Vor 80 Jahren von den Nazis in Krakau ermordet: Mordechai Gebirtig, Vater des jiddischen Liedes und moralische Stütze des eigenen Volkes in Zeiten schrecklichster Not und Verfolgung

Gebirtigs bekanntestes Lied „S’brent“ war während der NS-Zeit die inoffizielle Hymne jüdischer Widerstandskämpfer. Heute wird es in Israel zu jedem Holocaust-Gedenktag angestimmt. Unter diesem Titel erschien auch die erste deutschsprachige Biografie Mordechai Gebirtigs – eine Pionierarbeit und ein Buch gegen das Vergessen. (JR)

Von Matti Goldschmidt

Ab 30. Mai 1942 mussten sich die Ghettobewohner des Krakauer Bezirks Podgórze, der zwischenzeitlich vollkommen eingemauert war, bei der JSS, der Jüdischen Sozialen Selbsthilfe, melden. Diejenigen, die noch bleiben konnten, erhielten einen Stempel in ihre Kennkarten. Gebirtig mit seine 65 Jahren war bereits zehn Jahre zu alt gewesen, um eine solche Bescheinigung, die letztlich ein verlängertes Leben bedeutete, zu erhalten. Er hielt sich noch ein paar Tage mit seiner Familie in seiner Wohnung versteckt, wohlwissend, dass die Lage hoffnungslos war und alle alsbald deportiert würden. Am 4. Juni war es soweit: Sie mussten ihre Häuser verlassen. Gebirtigs Notizen gelangten über die Tochter Leonora an Bekannte, die mit gefälschten Papieren jenseits der Ghettomauern lebten. Eine Augenzeugin berichtete schließlich: „Aus jedem Haus rannten Leute, gehetzt von Gebrüll und von Schüssen, mit Gewehrkolben und Reitpeitschen geschlagen. Verschreckt pressten sie ihre elenden Bündel an sich, als ein dicker Offizier ihnen befahl, vor der Hauswand an der Ecke niederzuknien und sie mit einem Schuss tötete. Die Leiber fielen übereinander, es entstand ein wachsender Berg von Leichen“.

Wie rund 7.000 anderen Personen – und das in nur innerhalb einer Woche – blieb der Rest der Familie „verschollen“, entweder vor Ort ebenfalls erschossen oder in die Gaskammern von Belzec deportiert. Die positiven, ja eher hoffnungsvollen Gedanken, die Gebirtig noch zwei Jahre zuvor niederschrieb, hatten sich für ihn nicht rechtzeitig realisiert: „Auch wenn die Henker uns die Bärte abschneiden und aus den Wohnungen vertreiben, am Ende werden sie zur Hölle fahren“:

Juden! Seid doch fröhlich!

Nicht mehr lang, ich hoff‘,

es endet bald der Krieg…

Natürlich war dem „überfleißigen“ Nazisoldaten sicherlich nicht bewusst gewesen, dass er gerade „den Vater des jiddischen Volksliedes schlechthin“ erschossen hatte. Die „Entjudung von Krakau“ befand sich allerdings so oder so in ihrer Endphase.

Galizien als „österreichisches Sibirien“

Mit der Annektierung Krakaus an Österreich infolge des Aufstandes von 1846 und die durch den Ausbau der Eisenbahn erfolgte Anbindung an Wien erlebte diese Stadt ab etwa einhundert Jahre zuvor einen sprunghaften wirtschaftlichen und demoskopischen Aufschwung. Bereits im Jahre 1910 zählte Krakau über 150.000 Einwohner, wovon gut über zwanzig Prozent jüdisch waren. Über die Situation der Juden in der Zeit bis zum 1. Weltkrieg schrieb der Dichter Melech (= König) Rawitsch (1893-1976, geboren als Sacharja-Chana Bergner): „Wir galizischen Juden liebten unseren Kaiser Franz Josph I. wirklich und wahrhaftig. Wir liebten ihn, weil wir vor ihm keine Angst hatten. Und noch mehr dafür, weil unser nächster Nachbar «Iwans Land» mit seinen ewigen Pogromen und Umstürzen war. Bei uns, in Österreich-Ungarn, gab es keine Pogrome und Revolutionen, und vor dem bisserl Antisemitismus in Wiener Seidenhandschuhen fürchteten wir uns nicht allzu sehr“. Erst mit der wiedergewonnenen Unabhängigkeit Polens im Novemer 1918, der Zweiten Republik, begann wie aus dem Nichts eine von polnischen Nationalisten initiierte Pogromwelle gegen die Juden. Nichtsdestoweniger galt Galizien in den rund siebzig Jahren unter Habsburg als das Armenhaus Österreich-Ungarns, als „österreichisches Sibirien“, mit geringer Lebenserwartung, einer hohen Anzahl an Analphabeten [die männlichen Juden waren davon ausgenommen] wie auch vor allem jüdische Emigrationen nach Wien, Berlin und die USA.

Jiddisch als Muttersprache

Mordechai „Mordche“ Gebirtig kam in den späten siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts in Kazimierz, dem jüdischen Viertel Krakaus, als Markus Bertig zur Welt; wie zu dieser Zeit gewöhnlich in einem streng-gläubigen Elternhaus. Widersprüchliche Dokumente lassen auf einen Zeitraum zwischen 1876 und 1878 schließen. Er arbeitete als Tischler, wurde Schauspieler, versuchte sich als Regisseur und schloss sich dem anti-zionistischen „Bund“ an, einer 1897 in Wilna gegründeten Vereinigung „Allgemeiner Jüdischer Arbeiter“ mit säkularer jüdischer Identität und Jiddisch als Nationalsprache; vor allem jedoch mit dem Anspruch, „hier“ zu sein und nicht „dort“ sein zu wollen, nämlich in „Eretz Israel“. Wie die meisten Juden Polens um 1900 war Jiddisch deren lingua franca. Bei der Volkszählung vom 9. Dezember 1931 gaben immerhin 41,3% der 56.515 Krakauer Juden Jiddisch als Muttersprache an. Dass 39,8% der Erfassten Hebräisch als ihre „Muttersprache“ bezeichneten, mag wohl eher ein Wunschgedanke gewesen zu sein: Wirklich Hebräisch sprachen ziemlich sicher, falls überhaupt, nur Vereinzelte – es wird wohl Jiddisch gewesen sein, das allerdings ebenfalls in hebräischen Schriftzeichen geschrieben wird.

Eine Erkrankung an angina pectoris bedeutete für Gebirtig, in relativ jungen Jahren seine Tischlerwerkstatt, Theater- und politische Aktivitäten aufzugeben. Richtig erholen sollte er sich von seiner Krankheit nicht mehr. 1914, bereits 37-jährig, blieb ihm als Herzkranker und Vater dreier kleiner Töchter deshalb der Einsatz für die Habsburger an der Front erspart – seinen vierjährigen Militärdienst absolvierte er in einem Krakauer Krankenhaus. Nach Ende des Krieges hatte er als Staatsbürger eines neuen Landes nun mehr Zeit, sich dem Verfassen von Liedern zu widmen. Seine Gedichte, zu denen er später auch in der Regel einfache Melodien komponierte, meist eine Mischung aus slawischen Volksweisen oder chassidischen Nigunim, wurden in der Zwischenkriegszeit der staatlichen Zensurbehörde Polens vorgelegt, bevor diese veröffentlicht werden durften. Die Verse, von sentimental-nostalgisch bis Protest und Revolte, mussten dafür erst vom Jiddischen ins Polnische übersetzt werden – Gebirtig war auch des Polnischen und Deutschen mächtig, wobei ein gerichtlich zugelassener Dolmetscher dessen „Unbedenklichkeit“ bescheinigte.

Verzicht auf Tantiemen

Und so gab es in der Zwischenkriegszeit „kaum eine Kleinkunstbühne in Polen, die nicht Gebirtigs Duette aufführte, keinen Liederabend, auf dem nicht eines seiner Werke vorgetragen wurde“. Allzu häufig allerdings war der Verfasser dieser Gedichte schlichtweg unbekannt, so dass Gebirtig immer wieder auf Tantiemen verzichten musste – oder seine Autorenrechte gezielt verletzt wurden. Was für „den unbekannten Superstar“ Zeit seines Lebens bedeutete, in eher ärmlichen, ja eigentlich proletarischen Verhältnissen leben zu müssen. 1940 schrieb er, die Nazis hatten längst Polen besetzt:

Ein Jahr der Verfolgung.

Der Sorgen und Pein,

Was wird aus uns werden?

Was wird mit uns sein…

Es kommen Zweifel auf,

enthüllen das Geheimnis,

es gibt keine Gerechtigkeit,

es gibt keinen Gott!

Sein letztes Gedicht schrieb Gebirtig 1942 kurz vor seinem Tod.

Dies und viel, viel mehr ist minutiös von dem Publizisten Uwe von Seltmann durch langjährige Recherchen in seinem 2018 erschienen Buch „Es brennt“ veröffentlicht. Dabei setzt er die Arbeit von Natan Gross (1919-2005) fort, der bereits über Jahrzehnte zu Gebirtig geforscht hatte. Mit etlichen Exkursen erfährt der Leser nicht nur über dessen Leben, sondern über vielerlei Randthemen, die zum weiteren Verständnis über dessen Lebenslauf notwendig sind. Ein umfangreicher Anhang mit ausgewählter Literatur, einem Personenregister, einem kurzen Lebenslauf zu Gebirtig oder einer Aufstellung aller seiner Gedichte vervollständigen dieses umfangreiche Werk,

Dass einer der wichtigsten Dichter in jiddischer Sprache heute vielen unbekannt ist, liegt sicher daran, dass es den deutschen Nationalsozialisten gelang, praktisch eine ganze Kultur nahezu auszulöschen – es schlicht kaum mehr Menschen gab, die Gebirtigs Gedichte wiedergeben und somit auch verbreiten konnten. Mit seinen Volksliedern (aka „Folksongs“) mag Gebirtig durchaus vergleichbar sein mit Woody Guthrie (1912-1967), dem „jungen Bob Dylan“ oder Hannes Wader. In den letzten zwanzig Jahren nahm sich insbesondere der neuerdings in Hamburg lebende, aus Detroit stammende Klezmerrevolutionär Daniel Kahn seiner Lieder an. Es mag eher eine Ironie der Geschichte sein, denn Gebirtigs bekanntestes Lied „s’brennt“ hat auch über 80 Jahre später mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine an Aktualität nichts verloren.

Uwe von Seltmann:

Es brennt. Mordechai Gebirtig,

Vater des jiddischen Liedes.

Erlangen 2018 (400 S., homunculus verlag, € 38)

ISBN 978-3-946120-65-0

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