Luthers Geschenk an die Antisemiten

Martin Luthers antijüdischen Aussprüche dienten den Nationalsozialisten als Agrumentationshilfe© WIKIPEDIA

Martin Luthers „Judenschriften“ werden von der Evangelischen Kirche verharmlost, ihre antisemitische Sprengkraft heruntergespielt. Luther sei kein Antisemit, denn er habe Juden aus rein theologischen Gründen abgelehnt, heißt es. Doch Luthers politische Empfehlungen an die Obrigkeit lesen sich fast wie die Protokolle der Wannseekonferenz: Die Zerstörung von Synagogen, Wohnhäusern und Schriften, die Konfiskation von Geld und Besitz, Arbeitszwang, Verbot jüdischer Gottesdienste und letztendlich die Vertreibung der Juden aus dem gesamten Land waren auch für Hitler und seine Nazis beispielgebend. Bis auf den industriellen Massenmord beinhalten sie nämlich all das, was Hitler vier Jahrhunderte später in die Tat umgesetzt hat. (JR)

Von Miriam Sofin

Für lange Zeit waren Martin Luthers späte "Judenschriften" für den Großteil der Bevölkerung der deutschen Nachkriegszeit relativ unbekannt, obgleich sich die evangelische Kirche bereits 1960 offiziell von ihnen distanzierte. Erst im letzten Jahrzehnt wurde der scharfe antijüdische Ton des Reformators auch öffentlich aufgearbeitet. Heinrich Bedford-Strohm, deutscher evangelischer Theologe, Landesbischof von Bayern und ehemaliger EKD-Ratsvorsitzender, äußerte wiederholt in Interviews, er schäme sich angesichts solcher Texte des maßgeblichen Begründers der evangelischen Kirche.

Die Frage, die es dringend zu beantworten gilt, lautet: War Martin Luther ein Antisemit? Und wenn ja, was bedeutet das für die Evangelische Kirche als öffentlich-rechtliche Institution, für die vielen Gotteshäuser, die seinen Namen tragen, für eine Stadt, die sich mit Stolz "Lutherstadt Wittenberg" nennt sowie für die unzähligen Straßen und Schulen, die nach ihm benannt sind? Martin Luther ist in Deutschland allgegenwärtig. Oder war er womöglich gar kein Antisemit, sondern "lediglich" ein rein theologisch motivierter Antijudaist? Und macht das überhaupt einen Unterschied?

 

Versuche der Verharmlosung

In der offiziellen Kirchengeschichtsschreibung sieht man es zumindest so. Es wird dort zwar eingeräumt, Luthers "Judenschriften" seien "schlimm", doch handele es sich dabei nicht um Antisemitismus, sondern "bloß" um theologisch begründeten Antijudaismus. Zumeist wird noch hinzugefügt, dass Luther in seiner Jugend durchaus judenfreundlich gewesen sei. Zu Zeiten seiner Hetzschriften gegen Juden sei er alt gewesen, habe unter diversen Krankheiten sowie Depressionen gelitten. Außerdem sei er nach langen Bemühungen, die Juden zum Christentum zu bekehren, schlicht und einfach enttäuscht gewesen.

Margot Käßmann, deutsche Bischöfin der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers, hält ebenfalls an dieser These fest. Luther sei in seiner letzten und dunkelsten Schaffensphase eindeutig Antijudaist, jedoch zu keinem Zeitpunkt seines Lebens Antisemit gewesen.

Nun fragt man sich dennoch, wie man sich im heutigen Deutschland - nach Hitler, dem Dritten Reich und dem Holocaust - zu einer Person bekennen kann, die neben allen unbestrittenen Verdiensten und Leistungen auch dazu aufrief, die Juden aus dem Land zu vertreiben und Synagogen anzuzünden. Martin Luther steht dadurch schließlich in einer langen und hässlichen Tradition judenfeindlicher Narrative, deren Wurzeln bis zu den Anfängen der Kirche zurückreichen. Seine Äußerungen waren klar von "Judenhass", "Ressentiments" und "Schmähungen gegen Juden" geprägt, so der offizielle Wortlaut der evangelischen Kirche. Der Begriff Antisemitismus wird jedoch stets sorgsam umgangen. Das liegt vor allem an der Auffassung, Antisemitismus liege nur dann vor, wenn er auf Hass gegenüber der "jüdischen Rasse" als biologistisches Konstrukt beruhe und diesen habe es erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegeben. Schon deshalb, so die evangelische Kirche, könne es sich bei Luther gar nicht um einen Antisemiten gehandelt haben, denn er habe Juden aus rein theologischen Gründen abgelehnt.

 

Wegbereiter der Endlösung

Der Göttinger Kirchenhistoriker und Experte der Reformationszeit, Thomas Kaufmann, kommt in seiner Studie "Luthers Juden" aus dem Jahr 2014 zu einem anderen Schluss. Er ist der Meinung, Luthers Judenhass habe auch Motive beinhaltet, die über den traditionellen christlichen Antijudaismus hinausgingen. Neben dem bei Luther hauptsächlich theologisch angelegten Antijudaismus meint Kaufmann bei ihm einen "vormodernen Antisemitismus" entdeckt zu haben. Besonders seine judenpolitischen Empfehlungen an Obrigkeiten und Pfarrherren des 16. Jahrhunderts stechen hier hervor, welche Luther als "Maßnahmen einer scharfen Barmherzigkeit" bezeichnete. Diese Empfehlungen beinhalteten unter anderem: Die Zerstörung von Synagogen, Wohnhäusern und Schriften, die Konfiskation von Geld und Besitz, Arbeitszwang, Verbot jüdischer Gottesdienste und letztendlich die Vertreibung der Juden aus dem gesamten Land.

Kaufmann nennt daher Luthers judenfeindliche Schriften die "literarische Endlösung der Judenfrage". Bis auf den industriellen Massenmord beinhalten sie nämlich all das, was Hitler vier Jahrhunderte später in die Tat umsetzen würde.

Heute ist wohlbekannt, dass sich ab 1933 unter evangelischen Theologen ein besonders boshafter Antisemitismus ausbreitete. Hatten sie diesen von Martin Luther? Der Pfarrer Siegfried Nobiling, der seit 1928 in der Gemeinde "Zum Guten Hirten" in Berlin-Friedenau tätig war, bekannte 1932 in einer Stellungnahme zum Nationalsozialismus: "Zusammenfassend kann ich nur aus ehrlichstem Herzen gestehen, dass der Nationalsozialismus für mich Schicksal und Erlebnis zugleich ist. Die Belange der Rasse gelten immer nur so weit, als sie dem Volksganzen nützlich sind. Wir sehen im Judentum die geistleibliche Vergiftung unserer Rasse." Bereits 1932 schloss sich Nobiling der Glaubensbewegung "Deutsche Christen" an, wo er auf zahlreiche gleichgesinnte Kollegen traf.

In der NS-Zeit kam es zu einem regelrechten Luther-Comeback. Der Reformator wurde als deutscher Nationalheld wiederentdeckt und als Urbild des "arischen Mannes" und Kämpfers gefeiert. Oftmals wurden sogar Parallelen von Luthers Leben zu Hitlers Biographie gezogen und dies wohlgemerkt von den Protestanten selbst und zwar mit Stolz.

 

Komplizenschaft der Kirche

In der Spandauer Lutherkirchengemeinde beschloss der Gemeindekirchenrat im September 1935 in Anbetracht der gerade frisch verabschiedeten "Nürnberger Gesetze" die tausendfache Verbreitung von "Luther und die Juden" sowie die Anschaffung von Aushängekästen für das Hetzblatt "Der Stürmer" im gesamten Land. Johannes Schleuning, Superintendent im Berliner Osten, schrieb im März 1937 in seinem Artikel "Judentum und Christentum", dass Martin Luther ein "christlicher Vorkämpfer gegen das Judentum" gewesen sei. Er bewarb darüber hinaus die jüngste Sonderausgabe des "Stürmers" zur "Judenfrage" und behauptete, Jesus sei ein "reinblütiger Arier" und "nordischer Held" gewesen. Was natürlich in Anbetracht der Tatsache, dass Jesus ein Jude war, äußerst verwunderlich ist. Auch wenn man Jesus durchaus als Reform-Juden betrachten kann, so hat er das jüdisch Sein nie abgelegt.

Im Kontrast zu den "Nürnberger Gesetzen", die in den Publikationen der "Deutschen Christen" ausdrückliche Zustimmung fanden, herrschte im gesamten protestantischen Umfeld nach den Pogromen von 1938 ein kollektives Schweigen vor. Vielen ging die offensive Gewalt gegenüber Mitgliedern der jüdischen Gemeinde dann doch zu weit. Explizite Zustimmung zu den Exzessen kam äußerst selten und wenn, dann nur hinter vorgehaltener Hand vor, obgleich es sie natürlich vereinzelt gab.

Schon vor dem Schicksalsjahr 1933 durften Luthers "Judenschriften" in den Augen unvoreingenommener Leser als problematisch gegolten haben. Nach dem Nationalsozialismus und der Schoah stehen sie jedoch in einem veränderten historischen Kontext, der dieselben Texte noch einmal in ein neues, noch dunkleres Licht rückt und Luthers verbale Entgleisungen gravierender erscheinen lassen. Man fragt sich unmittelbar, ob es Adolf Hitler ohne Martin Luther überhaupt gegeben hätte. Diese Frage lässt sich natürlich, wie so viele, heute nicht beantworten.

Trotz allem wurden erst in den letzten Jahren die Existenz und Brisanz der "Judenschriften" einer breiteren Öffentlichkeit bewusst. Das ist im Sinne der historischen Aufklärung und Aufarbeitung der Vergangenheit zu begrüßen. Für die evangelische Kirche macht dieser Umstand den Umgang mit ihrem umstrittenen Erbe jedoch nicht gerade einfacher. Auf Dauer wird die angestrengt euphemistische Beurteilung von Luthers Judenhass als "Antijudaismus" und "bedauerliche Schattenseite eines großen Theologen" vermutlich nicht ausreichen. Im Endeffekt ist es nämlich egal, ob Luthers Abneigung auf religiösen oder rassistischen Thesen beruhte. Hass ist Hass und Gewaltaufrufe sind Gewaltaufrufe. Hätte Adolf Hitler die Juden aus theologischen, anstatt aus rassistischen Gründen verfolgt, es hätte ihnen auch nichts genützt. So gewinnt man leider den Eindruck, die evangelische Kirche verstecke sich hinter einer Entschuldigung, die in Wahrheit keine ist.

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