Failed Berlin: Wochenlanges Warten auf den Totenschein

Jüdische Gräber am Jüdischen Friedhof Berlin-Weißensee
© WIKIPEDIA

Wer in Berlin einen Angehörigen bestatten will, stößt heute auf eine Mauer bürokratischen Irrsinns. Die Standesämter der Bezirke sind unterbesetzt und arbeiten sehr langsam. So kann die Ausstellung eines Totenscheins nicht selten mehrere Wochen dauern. Ohne Totenschein kann kein Begräbnis durchgeführt und nicht einmal die Wohnung des Verstorbenen gekündigt werden. Gerade für Juden ist dieser Zustand untragbar, da die Halacha eine sehr schnelle Bestattung zwingend vorschreibt und die heutige immer mehr Raum greifende Verzögerungspraxis der Behörden bei den Bestattungen einen klaren Verstoß gegen das grundgesetzliche Recht auf freie Ausübung der Religion darstellt. (JR)

Von Julian M. Plutz

Wenn ein Mensch für immer diese Welt verlässt, ergeben sich zwangsläufig Fragen und Probleme. Sollen wir seinen Platz am Esstisch weiterhin decken? Kümmern wir uns dann noch um ihn und seine Seele? Was tun wir mit den Kleidungsstücken, seine ausgeleierten Schuhe, die er trotz mehrerer Aufforderungen nicht entsorgen wollte. Was geschieht mit seinem Zimmer? Jeder Brief, der das Haus erreicht, vielleicht auch nur eine nett gemeinte, „unaufmerksame“ Aufmerksamkeit zum Geburtstag, holt den ganzen Schmerz zurück. Zumindest für den einen Moment.

In Zeiten der Hoffnungslosigkeit voller Fragen um das “Warum?” ist der Trost, wie auch der Glaube und das Ritual bedeutsam. Rituale mögen den Weg zu G’tt zu finden helfen. Doch sie sind zu mehr in der Lage. „Ich war nicht religiös, doch ich mochte die Rituale. Es tat gut, eine Erinnerung mit einer Handlung zu verbinden”, schrieb der Schriftsteller John Green. Wie Recht der Autor von „Das Schicksal ist ein mieser Verräter” doch hat, bemerkt man erst, wenn man in der Lage des Abschiednehmens ist. Rituale helfen in schwierigen Zeiten, in denen jede Bewegung für Geist und Körper eine Zumutung erscheint. Umso unverständlicher und schmerzvoller, wenn Rituale, die älter sind, als wir alle, von Staates wegen verhindert werden.

 

Finanzielle Belastung aufgrund politischer Verfehlungen

Das passiert jeden Tag in Berlin. Im Durchschnitt müssen Hinterbliebene in Marzahn-Hellersdorf mehr als vier Wochen warten, bis das hiesige Standesamt die Genehmigung für die Bestattung ausstellt. Dieses Dokument ist in Deutschland elementar, um eine Beisetzung zu vollziehen. Doch damit nicht genug: Auch die Wartezeiten, bis die Sterbeurkunde den Weg zur Familie findet, ist lang. Neben den psychischen Schmerzen, die das Warten evoziert, kommen noch finanzielle Probleme hinzu.

Ist der Ehegatte oder die Ehefrau verstorben, so kann der Partner so lange keinen Antrag für die Übergangsrente stellen, bis die Sterbeurkunde ausgestellt ist. Die Übergangsrente wird auf Basis des Arbeitsentgelts des Arbeitnehmers während der letzten 12 Monaten berechnet und beträgt 85% der Vollrente. „Und dann dauert es noch einmal sechs Wochen, bis die Rente berechnet wird”, sagt Hendrik Ruda, Leiter eines Bestattungsunternehmens in Hellersdorf gegenüber der Berliner Morgenpost.

Das bedeutet: Im Ernstfall müssen Hinterbliebene zwölf Wochen lang ohne Geld auskommen. Doch nicht nur das: Ohne Sterbeurkunde gibt es keine Kündigung von Mietverhältnissen oder Vereinsmitgliedschaften, keine Auflösungen von Versicherungen, keine Schließung, oder Zusammenlegung von Konten und der Dinge mehr.

Die Wartezeit ist nichts weiter als ein Affront

„Die Erdbestattungen sind kompliziert im Moment“, sagt Hendrik Ruda weiter. Laut gesetzlicher Vorgabe muss der Sarg innerhalb von zehn Tagen beigesetzt werden. „Das ging in Berlin noch nie – auch nicht in Zeiten vor Corona, weil die da einfach zu langsam für sind.“ Aber man habe es wenigstens innerhalb von 14 Tagen geschafft. Inzwischen bedeutet die lange Wartezeit von vier bis sechs Wochen für Angehörige, die eine Erdbestattung wünschen, weitere finanzielle Belastungen: Verstorbene müssen bei dem jeweiligen Bestattungsunternehmen nicht nur aufbewahrt, sondern auch gekühlt werden. Aufkommen für diese Kühlungskosten müssen die Hinterblieben.

Und das ist nicht wenig: Zwischen 30 Euro und 80 Euro müssen die Familien pro Tag bezahlen, damit der Leichnam ihres Liebsten gelagert wird. Im Zuge der höheren Kosten für Energie sind die Preise bereits gestiegen und dürften auch in Zukunft auf einem hohen Niveau bleiben.

Für Juden bedeutet eine Wartezeit von mehreren Wochen nichts weiter als ein Affront gegenüber den halachischen Gesetzen. Laut denen ist nicht nur eine Feuerbestattung untersagt, darüber hinaus muss eine Bestattung so schnell wie möglich erfolgen. Deutsche, wie auch österreichische Gesetze, ermöglichen eine Beisetzung allerdings frühestens nach 48 Stunden. Alles, was darüber hinausgeht, verletzt die religiösen Befindlichkeiten von Juden, übrigens auch von Muslimen. Würde ein Angehöriger in einem Krematorium verbrannt, gilt das als Entledigung und als Verfehlung der letzten Ehre. Die Seele eines Verstorbenen kann erst aufsteigen, wenn dieser in ewiger Ruhe gebracht wird, sprich nach halachischer Gesetzmäßigkeit bestattet wird.

 

Die Politik redet sich heraus

Und was macht die Politik? Aus Sicht der Senatsverwaltung für Inneres, Digitalisierung und Sport, ist eine Beschleunigung zum gegenwärtigen Zeitpunkt kaum möglich, wenn man Pressesprecherin Sabine Beikler richtig versteht: „Die Personalsituation ist aktuell auch in den anderen Behörden angespannt.“ Die Verzögerungen in der Bearbeitung entstünden aufgrund der aktuellen Personalsituation: „Die Anwesenheitsquote liegt im Juni im Standesamt Marzahn-Hellersdorf aufgrund von Urlaub und krankheitsbedingter Abwesenheit bei 47 Prozent.“ Bei der Ausstellung von Bestattungsgenehmigungen weist das Standesamt Rückstände in Höhe von 130 Vorgängen auf. Rücksicht auf jüdisches Leben? Fehlanzeige.

Für den bezirkspolitischen CDU-Sprecher Stephan Schmidt sei dieser Zustand „schwer zu ertragen“. Er bezeichnet ihn als „symptomatisch“ für die Personalsituation in allen Bezirken und in den Hauptverwaltungen Berlins. „Ich kann jetzt die genauen Hintergründe für den derzeitigen Engpass in Marzahn-Hellersdorf nicht beurteilen, Fakt ist aber: Bei der Personalgewinnung und Nachwuchsförderung in der Hauptstadt liegt Vieles im Argen.“ so der Politiker gegenüber der Berliner Morgenpost. Der rot-grün-rote Senat bekomme seit jeher die bekannte Misere nicht in den Griff. „Das ist Politikversagen der schlimmsten Sorte“, so Schmidt. Die Bezirke seien beim Personalrecruiting oft das schwächste Glied in der Kette, weil sie kaum Möglichkeiten hätten, Bewerberinnen und Bewerbern Anreize zu bieten. „Da sind häufig Bundesbehörden oder das Land Brandenburg der attraktivere Arbeitgeber.“

Ins gleiche Horn bläst Roman Francesco-Rogat, Sprecher für Verwaltungsmodernisierung der FDP-Fraktion und Abgeordneter aus Marzahn-Hellersdorf: „Die Dysfunktionalität zieht sich wie ein roter Faden durch alle Verwaltungseinheiten in dieser Stadt.“ Dabei sei es egal, ob es um die Ausstellung von Geburtsurkunden im Bezirk Mitte ginge oder eben die langen Wartezeiten auf Sterbeurkunden in Marzahn-Hellersdorf – Berlin verspiele bei den Verwaltungsaufgaben das Vertrauen bei den Berlinerinnen und Berlinern.

„An allen Enden mangelt es an Personal, was aufgrund der anstehenden Pensionswelle der geburtenstarken Jahrgänge in den kommenden Jahren noch schlimmer wird. Gleichzeitig ist die Personalgewinnung viel zu langsam, starr und unkreativ.“ Zudem räche sich, dass Berlin seit Jahren die Digitalisierung der Verwaltung verschlafen habe: „Wenn deutlich mehr Prozesse digital angeboten werden, wäre der Einsatz von Personal wesentlich effizienter und nachhaltiger.“

 

Am Abschiednehmen gehindert

Für die Hinterbliebenen, die gerade ihren Liebsten verloren haben, helfen diese Schuldzuweisungen seitens der Politik nicht weiter. Im Schmerz aufgrund des Verlustes erwarten Angehörige zu Recht, dass sie in Ruhe und mit ihren Riten trauern können. In einer Stadt, die immer noch ein relativ florierendes jüdisches Leben vorzuweisen hat, was den einen, oder anderen Juden jenseits der Bundeshauptstadt angesichts der massiven antisemitischen Gefahr stutzig macht, muss eine Beisetzung in Frieden und in dem Rahmen, den die religiösen Gesetzmäßigkeiten vorgibt, möglich sein.

Passiert das nicht, werden Angehörige und Familien unnötig belastet. Denn der Verlust eines Bruders, Vaters, einer Mutter oder Schwester darf nicht von Staates wegen konterkariert werden. Während Bürokraten auf bürokratische Hürden verweisen, werden jeden Tag Juden am Abschiednehmen ihrer Verstorbenen gehindert.

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