„Die Weiße Rose“: Zwischen Hitlerjugend und pazifistischem Widerstand

Sophie Scholl © WIKIPEDIA

Die „Weiße Rose“ war die wohl bekannteste Widerstandsgruppe gegen das NS-Regime. Mit Flugblättern rief die Gruppe um die Geschwister Scholl zum Widerstand auf. Am 22. Februar 1943 wurden Sophie und Hans Scholl von den Nationalsozialisten durch die Guillotine hingerichtet. Die Geschichte der Weißen Rose ist eine Geschichte darüber, warum Freiheit alles ist – ohne Freiheit aber alles nichts ist. Es ist aber auch eine Geschichte der Ambivalenzen und nachträglicher Verklärung, gerade in der Einstellung dieser Studenten zur „Judenvernichtung“. (JR)

Von Simone Schermann

Was waren die Motive für die Taten der später Hingerichteten, die Gründe für das Entstehen einer inneren Opposition, um mit Flugblättern zum Widerstand aufzurufen? Denn nur dem Anschein nach liefen ihre Biografien auf heldenhaften Widerstand hinaus. Bei genauem Hinschauen ergibt sich ein kritischeres Bild, das keineswegs die tragische und mutige Seite schmälern will.

Den größten Schub für die Entstehung eines Heldenepos brachte das 1962 erschienene Buch von Inge Scholl. Davor nannte man den Widerstandskreis nicht „Die Weiße Rose“, man sprach vom „Scholl-Kreis“ oder vom „Scholl-Schmorell-Kreis“.

Die ersten vier Flugblätter trugen die Überschrift „Flugblätter der Weissen Rose“ und kamen im Sommer 1942 vollständig aus der Hand der zwei tragenden Säulen: Hans Scholl und Alexander Schmorell. Sophie Scholl war erst an den letzten beiden Flugblättern beteiligt, zusammen mit Willi Graf und Professor Kurt Huber, im Januar/Februar 1943.

Hans Scholl, der politische Kopf des Unternehmens, und Alexander Schmorell waren in beide Phasen involviert; mit Sophie Scholl, die Ideengeberin für die Umsetzung von Aktionen war, folgten weitere Protagonisten in den engeren Kreis, als Helfer und Berater.

 

Position zum Judentum

In den Darstellungen über den Widerstandskreis findet sich oft die These, eines ihrer Ziele sei der Kampf gegen die systematische Ermordung der Juden gewesen. Markantes Beispiel dafür ist die ständige Ausstellung in der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, in der die „Weiße Rose Stiftung e. V.“ den Studenten das Bild von Leichenbergen gegenübergestellt ist. Auf der Homepage der Stiftung befindet sich eine Rubrik über das Gedenken an den Holocaust. Welche Hinweise sprechen für derartige Parallelisierungen? War der Kampf gegen die Shoa tatsächlich ein Hauptanliegen?

Eine kritische Auseinandersetzung birgt immer die Gefahr in sich, ein gegenwartsbezogenes „Nach-Auschwitz-Denken“ auf die damalige Zeit zu übertragen und heutiges Wissen als Wertmaßstab zu nehmen. Dennoch darf diese Warnung nicht dazu führen, die Frage nach der Position der Gruppe zum Judentum auszuklammern, denn diese war sehr ambivalent.

Der Widerstand der Münchner Studenten war nicht vorgezeichnet, die prominenten Protagonisten waren ideologisch völlig auf Linie, enthusiastisch in Organisationen des NS-Staates tätig und manche hatten bis zu ihrem Tod kein widerspruchsfreies Verhältnis zur NS-Ideologie. Antijudaistische, also christlich-religiös begründete Einstellungen beherrschten ihre Denkweisen – Traditionslinien eines antijüdischen Konsenses, der in der deutschen Gesellschaft weit verbreitet war und auch vor ihrer Weltsicht nicht halt machte. Sie waren schlicht Kinder ihrer Zeit!

Was also bewegte die Widerstandsbewegung, wissentlich ihre jungen Leben aufs Spiel zu setzen? Im Kampf gegen den NS-Unrechtsstaat waren die Sehnsucht nach Freiheit und individueller Entfaltung des Menschen die zentralen Faktoren, die Sophie und Hans Scholl und die Protagonisten des Widerstandskreises zu Helden werden ließen.

Freiheit!

Die Geschwister Scholl wurden am 18. Februar 1943 beim Auslegen von Flugblättern in der Münchner Universität festgenommen, vor Gericht gestellt und verurteilt.

Der NS-Staat selbst dokumentierte die Hinrichtung Hans Scholls am 22. Februar 1943 mit eiskalter Pedanterie: Um 17.02 Uhr wurde der Verurteilte vorgeführt, der Leiter der Vollstreckung stellte die Personengleichheit fest und die Gehilfen führten ihn an die Fallschwertmaschine, auf welcher er unter das Fallbeil geschoben wurde.

„Der Verurteilte war ruhig und gefasst, seine letzten Worte waren: Es lebe die Freiheit“, so das Hinrichtungsprotokoll. „Von der Übergabe an den Scharfrichter bis zum Fall des Beiles vergingen 7 Sekunden (…).“

Insgesamt wurden sechs Todesurteile vollstreckt: gegen die Studenten Hans und Sophie Scholl, Alexander Schmorell, Willi Graf, Christoph Probst und den Philosophieprofessor Kurt Huber, zudem ein knappes Dutzend Freiheitsstrafen. Das Protokoll der Hinrichtung Hans Scholls belegt einen gefühllosen Bürokratismus, bar jeglichen menschlichen Empfindens, im Umgang mit einem 24-Jährigen. Hans Scholls Entschlossenheit, als er dem Henker „Freiheit“ entgegenruft, seine Anklage und Forderung gegen den NS-Staat drohten mit seiner Ermordung für immer zu verhallen.

Dass der Begriff „Freiheit“ in Deutschland zur Floskel des Jahres 2022 gekürt und somit in Anführungszeichen gesetzt wurde, macht daher schier fassungslos, da er auch vor 80 Jahren mit Füßen getreten wurde. Wir erleben ein Déjà-vu, wenn Autoritäten – „heute“, „Tagesschau“ und Konsorten vermeldeten es – ein Jahr zuvor auch den Begriff „Eigenverantwortung“ zum „Unwort“ und damit implizit die „Freiheit“ diskreditieren und zum Störfaktor erklären. Doch ohne diese Form der Resilienz ist eine freiheitlich-demokratische Grundordnung schlicht am Ende; Grundrechte werden plötzlich wieder „verhandelbar“. Natürlich nur für bestimmte Personen, jene eben, die – von der Initiative „Floskelwolke“ als „Egomaninnen und Egomanen“ denunziert wurden – den Freiheitsbegriff angeblich „vereinnahmen“ und „entwürdigen“. Sophie Scholl ist keine 22 Jahre alt, als sie am 22. Februar 1943 als „Vaterlandsverräterin“ unter dem Fallbeil endet, weil sie Freiheit einforderte.

 

Weg in den Widerstand

Die Geschwister Scholl und ihre Weggefährten stammten aus bürgerlich-elitären Haushalten. Was veranlasste sie dazu, sich für Deutschland zu opfern? Viele Zeitgenossen mit ähnlicher Biografie fanden Möglichkeiten, sich mit dem Regime zu arrangieren und Karrieren im System anzustreben.

Der Weg der Studenten in den Widerstand ist daher weder zwangsläufig noch geradlinig. Anders als der Widerstand der sozialistischen Jugend ist jener der Weißen Rose keiner von Ausgegrenzten oder unmittelbar Bedrohten.

Als die späteren Studenten 14 bis 15 Jahre alt waren, begann das Dritte Reich, das große Anstrengungen unternahm, junge Menschen für sich einzunehmen. Der Staat erklärte die Jugend zur „Staatsjugend“, sozusagen zu Eigentum des Staates, dessen Propaganda auf die Jugendlichen große Faszination ausübte. Sophie Scholl kommt am 9. Mai 1921 in Forchtenberg in Schwaben zur Welt. Sie liebt Dinge, die Mädchen eben gern tun, spielt Klavier, zeichnet und schwimmt, liebt Musik, die Natur und Tanzabende, bei denen auch mal geraucht und getrunken wird.

Gerade 21 Jahre jung, beginnt eine aufregende Zeit in ihrem Leben. Sie will in München Biologie und Philosophie studieren.

Mit ihren fünf Geschwistern wird sie mit der Nazi-Ideologie und dem unvermeidlichen militärischen Drill von Kinder- und Jugendorganisationen groß. Gerade Mädchen genießen im Bund Deutscher Mädel (BDM) neue Freiheiten und für die naturverbundene Sophie sind Zeltferienlager reine Abenteuer.

Die Scholl-Kinder blicken in freudiger Erwartung auf die Regierung Hitlers, arbeiten am Aufbau des NS-Staates mit und sahen ihre Aufgabe in der NS-Jugendbewegung. Hier gibt es keine Stände mehr, das „Deutschsein“ übt starke Anziehung aus und die Verführung ist groß. Im März 1933 tritt Hans Scholl der Hitlerjugend bei und steigt schnell die Karriereleiter im Jungvolk nach oben; nach Jungzugführer wird er 1935 Fähnleinführer, verantwortlich für 160 Jungen.

Sophie Scholls Karriere ist innerhalb des BDM vergleichbar mit der ihres Bruders im Jungvolk. 1934 tritt sie mit 13 Jahren der Jungmädelschaft bei, wird ein Jahr später Jungmädelschaftsführerin, 1937 Gruppenführerin von 160 Mädchen.

Als BDM-Führerin ist sie mehr als nur enthusiastisch. Zeitzeugen berichten über ihren strengen Führungsstil. Almut Grote erzählt, Sophie Scholl sei „radikal und rigoros fanatisch (…) im BDM“ gewesen, „wie sie es vielleicht später im Widerstand war.“

Zu ersten Brüchen mit dem System führt der Konformismus innerhalb der NS-Gliederungen, da sich der NS-Staat als willkürlich und ungerecht handelnder Unrechtsstaat ihnen gegenüber entpuppt. Wie ihr Bruder den Militärdienst verabscheut, sieht sie den Reichsarbeitsdienst als „Zwangsjacke“, ihre Dienstpflicht als Zwangsdienst. Glaube und Naturliebe werden zum Gegenentwurf zur NS-Herrenideologie.

Für Hans Scholl werden die Jahre als Student und als Soldat zur Zeit der Sinnsuche und des Erwachsenwerdens. Er grenzt sich von der „Masse“ zusehends ab, die ihm „immer verhasster“ wird; sukzessive werden für ihn die Begriffe Freiheit und das Individuum wichtig. Seine Kriegserfahrung hinterfragt er im Brief an die Eltern: „Bin ich ein Dieb oder ein anständiger Mensch?“, da „ein guter Mensch zu sein und gleichzeitig in den besetzten Häusern von Zivilisten zu wohnen“ für ihn nicht zusammengeht. Er übt keine generelle Kritik an der NS-Politik, dafür am Militärdienst, der ihn einengt; eine geistlose Gehorsamsübung, die ihm die persönliche Entfaltung raubt. Die Freiheitseinschränkung, der subalterne Gehorsam, der jegliche geistige Entwicklung abtötet, „wo uns doch die Welt offenstehen müsste“, bewirken eine Radikalisierung. Die Geistlosigkeit des Gehorsams versus persönliche Freiheit und Krieg versus Freiheit.

Die entscheidende Zäsur brachte die Hinwendung zum Christentum, das für den (politisch-)philosophisch Suchenden zum einzig wahren Weg des Widerstands wird.

 

Widerwillen gegen Konformismus

Alexander Schmorell besucht eine Privatschule, studiert und tritt im Gegensatz zu den Scholls bereits vor der Machtergreifung Hitlers der HJ bei.

Er entwickelt zwar einen Widerwillen gegen Gehorsam und Konformismus, jedoch ist bei ihm wie auch bei den Scholls neben der Freiheitsliebe ein elitäres Denken ausschlaggebend.

Das Gemeinwesen teilt er in Gruppen: „Sie sind froh und glücklich, wenn sie nach fremden Regeln leben dürfen, auf fremde Befehle gehorchen dürfen, um selber nicht denken zu brauchen, der Masse nachzugehen, folgen ihrem Herdentrieb, um nicht zu irren.“ Dem „Herdentrieb“ der „Masse“, die er für nicht reflexionsfähig hält, stellt er die „Auserwählten“ gegenüber, die zur „Freiheit“ und „eigenem Willen fähigen“.

Büste von Sophie Scholl in der Walhalla in Donaustauf (seit 2003)

Die enge Verbindung zwischen Schmorell und Scholl entstand durch die gemeinsame Vorbereitung auf das Physikum im Herbst 1941. Eine durchaus privilegierte Gruppe, die sich über Kontakte in Hörsälen, Konzerten und Leseabenden verbündet. Von zentraler Bedeutung war der Umgang Scholls mit älteren Intellektuellen, die seine Widerstandstätigkeit maßgeblich beeinflussen sollten. Die Nazigegnerschaft dieses Mentoren-Kreises rührte aus ihrem Zugang zum christlichen Glauben her. Zu ihnen gehörten Carl Muth, Herausgeber einer katholischen Zeitschrift, der Schriftsteller Theodor Haecker, der entlassene Justizbeamte Josef Furtmeier und der Soziologieprofessor Alfred von Martin. Das regimekritische Denken jener geistigen Autoritäten löste in Scholl den christlich motivierten Widerstand gegen den Staat als Selbstzweck und gegen „sinnloses Blutvergießen“ des Krieges aus, wie Sophie Scholl in den Verhörprotokollen der Gestapo aussagte.

Die Flugblatt-Aktionen verfolgten neben der Forderung nach einem rein passiven Widerstand im Kern zwei Argumentationslinien Scholls: eine christlich-theologische und eine weltliche. Die Überhöhung des Staates war ihm zuwider und er sah Hitler als den Boten des Antichristen.

Seine Sichtweise basierte auf einem staatsphilosophischen und staatspolitischen Verständnis und war aus der christlichen Perspektive heraus gegen eine Staatsomnipotenz gerichtet. Der Allmacht des Staates und seiner politischen Überheblichkeit wird die Forderung nach Freiheitsrechten des Individuums entgegengesetzt.

Scholl spricht vom „in seinem tiefsten Wesen korrumpierten und zerfallenen“ deutschen Volk, dass „das Höchste, das ein Mensch besitzt (…), nämlich den freien Willen“ und die „Freiheit des Menschen“ preisgebe. „Wenn die Deutschen so jeder Individualität bar, schon so sehr zur geistlosen und feigen Masse geworden sind“, verdienten sie den Untergang.

Das vierte Flugblatt handelt vom „Kampf wider den Dämon oder den Boten des Antichrists“. Diesen Gedanken finden wir bei seinem Mentor Muth, für den der Nationalsozialismus nur ein „Konkurrenzunternehmen“ zum Christentum und den christlichen Werten war.

Der „Schmorell-Kreis“ sah die verhasste „Masse“ vom geistlosen Nationalsozialismus verführt und zum Mob geworden. Adressatenkreis der Flugblätter war zunächst die in der Verbannung geglaubte Elite, die vermeintlich im Kampf gegen die (verführte) Masse stünde. Die Handlungsaufforderung war: „Sabotage auf allen wissenschaftlichen und geistigen Gebieten, sei es an Universitäten, Hochschulen, Laboratorien, Forschungsanstalten aller Art“ sowie in Schrifttum, allen Zeitungen, die im Solde der Regierung stehen“.

Scholls christliches Widerstandskonzept trieb sein Elitebewusstsein an. Ihm war nicht bewusst, dass die Eliten an die er sich richtete, die Verführten und Verführer zugleich und somit selbst Mob und Masse waren.

Am Abend des 22. Februar 1943, also kurz nach der Hinrichtung der Geschwister Scholl und Christoph Probsts, war der große Hörsaal der LMU gerammelt voll, der Andrang so groß, dass die Rede des Studentenführers nach draußen übertragen wurde. Die deutsche Studentenschaft wollte beweisen, dass es sich bei dem Widerstand um Einzelgänger und um Hochverräter handelte. Würde man sie heute Egomanen nennen?

In anderen Universitäten wie Tübingen riefen Professoren zur Führertreue auf und die Studenten hoben den rechten Arm zum „Sieg Heil!“. Scholls Elite reagierte nicht so, wie er es sich vorstellte – die von ihm Verklärten versagten auf ganzer Linie und waren selbst zum Ungeist geworden.

 

Judenverfolgung kein zentrales Thema

Bis Ende Oktober 1942 waren die Münchner Studenten für drei Monate nach Russland abkommandiert; eine Zeit, in der sie offenbar nicht Zeugen des Vernichtungskrieges wurden. Gesichert ist, dass der Russlandaufenthalt ihren Widerstand trotzdem radikalisierte. Zurück in München, hofften sie auf das revolutionäre Potenzial der Studentenschaft. Neben dem Appell an diese richtete sich der Kreis in seinen Flugblättern nun an das gesamte Volk: „Aufruf an alle Deutsche!“

Weder in den Flugblättern, Briefen und Aufzeichnungen der Beteiligten noch in den Unterlagen der Gestapo, die tatsächlich auch politische Bekenntnisse enthalten, ist die Verfolgung und Ermordung der Juden ein Thema.

Lediglich im zweiten Flugblatt äußert Schmorell: „Nicht über die Judenfrage wollen wir in diesem Blatte schreiben, keine Verteidigungsrede verfassen“, und erwähnt „die Tatsache, dass seit der Eroberung Polens dreihunderttausend Juden in diesem Land bestialisch ermordet worden sind“. Mit keinem Wort erwähnt Scholl die Deportation der Münchner Juden vom November 1941 oder die alltägliche Diskriminierung, wodurch sich der Eindruck manifestiert, dass der staatlich legitimierte Antisemitismus kritiklos hingenommen wurde. Einerseits dominiert das Schweigen zum Judenmord, andererseits befremdet Hans Scholl im fünften Flugblatt mit dem Element eines nahenden Gerichts für das deutsche Volk und stellt die Frage: „Deutsche! Wollt Ihr und Eure Kinder dasselbe Schicksal erleiden, dass den Juden widerfahren ist? Wollt ihr mit dem gleichen Maße gemessen werden wie Eure Verführer? Sollen wir auf ewig das von aller Welt gehasste und ausgeschlossene Volk sein? Nein! Darum trennt Euch von dem nationalsozialistischen Untermenschentum.“

Auch in anderen Flugblättern finden sich Analogien zum traditionell-christlichen Antijudaismus wieder; sprachliche Bilder, die den Juden als Gottesmörder eine berechtigte Strafe auferlegen. An anderer Stelle weist Scholl auf die Zerstreuung als Strafe hin, nahm damit unmittelbaren Bezug auf die Juden als jene, die Jesus nicht als Gottessohn anerkannten.

Leitgedanke der Ausführungen Scholls im Flugblatt fünf ist das potenzielle Ausgestoßensein der Deutschen vor aller Welt, eine drohende Kollektivschuld, die über Generationen hinausreichen könnte. Wenn sich die Deutschen nicht jetzt gegen den NS-Staat wehrten, so Scholl, drohe ihnen die „gerechte Strafe“, ähnlich wie sie den Juden widerfahren sei.

Was aber verband die Juden mit den Nationalsozialisten aus der Sicht Scholls? Die Antwort liegt auf der Hand: die antichristliche Entscheidung.

Das scheint der Grund zu sein, warum Scholl zwar die Expansionspolitik und den nicht mehr zu gewinnenden Krieg ansprach, nicht aber die strukturelle Verfolgung der Juden und den Genozid, was vor dem Hintergrund der zweitausendjährigen Verfolgungsgeschichte der Juden und den von Schmorell erwähnten Massenerschießungen von 300.000 Juden mehr als befremdlich anmutet.

Es blieb die einzige konkrete Kritik am NS-Judenmord, obwohl Sophie Scholl die systematische Ermordung der russischen Juden seit dem Sommer 1942 aus einem Front-Brief ihres Freundes Fritz Hartnagel bekannt war.

Belege für die These, die Judenverfolgung oder die Shoa seien maßgebliches Handlungsmotiv für den Scholl-Schmorell-Kreis gewesen, finden sich nicht. Sie ist ein Mythos. Antijudaistisches Denken basierte auf einem zeitgenössischen Konsens, entstanden aus der christlichen Theologie, mit dem zentralen Gottesmordvorwurf. Das finden wir in der Gedankenwelt der Münchner Studenten auch wieder, da sie Kinder ihrer Zeit waren.

Der Schmorell-Kreis war nicht repräsentativ, gerade weil oft einfache Menschen den Juden halfen, sie versteckten oder ihnen Essen gaben. Menschlichkeit ist eben keine Tugend der Eliten, wie das nicht aufgehende Elitekonzept Hans Scholls unter Beweis stellte. Elite contra Masse – Geist versus Ungeist hatten versagt.

Dennoch bleibt der Mut, für ihre Freiheit zu kämpfen, beispiellos.

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