Fast 85 Jahre nach NS-Pogrom: Ehemalige Görlitzer Synagoge wieder mit Davidstern gekrönt
Nach dem Novemberpogrom von 1938 bekommt die Görlitzer Synagoge wieder einen Davidstern © Pawel Sosnowski
Das ehemalige jüdische Gotteshaus, das nach seiner Entweihung durch die Nazis viel zu lange nicht seinem ursprünglichen Bestimmungszweck zugeführt worden ist und heute als säkulares Kulturforum betrieben wird, erhielt am 12. September wieder seinen Davidstern zurück. Dank Spenden konnte der letzte Bauabschnitt im Beisein von Dr. Nora Goldenbogen, der Vorsitzenden des Landesverbandes Sachsen der Jüdischen Gemeinden, abgeschlossen werden. (JR)
Am Montag, 12. September um 12 Uhr, wurde auf die Haube des Synagogengebäudes der östlichsten Stadt Deutschlands, Görlitz, ein Davidstern gesetzt. Diesen Platz erhielt er erstmals mit dem Bau der Görlitzer Synagoge in den Jahren 1909-1911. Dort hatte er seit dem Novemberpogrom 1938, genauer seit dem 10. November 1938, gefehlt.
Das Gebäude befindet sich in der Nähe der Innenstadt und liegt mit einigen anderen Gebäuden der Gründerzeit am Ende einer Stichstraße mit Wendekreis. Diese Straße setzt sich in gerader Linie als Fußweg fort, dessen Beginn zugleich der Anfang des lichten Stadtwalds ist. Seine weiten Rasenflächen werden üblicherweise von den Kinderkrippen der Umgebung zum Ausflug mit Spiel genutzt, so auch an diesem Montag.
Diese Einbindung in das tägliche Geschehen der Stadt Görlitz mag 1938 missfallen haben, denn im Zuge des Novemberpogroms wurde erst die Synagogeneinrichtung demoliert und in Brand gesteckt und am Folgetag der Stern zerstört. In der staatsnahen örtlichen Tageszeitung war der hämische Kommentar zu lesen, „dass nun endlich der Davidstern verschwunden ist, der bisher als Fremdling das Stadtbild unserer aufragenden Türme störte.“ Darauf bezog sich Dr. Nora Goldenbogen, Vorsitzende der jüdischen Gemeinden in Sachsen, als sie bei ihrer Rede vor dem Aufsetzen des Davidsterns am 12. September meinte: „Mit dem heutigen Tag kommt der Stern wieder ins Stadtbild und es bleibt zu hoffen, dass er nie wieder ein Fremdling werden wird.“
Das Kulturforum Görlitzer Synagoge
Schon 1939 wurde die Synagogengemeinde aufgelöst und nach dem Krieg das Gebäude durch Rechtssetzung seitens der sowjetischen Militärverwaltung der Dresdener jüdischen Gemeinde übertragen, welche es Anfang der 1960er Jahre der Stadt Görlitz verkaufte. Bis zur staatlichen Wiedervereinigung 1990 war das Gebäude weitgehend unbeachtet, wurde zeitweilig als Materiallager genutzt, wobei die ursprüngliche Funktion des Gebäudes jedoch nicht in Vergessenheit geraten war und eine würdige Nutzung eine der in der Wendezeit erhobenen lokalen Forderungen war. In einem drei Jahrzehnte dauernden Werdeprozess erschloss sich die Stadt ihren Umgang mit dem Gebäude, überführte die politische Arbeit in ein dann umgesetztes Konzept der Wiederherstellung des Gebäudes und füllt die ehemalige Synagoge seit Juni 2021 als „Kulturforum Görlitzer Synagoge“ wieder mit Leben.
Das städtische Konzept „Kulturforum Görlitzer Synagoge“ hatte zwar den Plan verfolgt, das Gebäude – auch die Innengestaltung – möglichst original wiederherzustellen, der Davidstern auf dem Dach war jedoch unberücksichtigt geblieben. Von verschiedenen Seiten wurde der Wunsch geäußert, dass wieder ein Davidstern auf dem alten Platz angebracht werde. Der Stadtrat genehmigte dies am 24.9.2020 einstimmig und verband mit der Genehmigung, dass der neue Stern über Spenden finanziert werden solle. Tatsächlich wurde auf diesem Weg die nicht ganz geringe Summe von rund 81.000 aufgebracht, wobei die Erwähnung dieser Spenden durch Oberbürgermeister Ursu bei seiner Rede am 12. September spontanen Applaus evozierte. Sollte diese Summe nicht ausreichen, die Kosten zu decken, wird die Stadt diese aus Rücklagen abdecken.
Das von der Stadtverwaltung diesem Tag inszenierte Aufsetzen des Davidsterns war sehr würdig. Den Charme der Veranstaltung machte zunächst aus, dass zwar am Vor- und Nachfolgetag immer wieder längere Regenschauer aufkamen, dieser Tag selbst aber ganztägig einen angenehm warmen Sonnenschein mit sich brachte. War die Aufsetzung erst eine Woche zuvor öffentlich angekündigt worden, verwundert es nicht, dass mit etwa 150 bis 200 Personen eine eher kleine Runde zusammenkam. Die technische Durchführung lag bei der Görlitzer Stahlbaufirma Weiner. Der seit 30 Jahren selbständige Knut-Heinz Weiner, für den „es etwas besonderes ist, ein Wahrzeichen für Görlitz zu setzen“, und seine Mitarbeiter hatten den Stern produziert und führten nun gekonnt das Aufsetzen durch.
Oberbürgermeister Octavian Ursu (CDU), Dr. Nora Goldenbogen und Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU)© Pawel Sosnowskir
Eine besondere Atmosphäre
Gegen 12 Uhr waren die Menschen um die Wendeschleife vor dem Gebäude versammelt als der Davidstern von einem Kran langsam in die Nähe der Versammlung gehoben und dort beim Folgenden im Sonnenlicht in Überkopfhöhe präsentiert wurde. Die Wirkung war erstaunlich. So verzichteten die mindestens 30 anwesenden Jugendlichen darauf, ihre Smartphones zu checken und orientierten sich zum Davidstern. Auch die übrigen Versammelten waren mit ihren Unterhaltungen und Bemerkungen ganz bei der Sache. Weiterungen, die bei öffentlichen Versammlungen manchmal einfach dazu gehören, wie Demonstranten oder Selbstdarsteller, wurden nicht gesichtet. Plötzlich, fern von jedem großen Auftritt, befanden sich Seit an Seit Oberbürgermeister Octavian Ursu (CDU) und Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) unter den Menschen. Ministerpräsident Kretschmer habe schon als Bundestagsabgeordneter dafür gesorgt, dass der Verfall des Gebäudes nicht weiter geht, etwa durch tatkräftiges Akquirieren von Denkmalsschutzmitteln, wird in der Menge gemunkelt. Mit kurzen Gesprächsteasern gingen beide durch die gesamte Versammlung und erfüllten geduldig Fotowünsche. Ebenso plötzlich und unaufdringlich stand Oberbürgermeister Ursu dann an dem in der Mitte des Wendekreises aufgestellten Mikrofon und sprach Worte der Begrüßung und Sinngebung: „Für die Stadt Görlitz ist dieses Vorhaben aus erinnerungskultureller und aus historischer und denkmalpflegerischer Sicht von großer Bedeutung. Das, was wir heute umsetzen, ist ein historischer Moment und eine Herzensangelegenheit für unsere Stadt." Ministerpräsident Kretschmer, der in Görlitz aufgewachsen ist und erst als Student nach Dresden ging, meinte: „Es ist eine große Freude, so viele Wegbegleiter und Mitstreiter zu sehen.“ Damit zielte er auf die Jahre der Wendezeit, auf die er näher einging, indem er bemerkte, dass „die Menschen, die hier gelebt haben, diesen furchtbaren Verfall der Stadt erlebt haben bis 1989 und dann die friedliche Revolution mit herbeigeführt haben.“ Als Teil der Stadt habe man sich „auch für diese Synagoge mit eingesetzt. Diese Synagoge gehört zu unserer Stadt. Wir alle haben sie nie erlebt im wirklichen Betrieb und wir waren noch nie drin, aber es war vollkommen klar, es muss so sein: Auch dieses Gebäude soll erhalten werden.“ Die weitere Geschichte bis in die Gegenwart brachte er so auf den Punkt: „Dieses Gebäude wurde von wenigen Menschen gesichert und erhalten. Von wenigen Menschen, die sich aufgemacht haben, kleinere Beträge zu organisieren, um am Ende auch wirklich einen guten optischen und nutzbaren Zustand wieder zu erreichen.“ Als tragenden Moment des Engagements erkannte er also wie Oberbürgermeister Ursu das Motiv der Erhaltung der Bausubstanz und fügte hinzu: „Aber Denkmalschutz ist bei diesem Thema nur das eine. Es geht vor allem um Geschichte“, genauer um „Respekt und Anerkennung vor den jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, die es einmal aufgebaut haben, die hier mit uns in Görlitz gelebt haben, die ermordet worden sind oder die flüchten mussten.“ An seiner Bewertung ließ er keinen Zweifel, indem er äußerte, „was für ein furchtbares Verbrechen, was für ein Zivilisationsbruch und was für ein riesiger Vertrauensbruch das gewesen ist, als dann jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger verfolgt und in einer großen Zahl umgebracht wurden.“ Für die Gegenwart gehe es „um Moral. Es geht um Werte, die wir miteinander teilen: Religionsfreiheit und Menschenwürde.“
Mit den Worten „So etwas darf sich nie wiederholen!“ schloss er mit Blick auf die anwesenden Jugendlichen und richtete sich direkt an sie: „Es ist so wunderbar diese vielen jungen Menschen zu erleben, die heute hier sind. Vielen herzlichen Dank, dass ihr alle da seid, dass ihr euch Zeit genommen habt.“ Nora Goldenbogen stellte in ihrer folgenden Rede fest: „Es ist kein Zufall, dass der Davidstern damals überall von den Türmen und Synagogen geholt wurde oder, wenn das nicht möglich war, er abgeschlagen wurde, sogar auf Friedhöfen. Er war ein sehr deutliches Symbol des Judentums und diese Symbole sollten verschwinden wie die gesamte jüdische Gemeinschaft in Deutschland.“ Sie schlug den Bogen in die Gegenwart und bemerkte: „Es hat mich umso unangenehmer berührt, als der gelbe Stern in den letzten beiden Jahren von Impfgegnern und Coronaleugnern benutzt wurde, um sich selbst als Opfer zu stilisieren.“
Würdige Wiederinstallation
Anschließend wurde der während der Reden vor den Augen schwebende Davidstern langsam über die Haube des Gebäudes gehoben und zielgenau an der höchsten Stelle abgesetzt. Bei dem Vorgang blieb der Davidstern fast durchgängig den versammelten Menschen in Frontansicht zu sehen. Begleitet wurde der Stern von zwei Drohnen, obschon die anwesende Polizei dies zuvor wegen der besonderen Schutzbedürftigkeit des Gebäudes durch Ansprache zu unterbinden gesucht hatte. Die entsprechenden Videoaufnahmen der Sternaufsetzung werden mittlerweile im Internet geteilt.
Zum Ausklang wurden von den Anwesenden Gespräche gepflegt. Gesichtet wurden Vertreter aus allen Stadtratsfraktionen, der erst gerade in Amt gekommene Landrat Stephan Meier (CDU), Volker Bandmann, langjähriger Wahlkreisabgeordneter im Sächsischen Landtag für Görlitz, Lothar Klein, März bis Oktober 1990 Mitglied der Volkskammer der DDR und heute zentraler Akteur der „Sächsischen Israelfreunde e.V.“ in Dresden, die jüdische derzeit in der Volksrepublik China praktizierende Ärztin und Professorin Evelyne Yehudit-Bischof und einige Görlitzer Pastoren der Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. David Peres, ein der Görlitzer jüdischen Gemeinde verbundener junger Mann aus Prag, trug wie auch Nora Goldenbogen und Alex Jacobowitz, Kantor und Leiter der Görlitzer jüdischen Gemeinde, den Gebetsschal.
Was die Zukunft des Synagogenbaus mit Davidstern angeht, zeigen die Äußerungen in etwas unterschiedliche Richtungen. So stellt man beim Gang durch die Stadt fest, dass die Synagoge allgemein bekannt ist, nicht jedoch ein „Kulturforum Görlitzer Synagoge“ Dieses Kulturforum muss sich als Marke wohl noch weiter im öffentlichen Bewusstsein verankern und hierbei mag zukünftig der Davidstern seine Rolle spielen. Nach dem Internetauftritt des „Kulturforum Görlitzer Synagoge“ soll die Nutzung der Synagoge ausdrücklich „säkular“ sein. Der jüdischen Gemeinde wird gleichwohl die Nutzung eines Raums als „Wochentagsynagoge“ ermöglicht. Nachfragen bei den Rednern dieser Veranstaltung deuten interessante Perspektiven an. Oberbürgermeister Ursu meint: „Die jüdische Gemeinde ist noch im Aufbau. Wir würden uns freuen, wenn wieder jüdisches Leben entsteht.“ Ministerpräsident Kretschmer bindet eine sakrale Nutzung an den Willen der jüdischen Gemeinde: „Wenn jemand einen Gottesdienst hier feiern will, dann muss das möglich sein, denn dafür ist das Gebäude gebaut worden.“
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