ganz erpicht darauf gewesen waren, an Dr. Gellers Gesellschaften teilzunehmen, als man diesen am 13. März 1938 mit Peitschenhieben in ein Gestapo-Gefängnis trieb?

Das war der 13. März 1938 und Hitler war auf dem Weg nach Wien, wo er im Hotel „Imperial“ gegenüber der Canovagasse 7, mit seiner Entourage Quartier nahm. Am gleichen Nachmittag stand die Gestapo vor des Onkels Tür. Isidor wurde verhaftet und abgeführt. Isidors Chauffeur und die beiden Haus-Bediensteten hatten ihren stets großzügigen Ernährer den Nazis ans Messer geliefert.

Isidors Lebensgeschichte, die Shelly Kupferberg so eindrücklich nachzeichnet, ist die Geschichte eines von vielen Juden, die Geschichte eines unbedingten Anpassungswillens, eine Geschichte über das Vertuschen der eigenen Herkunft und des unbedingten Dazugehörenwollens, die Geschichte eines Juden, der nicht verstand, nicht verstehen konnte oder wollte, dass die antijüdischen Kräfte stärker waren als jedwedes Streben nach Assimilation und Akkulturation. Ihre Geschichte über den Urgroßonkel Isidor macht jüdische Biografiegeschichte noch einmal ganz konkret greifbar. An Isidors Schicksal ist klar nachvollziehbar, wie der Akt der Vernichtung sich anhand bürokratischer Prozesse manifestierte. All diese Überlegungen bündelt Shelly Kupferberg in der Frage: „Was bleibt von einem Menschen übrig, wenn nichts von ihm übrigbleibt?“ Im Haushalt ihrer Großeltern Alice und Walter Grab gab es einen üppigen Besteckkasten – Isidors in rotem Samt gebettete Silbergarnitur. Das ist das Einzige, was sich aus dem materiellen Besitz des reichen Onkels in der Familie erhalten hat.

Die Geschichte des „Isidor“ taugt als Lehrstück über den heutigen Umgang mit von den Nazis geraubtem jüdischen Eigentum, einem brachialen Raub, dem furchtbare Erniedrigung und menschliches Leid vorausgegangen waren. Shelly Kupferberg führt exemplarisch vor, wie deutsche und österreichische Vergangenheit nicht vergangen ist.

Am 1. Oktober 2022 hat Shelly Kupferberg ihren „Isidor“ in der Alten Brotfabrik von 1904 in Duisburg-Beeck vorgestellt. Einen besseren Ort für diese Buchpräsentation hätte es gar nicht geben können, war doch die Brotfabrik in der NS-Zeit ein Ort des Widerstands und sein heutiger Betreiber, der Künstler Cyrus Overbeck, hat hier einen kulturellen Kristallisationspunkt geschaffen, ein Ort, der einen ebenso demokratischen wie fortschrittlichen Geist atmet, sich der Geschichte stellt. Die Overbecksche Brotfabrik im Duisburger Norden war einst eine Widerstandszelle gegen die Nazis. Cyrus Overbecks Großvater und einige seiner Vertrauten backten Flugblätter gegen Hitler in Brotlaibe ein. Daran erinnerte Cyrus Overbeck in seiner Begrüßung, bei der er Shelly Kupferbergs „Isidor“ als „literarischen Stolperstein“ bezeichnete. Ein hochinteressiertes Publikum beklatschte dankbar die Autorin.

Shelly Kupferbergs „Isidor“ zeigt auf dem Umschlag ein Bild, das den Leser seines Motivs wegen sofort in seinen Bann zieht. Es zeigt eine Raumflucht, lind-grüngefärbte barocke Türen, in einem Haus Palais ähnlichen Zuschnitts. Aus einem Zimmer blickt ein Reh den Leser direkt an. Eine metaphorische Aussage, die sich am Schluss der Lektüre scheinbar auflöst. Was es damit auf sich hat, soll hier nicht verraten werden.

 

Shelly Kupferberg: Isidor. Ein jüdisches Leben, Diogenes Verlag, Zürich 2022, 253 S., 24 Euro.

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