9. November: Tag der Hoffnung, Abend der Freiheit, Nacht der Verzweiflung

Zerstörtes jüdisches Geschäft in Berlin, November 1938
© THOMAS KIENZLE / AFP

Kein anderes Datum hat die deutsche Geschichte derart nachhaltig geprägt, wie der 9. November. Ob Novemberrevolution, Reichspogromnacht oder Mauerfall, dieser Tag war für Millionen von Menschen in Deutschland ein Schicksalstag. (JR)

Von Julian Marius Plutz

„Der Kaiser und König hat sich entschlossen, dem Throne zu entsagen. Der Reichskanzler bleibt noch so lange im Amte, bis die mit der Abdankung des Kaisers, dem Thronverzicht des Kronprinzen des Deutschen Reiches und von Preußen und der Einsetzung der Regentschaft verbundenen Fragen geregelt sind.“ Das waren die Worte des Reichskanzlers Max von Baden, der von Wilhelm II. in das Amt geholt wurde und nun gehen musste. Später gründete er zusammen mit Kurt Hahn und Max Reinhardt die reformpädagogisch ausgerichtete Internatsschule Schloss Salem, die wenig später Prinz Philip, der Gemahl von Königin Elisabeth II. besuchen würde. Staatspolitisch spielte Max von Baden seither keine Rolle mehr.

Doch die Tage davor waren turbulent. Der Kieler Matrosenaufstand wenige Tage zuvor löste die Novemberrevolution aus. Die Unzufriedenheit des Volkes über das Kaiserreich schwappte auf die Straße. In Bayern stürzte Kurt Eisner die Dynastie der Wittelsbacher. Dadurch wurde der Bundesstaat zum Freistaat, also zur Republik; als erstes deutsches Territorium.

Eisner gehörte der SPD an, die sich zwei Jahre zuvor von der Mutterpartei abgespalten hatte. Zu wenig links, zu wenig radikal gaben sich die Herren um Friedrich Ebert. Die USPD wiederum bildete den Spartakusbund, eine extremistische Brigade, die auch nicht vor Gewalt zurückschreckte. Später sollte die SA, der bewaffnete Arm der NSDAP, die größte Konkurrenz sein.

 

Alle Kräfte sollten gegen die Juden gebündelt werden

Vierzig Jahre später begannen Bürger der DDR, ihren Staat abzuwickeln. Die Mauer, die mit Strom aus dem Kernkraftwerk Greifswald versorgt wurde, fiel am 9. November 1989. Die Öffnung der Mauer war die denklogische Folge der montäglichen Proteste, denen sich Woche für Woche immer mehr Menschen angeschlossen hatten. Der Druck auf die Bosse stieg. Der damalige erste regierende Bürgermeister von Berlin, Walter Mompers, wird später zu Protokoll geben, dass die Vorbereitung einer kontrollierten Öffnung bereits im Oktober begonnen hatte.

Das Ziel der SED war der Dezember. Dies wusste Mompers aus einem Gespräch mit dem Chef der Ost-Berliner SED, Günter Schabowski und Erhard Krack, seines Zeichens Oberbürgermeister im Ostteil der geteilten Stadt. Doch die Bürger der DDR hatten keine Zeit mehr. Sie wollten jetzt und sofort ihre Freiheit. Sie hatten die ewigen Versprechen der SED satt. Ihre Lügen, die sie in gedruckter Form in den Zeitungen, von “Neues Deutschland”, bis “Junge Welt” lesen mussten, ließen keinen Zweifel, dass es nur eine Parole geben kann: “Die Mauer muss weg!”.

In Würzburg, wie auch in vielen anderen Städten Deutschlands, waren 1938 die Planungen der Ausschreitungen Chefsache. Für Mainfranken war der NSDAP-Kreisleiter Xaver Knaup zuständig, ein Mann voller Tatendrang, die Reichspogromnacht am 9. November 1938 für seine Karriere ein unvergessenes Erlebnis zu machen. Also bestellte er alle Ortsgruppenleiter zum Befehlsempfang in den Wohnsitz des Gauleiters, der Villa Mandelbaum, die einst dem jüdischen Apothekers Max Mandelbaum gehörte. Alle Kräfte sollten gebündelt werden, um jüdische Geschäfte und Wohnungen zu zerstören.

 

Den Kommunismus in Deutschland verhindern

Zwar regte Knaup an, dass Gewalttaten und Plünderungen zu vermeiden seien. Doch seine halbgare Aussage hinderte die Horde nicht daran, genau das zu tun. Durch die nationalsozialistische Erziehung und Propaganda bekamen die teilweise noch jungen Täter die Judenfeindlichkeit mit der Muttermilch. Angehörige von SA und SS komplettierten die Novemberpogrome.

Besonders betroffen waren jüdische Geschäfte in der Semmelstraße, Domstraße, Eichhornstraße und Schönbornstraße. Die Nazis zerstörten u.a. die gesamte Einrichtung nebst Fenster der Hauptsynagoge in der Domerschulstraße. Die Synagoge in Heidingsfeld, ein Stadtteil von Würzburg, wurde komplett niedergebrannt.

Zurück zum 9. November 1918. Beim Mittagessen im Reichstag ging das Gerücht um, ein gewisser Karl Liebknecht wollte in Kürze die Räterepublik ausrufen. Wollte die Sozialdemokratie das Heft in der Hand behalten, musste sie jetzt agieren und die Linken mit ihren kommunistischen Ideen in die Schranken weisen. „Jetzt heißt es, sich an die Spitze der Bewegung zu stellen, sonst gibt es doch anarchistische Zustände im Reich“, rief Philipp Scheidemann, SPD.

 

Schabowski mit dem historischen Fehler

Scheidemann galt, im Gegensatz zu Friedrich Ebert, als herausragender Rhetoriker. Er konnte Massen bewegen und Menschen begeistern. Kurz nach 14 Uhr trat er, „zwischen Suppe und Nachspeise“, wie er später sagen wird, an das zweite Fenster des ersten Stockwerks nördlich des Hauptportals vom Reichstagsgebäude und rief nichts weiter als die Republik aus. Ebert indes kochte vor Wut und stellte seinen Genossen zur Rede. Doch Scheidemann sah sich im Recht, wollte er doch den Kommunisten zuvorkommen, während Friedrich Ebert die Entscheidung über Deutschlands künftige Staatsform der Nationalversammlung vorbehalten wollte.

Früh am Morgen zum 9. November 1989, noch bevor so manch einer seinen ersten Kaffee verdaut hatte, erhielt Oberst Gerhard Lauter, Hauptabteilungsleiter für Pass- und Meldewesen im Innenministerium der DDR, den Auftrag, ein neues Reisegesetz auszuarbeiten. Der Entwurf, der zusätzlich auch die Gestattung von Besuchsreisen beinhaltete, wurde noch am selben Tag an den Ministerrat weitergeleitet, vom Politbüro bestätigt und noch am selben Tag bis 18 Uhr gebilligt. Allerdings wurde erst am 10. November um 4 Uhr die Gesetzesänderung als Übergangsregelung über die staatliche Nachrichtenagentur ADN veröffentlicht.

In der Hektik passieren die meisten Fehler. So legte das Justizministerium der DDR am 9. November noch Widerspruch ein. Parallel dazu wurde die Ministerratsvorlage am Nachmittag des Tages im Zentralkomitee behandelt und abgeändert. Per Handschrift übergab der Vorsitzende Egon Krenz an das Politbüro-Mitglied Günter Schabowski die Gesetzesvorlage. Krenz Fehler: Über die beschlossene Sperrfrist bis 4 Uhr morgens informierte er Schabowski nicht, der bei den vergangenen Beratungen nicht anwesend war.

Der Rest ist Geschichte. „Ab wann tritt das in Kraft? Ab sofort?“ antwortete Schabowski dann um mit dem Verlesen des ihm von Krenz zuvor übergebenen Papiers: Auf die erneute Zwischenfrage des BILD-Zeitungsreporters Peter Brinkmann: „Wann tritt das in Kraft?“ antwortete Schabowski mit den Worten, die viele mit dem 9. November 1989 verbinden: „Das tritt nach meiner Kenntnis – ist das sofort, unverzüglich.“ Westdeutsche Medien verbreiteten unverzüglich, dass die Mauer offen sei, was zu dem Zeitpunkt noch nicht der Fall war. Doch das sollte sich rasch ändern.

 

Es gibt keine Hoffnung ohne Verzweiflung

Allein in Würzburg starben in der Reichspogromnacht vier Menschen. Der Weinhändler Ernst Lebermann, der im ersten Weltkrieg noch für Deutschland gekämpft hatte, wurde vor seinem Haus unter der Leitung des Ortsgruppenführers Martin Neff in der Scheffelstraße derart misshandelt, so dass er noch in der Nacht einen Schlaganfall erlitt und starb. Im direkten Zusammenhang der Tat stehen die Selbstmorde von Frau Friedmann, Frau Katzmann und Frau Rosenthal.

Die Reichspogromnacht, euphemistisch von den Nazis Reichskristallnacht genannt, gilt als Startschuss für die deutsche Judenverfolgung. Nicht nur in Würzburg und auch nicht nur in Großstädten, sondern überall im Land. Der 9. November 1938 legitimierte moralisch die Höllenlager von Auschwitz-Birkenau. Spätestens jetzt war der Geist uneinbringlich aus der Flasche. Man schätzt, dass bis zu 1500 Juden in dieser Nacht ihr Leben ließen.

Der 9. November ist wahrscheinlich der geschichtsträchtigste Tag in der deutschen Geschichte. In gerade einmal 100 Jahren ereigneten sich Hoffnungsvolles, wie der Ausruf der Republik und der Fall der Mauer. Andererseits legten die Nazis mit dem 9. November 1938 den Grundstein für die Shoah. Es gibt keine Versöhnung mit diesem Tag, so wie es eine Heilung der Ereignisse durch andere geschichtliche Vorfälle gibt. Es bleibt die richtigen Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen, was zugegebenermaßen und angesichts steten Judenhasses nicht leicht ist. Doch es gibt keine Hoffnung ohne Verzweiflung. In Gedenken an die Opfer vom 9. November 1938 soll die Hoffnung siegen.

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