Martin Buber: Das dialogische Prinzip

Martin Buber in der Hebräischen Universität Jerusalem© WIKIPEDIA

Der jüdische Religionsphilosoph und Zionist Martin Buber war der Vater des „Dialogischen Prinzips“ in der Pädagogik und der Psychologie. Er verwehrte sich gegen die Etablierung einer „gesichtslosen“ Menge, die am Judenmord der Nationalsozialisten beteiligt war. Buber war davon überzeugt, dass man dem einzelnen Menschen vergeben könne, doch nicht dem Kollektiv. (JR)

Von Theodor Joseph

Mit seiner Selbsteinschätzung, er habe keine Lehre, er führe nur ein Gespräch, hat Martin Buber den zentralen Punkt seiner Universalität benannt – das dialogische Prinzip, das er selbst auf die griffige Formel brachte: Der Mensch wird am Du zum Ich. Welch ein humaner Gedanke! Bubers Denken kulminiert in seinem personal-dialogischen Daseinsverständnis – in der Zwiesprache des Menschen mit Gott. Dennoch: Leben und Werk dieses großen Gelehrten, auf ein „Prinzip“ zu reduzieren, hieße, ihm nicht gerecht zu werden.

 

Bubers Werke - (religions-)philosophische, zionistische, pädagogische Schriften, Reden und Briefwechsel – liegen nahezu vollständig gedruckt vor: Von 1906 an erschienen seine chassidischen Schriften, in denen er die literarischen Zeugnisse der ostjüdischen Lebens- und Frömmigkeitsform zuerst erzählend, später deutend für die Nachwelt aufbereitete.

Die in vielen Universitätsbibliotheken noch zugängliche von ihm mitbegründete und von ihm bis 1924 geleitete Zeitschrift „Der Jude“ ist immer noch eine unverzichtbare, sprudelnde Quelle jüdischen Denkens. Diese Monatsschrift war seit 1916 das Sprachrohr jüdischer Neubesinnung und Sammlung. Sein religions- und philosophiegeschichtliches Hauptwerk ist und bleibt „Ich und Du“, bereits 1923 erschienen, auf das nachfolgende Schriften fußen. Der Katalog seines in der Jüdischen National- und Universitätsbibliothek Jerusalem lagernden Gesamtarchivs ist auf Microfiche zugänglich.

 

Renaissance mit und um Buber

Schon zu seinen Lebzeiten erschienen die ersten Biographien: Hans Kohn war 1930 der erste bedeutende Buber-Biograph (Neuauflage 1961, 1979). Nach 1945 setzte in Deutschland geradezu eine Renaissance mit und um Buber ein, die Einfluss auf den Zeitgeist Nachkriegsdeutschlands genommen hat: Buber schien besonders geeignet, als Kronzeuge des (christlich-)deutsch-jüdischen Versöhnungsgesprächs herzuhalten. Folgerichtig wurden dem seit 1951 die Bundesrepublik besuchenden jüdischen Gast aus Jerusalem hohe deutsche Ehrungen zuteil - was ihn in Israel isolierte.

Schon während des Ersten Weltkriegs hatte Buber als Chronist und Deuter des Chassidismus bei der deutsch-jüdischen Jugend für eine diffuse Schwärmerei für das Ostjüdische gesorgt, die von einer Begeisterung für Palästina verdrängt wurde. Diese Begeisterung (zumeist junger) deutscher Juden, die auf der Suche nach dem verlorenen Judentum waren, hat Gershom Scholem in seinen Erinnerungen als „Bubertät“ glossiert. Hinsichtlich der weitverbreiteten Abneigung der autochthonen deutschen Juden gegenüber den Ostjuden kannte der Westjude Buber keine Kompromisse: Seinen Freund Jakob Wassermann, der sich abfällig über die Ostjuden geäußert hatte, zog er zur Rechenschaft – und dann entzog er ihm die Freundschaft.

Schließlich war es der im kalifornischen San Diego lehrende Buber-Schüler Maurice Friedman (1921-2012), der 1991 die Biographie „Encounter on the Narrow Ridge: A Life of Martin Buber“ herausbrachte, die auf seiner zwischen 1981 – 1983 veröffentlichten dreibändigen, „ultimativen“ Biographie „Martin Buber’s Life and Work“ basiert und die, 16 Jahre nach dem Erscheinen des dritten Bandes und acht Jahre nach der amerikanischen Originalausgabe in einer deutschen Ausgabe vorliegt. (Maurice Friedman, Begegnung auf dem schmalen Grat. Martin Buber – ein Leben, agenda Verlag Münster 1999).

 

Der politische Verfechter des Dialogs

Paul Mendes-Flohr, US-amerikanischer Forscher über die Entwicklung jüdischen Denkens, Mitherausgeber der Martin Buber Werkausgabe, Autor des Buches „Jüdische Identität“. Die zwei Seelen der deutschen Juden (2004), ist Bubers aktueller Biograph. Für Mendes-Flohr ist Buber eine der prägenden Gestalten der deutsch-jüdischen Geschichte, Buber, der Philosoph und politische Verfechter des Dialogs.

Was hat uns Buber heute noch zu sagen? Buber, 1878 in Wien geboren, in Lemberg (Lwiw), heute Ukraine, aufgewachsen, in Deutschland gelebt und dort lehrend, sammelte früh Zeugnisse des chassidischen Lebens. Im Jahre 1938 emigrierte Buber nach Jerusalem und lehrte an der dortigen Hebräischen Universität. Vierzig Jahre lebte Buber in Deutschland, war ein deutscher Schriftsteller, – von seinem Freund Hermann Hesse für den Nobelpreis vorgeschlagen - der zwar in Palästina/Israel eine Anzahl wichtiger Bücher auf Hebräisch schrieb, seine wichtigsten jedoch in Deutsch verfasste. Seine philosophischen Werke schrieb er bis zu seinem Tod auf Deutsch. Seine letzte Arbeit vor seinem Tod im Juni 1965 galt der Revision der Buber-Rosenzweig-Übersetzung der hebräischen Bibel ins Deutsche.

Dass nach dem großen Judenmord Forschungen zum deutschen Judentum – wenn auch zunächst nicht auf deutschem Boden - wieder möglich wurden, auch das ist ein Verdienst Bubers. Zehn Jahre nach der Befreiung der Konzentrationslager wurde im Jahre 1955 von einem kleinen Kreis bedeutender deutscher Juden das Leo-Baeck-Institut gegründet, um das geschichtliche Erbe des deutschen Judentums zu bewahren – sinnigerweise in der Wohnung Bubers in Jerusalem. Hatte Buber nicht schon bis zu seiner Emigration im Rahmen seiner Lehrhaustätigkeit Akzente eines christlich-jüdischen Gesprächs gesetzt?

Theodor Heuss, erster Bundespräsident der Bundesrepublik, erinnerte 1949 in seiner berühmt gewordenen Rede anlässlich einer Feierstunde der Wiesbadener Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit - wo er das Wort von der „Kollektivscham“ einführte - an Buber als einen Juden, der immer noch „ein Stück Deutschland“ in sich trage. So hatten es sich die Deutschen nach 1945 immer gewünscht, die versöhnungsbereiten Juden, die das „im deutschen Namen“ Geschehene verziehen und nicht ständig das Wort von der „Kollektivschuld“ im Munde führten. Um so besser, wenn man mit diesen – nach Möglichkeit außerhalb der Bundesrepublik lebenden – bedeutenden Juden in ein Gespräch eintreten konnte.

 

Der „gesichtslose“ Judenmord

Der Vereinnahmung zum Zwecke der Versöhnung mit den Deutschen wollte dieser sich indes nicht bedenkenlos hingeben: Im Jahre 1960 beschied er die Mitglieder der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Darmstadt, die beabsichtigten, an seinem ehemaligem Wohnhaus in Heppenheim eine Erinnerungstafel anzubringen mit einem unmissverständlichen Hinweis in einer für ihn typischen klaren Sprache: „Es hieße, meine ich, der Wahrheit nicht gerecht werden, wenn an dem von mir und den meinen ... bewohnten Haus ... eine Tafel angebracht würde, die nur die Tatsache dieses Wohnens erinnerte, aber unerwähnt ließe, dass es Plünderung und Enteignung gewesen sind, die diesem Wohnzusammenhang ein Ende setzten“. So verwundert es auch nicht, dass Buber im Januar 1939 - 23 Jahre vor Gershom Scholems Verdikt - ein für allemal das Ende der „deutsch-jüdischen Symbiose“ festgestellt hat. Dieses Axiom galt ihm kollektiv – zu Einzelnen zu reden, das vermochte er sehr wohl.

Buber bekundet zwar sein ungemindertes Interesse für deutsche Menschen guten Willens, sich indes deutschen öffentlichen Institutionen zur Verfügung zu stellen, dazu reicht der Grad seiner Verbundenheit nicht mehr. Der Deutsche als Vielheit, als Menge, als öffentliches Wesen, war ihm durch den Judenmord „gesichtslos“ geworden, und reden wollte er nur noch zu „Menschengesichtern“, die mit ihren persönlichen Sinnen sein Wort aufzunehmen bereit waren.

In seiner Friedenspreis-Rede in der Frankfurter Paulskirche am 27. September 1953 ließ Buber keine Zweifel an der deutschen Verantwortung für den Holocaust aufkommen. In einer Sprache, die niemals zuvor – und lange nicht danach – so deutlich von einer so hohen Tribüne gebraucht wurde, sagte er: „Ich ... habe mit denen, die an jener Handlung in irgendeiner Funktion teilgenommen haben, die Dimension des menschlichen Daseins nur zum Scheine gemein; sie haben sich dem menschlichen Bereich so dimensional entrückt, so in eine meinem Vorstellungsvermögen unzugängliche Sphäre der monströsen Unmenschlichkeit versetzt, dass nicht einmal ein Hass, geschweige denn eine Hassüberwindung in mir hat aufkommen können. Und was bin ich, dass ich mich ermessen könnte, hier zu ‚vergeben‘?“ Dennoch zeigte er sich auch in Frankfurt überzeugt, dass ein Volk nicht als Ganzes verurteilt werden könne und erwähnte ehrfurchtsvoll jene, die sich den Mordbefehlen widersetzt hatten.

 

An die Zeit gerichtete Worte

Friedman verehrt Buber als eine über alle Kritik erhabene zeitlose Persönlichkeit, gegenwärtig, geistesgegenwärtig: In ihrer menschlichen Bedeutsamkeit transzendiert Bubers Gegenwart seinen weltweiten Einfluss und illuminiert seine Schriften. Im tiefsten Sinne, so Friedman, könnten alle Werke Bubers, sogar seine Übersetzungen, Interpretationen und Nacherzählungen, als an die Zeit gerichtete Worte verstanden werden.

Der Religionsphilosoph Martin Buber© WIKIPEDIA

Gewiss war Buber ein Friedensaktivist, aber ein Heiliger, der jedem Konflikt auswich, war er deswegen noch lange nicht: Mit seinem kulturellen Zionismus war er ein erbitterter Gegner Herzls, seine Ehe mit einer (zum Judentum übergetretenen) Nicht-Jüdin, sein Wirken für einen libertären Sozialismus Landauerschen Prägung, sein jahrzehntelanges Eintreten für einen bi-nationalen Staat Palästina und einen Friedensbund mit den Arabern, seine Annahme des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels (den er für die jüdisch-arabische Verständigung stiftete) – viele Jahre vor Martin Walser -, seine Weigerung, Partei im Kalten Krieg zu ergreifen, seine Befürwortung nuklearer Abrüstung, seine zahlreichen Konflikte mit David Ben-Gurion wegen seiner Rolle im „Brith Shalom“ („Friedensbund“), das alles taucht nicht zu einer Hagiographie.

Buber war immer eine Person voller Widersprüche und Mehrdeutigkeiten, gerade das macht ihn für die Gegenwart aktuell und bedeutsam. In diesem Sinne ist Bubers eigenes Wort vom „schmalen Grat“ die zentrale Metapher seines Lebens. Seinen Freunden gegenüber hat Buber dieses Wort häufig verwendet, um damit auszudrücken, dass er sich nicht auf den weiten Höhen eines Systems ausruhen wollte, sondern auf einem felsigen schmalen Grat zwischen Abklüften bewegte, wo es keine Sicherheit ausdrückbaren Wissens gibt, sondern nur die „Gewissheit des Zusammenstoßes mit dem Ungesicherten“. Für Friedman charakterisiert dieser Satz Qualität und Bedeutung von Bubers Leben und Denken als „schmalem Grat“. Dieses Wort bringt nicht nur die „heilige Unsicherheit“ seiner existenzialistischen Philosophie zum Ausdruck, sondern auch das „Ich-Du“ oder seine dialogische Philosophie, welche sein Biograph als eine echte dritte Alternative zu den vielen Entweder-Oder unserer Zeit betrachtet.

 

Schreiben als Pflicht

Das Schreiben fiel Buber nicht leicht, er hielt sich nicht für einen Literaten: „Schreiben ist nicht mein Beruf, sondern meine Pflicht – eine fürchterlich schwere dazu. Wenn ich schreibe, dann unter schrecklichem Druck“. Ein schwer nachvollziehbares Eingeständnis, wenn man Bubers sprachmächtige Texte liest, die, vor Jahrzehnten verfasst, auch in der Gegenwart alles andere als verstaubt zu lesen sind, im Gegenteil, seine Schriften sind grandios formuliert. (Vor allem dann, wenn man an seine Bibel-Übersetzung denkt.)

Paul Mendes-Flohr hat sage und schreibe über 50.000 erhaltene im Martin Buber Archiv der Nationalbibliothek Israels archivierte Briefe, die Buber mit Hunderten von Korrespondenten gewechselt hat, durchforstet und in seiner Biographie verarbeitet. Buber war bewusst, dass über ihn geschrieben wird und würde, und betonte, dass dann auf sein Denken Bezug genommen werde und dabei konstruktive Elemente in Betracht zu ziehen seien: „Meine Philosophie. … Ich habe keine Lehre. Ich zeige nur etwas. Ich zeige die Wirklichkeit. Ich zeige etwas an der Wirklichkeit, was nicht oder zu wenig gesehen worden ist. Ich nehme ihn, der mir zuhört, an der Hand und führe ihn zum Fenster. Ich stoße das Fenster auf und zeige hinaus, ich öffne das Fenster und zeige auf das, was draußen ist“. Dieser Mann wollte nicht schreiben können? Welch eine persönliche Fehleinschätzung!

Eigener Aussage nach wollte Buber die Welt beeinflussen, wollte aber nicht, dass diese sich „von ‚Mir‘“ beeinflusst fühlte. Er spürte in sich den Auftrag, den Menschen Wirklichkeiten zu zeigen und suchte das so getreu wie möglich zu tun.

 

Die Alternative der Dualität

Was gemeinhin als Alternativen betrachtet wird, ist bei Buber eine paradoxe Einheit: „Ich und Du, Liebe und Gerechtigkeit, Abhängigkeit und Freiheit, die Liebe Gottes und die Furcht vor Gott, ... Einheit und Dualität“.

Anlässlich ihres Besuchs bei dem hochbetagten Buber 1958 zeigte sich Hannah Arendt tief beeindruckt von dessen Offenheit gegenüber unterschiedlichen Anschauungen: „[Buber hat] eine wirkliche Neugier und Lernfähigkeit für die Welt, […] und er ist mit seinen beinahe 80 Jahren lebendiger und empfänglicher als alle diese dogmatischen Rechthaber und Besserwisser“. Dazu bemerkte Buber später einmal: „Altsein ist ein herrliches Ding, wenn man nicht verlernt hat, was anfangen heißt …“

Buber selbst, wie er einmal bekannte, bedauerte, ein „komplizierter und schwieriger Gegenstand“ zu sein. Paul Mendes-Flohr verschweigt Bubers Schwächen keinesfalls: Buber konnte narzisstisch und egozentrisch sein, ein Verhalten, das mit seinen eigenen Grundsätzen nicht übereinstimmte und seiner Dialogfähigkeit widersprach. Wie dem auch sei: Buber war eindeutig kein vollkommener Mensch – wohl aber vollkommen menschlich. Shmuel Yosef Agnon, hebräischer Romancier und erster (und einziger) hebräisch-schreibender Literatur-Nobelpreisträger, bemerkte dazu: „Es gibt Leute, bei denen du dich irgendwann entscheiden musst, ob du sie liebst oder hasst. Ich entschied mich, Buber zu lieben“.

 

Paul Mendes-Flohr: Martin Buber. Ein Leben im Dialog. Suhrkamp Verlag/Jüdischer Verlag, Berlin 2022, 414 S., 36 Euro.

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