Zum 205. Geburtstag von Rabbiner Yitzchak Elhanan Spektor: Brückenbauer der Gerechtigkeit
Yuitzchak Spektor © WIKIPEDIA
Rabbi Yitzchak Spektor wollte das Judentum vereinen und errichtete Brücken zwischen dem russisch-osteuropäischen und westeuropäischen Judentum. Er vereinte in sich die Rollen des geistigen Anführers und einer politischen Figur. Die Besiedlung des historischen jüdischen Palästina sah er für alle Juden als eine religiöse Pflicht an. (JR)
«Wer sich gerechte Ziele setzt, der bekommt Flügel». Diese Aussage passt ganz und gar zum Schicksal des Rabbiners Yitzchak Elhanan Bar Israel-Iser Spektor - einer der einflussreichsten und geachteten Rabbiner und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens des neunzehnten Jahrhunderts, der zu den geistigen Anführern seiner Generation wurde.
Er wurde im Oktober 1817 im Schtetl Roś in der Grodno Gubernia geboren. Sein Vater, Israel Issar war Rabbiner der Gemeinde des Schtettls und erster Lehrer des Jungen, der bereits als Kind Talent und Befähigung zeigte.
Ein Jahr nach der Bar Mitzwa heiratete Yitzchak Sara-Reyzl, die Tochter des Eliasar Weserski - eines reichen Rabbiners aus einer Nachbarstadt. Yitzchak zog in das Haus seines Schwiegervaters, der dafür sorgte, dass sein Schwiegersohn entsprechend gute Lehrer und Wegbegleiter fand.
Um nicht von seinem Schwiegervater finanziell abhängig zu sein, investierte Yitzchak das Geld, das er als Mitgift bekam in das Unternehmen eines örtlichen Kaufmannes. Als dieser einige Jahre später pleite ging, versuchte Sara-Reyzl ihren Mann zu überreden, dass er von diesem Unternehmer sein angelegtes Geld zurückverlangt, er aber hob nicht einmal den Kopf von seinen Büchern. Die Frau beschwerte sich bei ihrem Vater, bekam aber zur Antwort: «Lass ihn in Ruhe lernen - eine Stunde seines Studiums ist kostbarer als die ganze Mitgift».
Als Yitzchak Rabbiner des Schtetl Isabelin der Grodno Gubernia wurde, reichte sein bescheidenes Gehalt nicht einmal, um seine Familie mit dem Nötigsten zu versorgen. Einmal in der Woche schickte ihnen der Schwiegervater Brot und Fleisch, dann aber verschlechterte sich auch seine finanzielle Situation und die Zuwendungen blieben aus.
Das ständige Hungergefühl überwindend, verbrachte Spektor den ganzen Tag bei den Büchern. Aus dieser Not heraus begab er sich nach zwei Jahren nach Karlin, ein Städtchen nahe Pinsk, wo Rabbi Jaakow lebte, der für sein Buch «Mischkenot Jaakow» («Jakobs Zelte») bekannt war. Der Gast machte mit seiner Bildung und Können einen solch großen Eindruck auf den Rabbi, dass als 1839 im Schtettl Beresa in Polesje eine Stelle des Rabbiners frei wurde, er sofort den Yitzchak für diese Stelle empfahl.
Ein geschätzter Rabbi
Diese Besetzung gefiel nicht allen. Manche in der Gemeinde waren unzufrieden damit, dass ein junger, «bartloser» Rabbiner nun ihre Gemeinde leiten soll. Yitzchak jedoch begann seine Betätigung mit einem solchen Elan und Erfolg, dass die meisten Gemeindemitglieder in kurzer Zeit eine große Sympathie für ihn entwickelten. Einer, der so hilfsbereit war, konnte kein Fremder mehr sein. Als er 1846 einen Ruf als Rabbiner nach Neswisch bekam, protestierten die Beresiner heftig. Eine Legende besagt, dass er, den Ernst der Lage einsehend, aus Beresa floh. Die andere, dass eine «operative Gruppe» aus Neswisch geschickt wurde, um den Rabbiner zu fesseln und auf einer Kutsche zum neuen Arbeitsort zu bringen.
Zionistische Haltung
Im letzten Jahr der Anwesenheit Yitzchak Spektors in Nowadork wurde unter den Juden des Tscherta Osedlosti (ein Gebiet, auf das zwischen Ende des 18. und Anfang des 20. Jahrhunderts das Wohn- und Arbeitsrecht der jüdischen Bevölkerung beschränkt war - Anm. d. Übersetzers) das Buch «Drischat Zion» («Das Streben zum Zion») bekannt. In diesem Buch trat dessen Autor, Zwi-Girsch Kalischer, ein Rabbiner aus Preußen, mit dem Aufruf auf, das Land Israel zu besiedeln um dann, ohne auf die Fertigstellung des Dritten Tempels zu warten, die Opferbringung in Jerusalem wiederherzustellen. Spektor unterstützte diese Idee. Auf Talmudische Quellen hinweisend, legte er dar, dass die Wiederherstellung des Tempels in der Heiligen Stadt der Ankunft des Maschiachs vorangehen kann.
Die Position von Rabbi Yitzchak in dieser Frage war sehr wichtig, zieht man seinen Einfluss auf die Glaubensgemeinschaft in Betracht. Im weiteren Verlauf nahm er an der Tätigkeit der Bewegung «Chibat Zion» («Zionsliebe») teil, die dafür gegründet wurde, um das von Rabbiner Kalischer entwickelte Programm zur jüdischen Besiedelung des Eretz Israel zu verwirklichen.
Im Jahr 1864 wurde Rabbi Spektor zum Vorsitzenden des rabbinischen Gerichts in Kowno (heute Kaunas) ernannt. 32 Jahre lang führte er diese Gemeinde an, eine der größten in Litauen. Mit seiner Initiative wurde dort die Jeschiwa «Kolel Leawrechim» eröffnet, deren Zöglinge später Gemeinden und Jeschiwot in vielen verschiedenen Ländern der Welt leiteten.
Seine Schützlinge behandelte der Rabbi mit großer Liebe und Aufmerksamkeit. Als 1867 eine Hungersnot aufgrund der Dürre auftrat, gelang es ihm, eine Spendensammlung zu organisieren. Diese ermöglichte unter anderem die Versorgung der Bedürftigen mit kostenlosen Lebensmitteln und rettete hunderten Menschen das Leben.
Zweimal besuchte der Rabbiner Sankt-Petersburg, um die jüdischen Anliegen und Interessen in der Hauptstadt des Russischen Reiches zu verteidigen. Er war unter denjenigen, die versucht haben, das traditionelle jüdische Ausbildungssystem vor den Anfeindungen und Vernichtungsbestrebungen der Regierenden zu schützen. Zusammen mit dem Rabbi Israel Galanter organisierte Spektor eine spezielle Einrichtung zum Interessenschutz der jüdischen Gemeinden. An den Ufern der Newa traf er sich mit Großindustriellen und Bankern, unter anderem mit dem Baron Girsch Ginzburg und Samuil Polyakov, die sehr nützliche Beziehungen im Kreis der Beamten hatten. Von diesen Beamten hing in großem Maße die Tätigkeit der Bildungsstätten und Wohltätigkeitseinrichtungen in der jüdischen Siedlungsregion ab.
Realist mit Weitsicht
Bei einem seiner Besuche in Sankt-Petersburg wandten sich jüdische Bildungsaktivisten an ihn, die eine russische Übersetzung des Talmuds anstrebten. Sie waren der Überzeugung, dass dies dabei helfen würde, russischsprachige Leser davon zu überzeugen, dass der Talmud zu den Schätzen der Weltkultur gehört - damit erhofften Sie eine Änderung der Einstellung der Grundbevölkerung des Reiches zu den Juden und dem Judentum. Von Rabbi Yitzchak wurde erwartet, dass er die wohlhabenden Juden als Finanzierer für dieses Unternehmen gewinnen würde. Seine Reaktion jedoch war eine völlig unerwartete: «Ich kann nicht zu dem Erfolg einer Sache beisteuern, deren Nutzen für mich ganz und gar nicht ersichtlich ist», antwortete er. «Wenn ich wissen würde, dass wir bloß aufgrund des mangelnden Wissens über den Talmud und über unsere Traditionen gehasst werden, würde ich eine solche Veröffentlichung mit all meinen Kräften unterstützen, in der Hoffnung, die Menschen um uns herum würden endlich das Licht sehen, welches aus diesem Buch heraus strahlt. Aber ich kenne Antisemiten leider viel zu gut. Sie hassen uns einfach nur dafür, dass wir Juden sind und nicht etwa, weil es ihnen an Information über uns mangelt. Wenn wir den Talmud in die russische Sprache übersetzten, würden sie uns trotzdem angreifen, dies aber bereits bewaffnet mit den aus dem Kontext herausgerissenen Zitaten.»
Die Bildungsaktivisten hielten Spektor nun für einen rückständigen Konservativsten, dabei war er bloß ein Realist: es erschienen nach und nach die Übersetzungen des Talmuds - die Einstellung zu den Juden blieb aber die gleiche.
Im Jahr 1884 beendete Rabbi Yitzchak die Veröffentlichung seines Kommentars zu dem Abschnitt des Kodexes «Schulchan Aruch», der die Gesetze zum Rechtswesen und zu den Besitzfragen beinhaltete. Diese Arbeit, die den Titel «Nachalat Yitzchak» («Das Erbe des Yitzchak») trug, brachte dem Autoren den Ruhm eines der am meisten beachteten und respektierten Gesetzesgelehrten seiner Zeit. Auch heute wird dieses Buch immer noch studiert.
An Spektor wandten sich Glaubensbrüder aus allen Ecken der jüdischen Welt, die in den Streitfragen Hilfe suchten. Am meisten benötigten seine Hilfe jedoch die einfachen Gemeindemitglieder. Und er bemühte sich, jedem zu helfen und dies nicht nur mit Ratschlägen, sondern auch mit eigenem Einsatz. Selbst in einem hohen Alter, ungeachtet seiner vielbeachteten Position, ging er in die Häuser der reichen Glaubensbrüder, um die Mittel für wohltätige Zwecke zu sammeln. Rabbiner Spektor war überzeugt: um das russische Judentum in dem Flussbett der Traditionen zu halten war es keine Sünde, in einigen unwichtigen Fragen nachzugeben. Und als das höchste Prinzip galt für ihn der Satz aus dem Talmud: «Nach den Torah-Geboten sollst du leben und nicht sterben.»
Ein Brückenbauer
Rabbi Yitzchak strebte das Vereinen des Judentums und arbeitete an dem Errichten der Brücken zwischen dem russischen und westeuropäischen Judentum mit. Er vereinte in sich die Rollen des geistigen Anführers und einer politischen Figur. So nahm er zum Beispiel an den Tagungen der Vertreter des jüdischen öffentlichen Lebens in Bobrujsk und Minsk teil, die zum Ziel hatten, den repressiven Maßnahmen der Regierung gegen die jüdische Bevölkerung entgegenzuwirken. Im Jahr 1872 organisierte Spektor eine finanzielle Hilfeleistung für die unter Hungersnot leidenden persischen Juden; während des Deutsch-Französischen Krieges unterstützte er finanziell die jüdische Gemeinde in Straßburg. Als 1882 in Kowno ein großer Brand ausbrach, nahm Rabbi Yitzchak aktiv teil an der Spendensammlung für die Opfer des Brandes.
Im Lauf der vielen Jahrzehnte war dieser bescheidene Mann eine der bedeutendsten Persönlichkeiten des jüdischen Lebens, nicht nur im religiösen Bereich. 1889 wurde er zum Beispiel zum Ehrenmitglied der «Gesellschaft für die Bildungsverbreitung unter den Juden» gewählt. Kowno avancierte während seiner Zeit zu einem der geistigen Zentren der jüdischen Welt. Rabbiner Spektor wurde mit zahlreichen Titeln ausgezeichnet, dabei war seine offizielle Funktion als «Inspektor für Kaschrut» angegeben, weil die Regierung nur «amtliche» Rabbiner für die Gemeinden akzeptierte, die von dem Innenministerium bestimmt wurden.
Im Jahr seines Ablebens kam der bereits sehr schwache Rabbi Yitzchak vor dem Yom Kippur in die Gemeinde, um sich an die Gemeindemitglieder zu wenden. Es fiel ihm schwer zu sprechen und nach dem Gottesdienst trug man ihn auf Händen nach Hause. Aber die Worte, die er damals in der Synagoge sprach, um an die Einhaltung der Traditionen zu mahnen, wirkten auf die Anwesenden stärker als hunderte Predigten.
Der Rebbe starb im Alter von 79 Jahren. 1897 kam in Warschau das Buch «Biografie des Yitzchak» heraus, welches sein Sekretär Yaakov Lifschitz verfasste. Dieses Buch endet mit den Worten, die der Rabbiner auf seinem Sterbebett sprach: «Vielleicht war ich manchmal voreingenommen beim Leiten der Gerichtsverhandlungen, ich bin aber nur ein Mensch aus Fleisch und Blut. Dafür studierte ich selbstlos die Torah und unterstützte dabei andere Menschen».
Aus dem Russischen von David Serebryanik
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