Der ewige Antisemitismus – Buchbesprechung der Essay-Sammlung „Gebannt in diesem magischen Judenkreis“

Der Judenhass verläuft typischerweise nach einem bekannten historischen Muster, genährt von Vorurteilen und antisemitischen Stereotypen. Der New Yorker Germanist und Historiker Sander L. Gilman geht der Frage nach der jüdischen Identität nach. (JR)

Von Theodor Joseph

In seiner anregenden Essaysammlung wirft der amerikanische Germanist, Historiker und Kulturwissenschaftler Sander L. Gilman aus persönlicher Sicht einen Blick auf Fragen jüdischer Identität und damit zugleich auf seine breit gefächerten Forschungsfelder. Beginnend mit dem identitätsstiftenden jüdischen Humor über das Verhältnis der Juden zum Alkohol bis hin zu aktuellen Behauptungen, orthodoxe Juden seien (mit)verantwortlich für den Ausbruch des Covid-19-Virus beleuchtet er das gesamte Arsenal antijüdischer Stereotypen.

Gilman ist ein scharfsinniger Beobachter deutscher Befindlichkeiten aus amerikanisch-jüdischer Perspektive, auf dessen widersprüchliche Reaktionen auf die Pandemie, die er im Lichte seiner eigenen Erfahrungen ins Auge nimmt. Dabei sieht er seine Rolle darin, zuzuschauen, zuzuhören, zu lesen und Kritik zu üben im Interesse derer, die zumindest versuchen wollen, eine intellektuelle Distanz, gleichwohl aber eine emotionale Nähe zur Welt zu wahren.

In der autobiographischen Einleitung seiner aktuellen Studie gibt Gilman sehr freimütig einiges über seine universitären Studienjahre sowie die Universitätslandschaft im Deutschland der 1960er Jahre preis als sich eine Renaissance deutsch-jüdischer Kultur bemerkbar machte, eine Zeit, in der „philosemitische“ Literatur über die jüdische Präsenz innerhalb der deutschen Kultur von der Sehnsucht nach einer verlorenen, will sagen: vernichteten Welt geprägt war. Damals nahm man die Juden romantisierend oder nostalgisch als eine „fremde“ Würze wahr, die das „deutsche“ Gericht schmackhaft machte.

Gilman verneint, dass es das „Jüdische an sich“ gebe und verweist dieses weitverbreitete Stereotyp in das Reich der Fantasie, das fröhliche Urständ feiert. Als Jude sieht auch er sich dabei „gebannt“ im Judenkreis, aus dem auszuscheiden unmöglich erscheint, so wie es Ludwig Börne in einem Brief aus Paris 1832 formuliert hat: „Die einen werfen mir vor, daß ich ein Jude sei; die Anderen verzeihen es mir; der Dritte lobt mich gar darfür; aber alle denken daran. Sie sind wie gebannt in diesem magischen Judenkreise, es kann keiner hinaus.“ Dieses Zitat stellt Gilman aus eigener Erfahrung seiner autobiographischen Einleitung voran. Er vermutet, dass die Aufmerksamkeit, die seine Untersuchungen über die Komplexität der Vorstellungen vom Jüdischsein damit zusammenhängt, dass er sich selbst als Jude identifiziert. Und damit, so vermutet er weiter, habe er „auch den weltweiten Zorn weißer Nationalisten und Antisemiten“ auf sich gezogen.

 

Positiv-konnotierter Rassismus

Ein Aufsatz aus seiner Essay-Sammlung sticht heraus, in dem Gilman in Bezug auf Thilo Sarrazin die Frage aufwirft und beantwortet, ob Juden genetisch „anders“ seien. In seinem kontrovers diskutierten Buch Deutschland schafft sich ab hatte Sarrazin 2010 die verwegene These vertreten, alle Juden teilten ein bestimmtes Gen, das sie von anderen unterscheide, ein Gen, das eine „überdurchschnittliche Intelligenz“ der Juden erkläre. Juden hätten sich im Rahmen einer evolutionären Gruppenstrategie gezielt „hochgezüchtet“. Ein pseudo-genetischer Blödsinn, der neben vehementer Ablehnung sogleich auch Beifall von verschiedenen Seiten fand und von Gilman entlarvt wird: Das Klischee vom „intelligenten“ Juden wurzelt in der uralten Vorstellung eines rassisch homogenen „jüdischen Typus“, der sich durch besondere Schlauheit und Raffinesse ausdrückt. Das ist, wenn man so will, positiv-konnotierter Rassismus, aber eben Rassismus, denn der „Vorteil“ für die Juden wurde oft als Nachteil für die Gesamtgesellschaft gedeutet. Hier stellt sich die Frage, ob es denn nach Auschwitz opportun erscheint, Juden noch immer als „Rasse“ zu definieren. Wenn ja, dann, wie der Fall Sarazin zeigt, nur mit positiven Konnotationen. Sarrazins Argumentation, die Juden als „Erfolgsbeispiel“ zu instrumentalisieren, ist infam. Für ihn sind die „muslimischen Migranten“ zu dumm, um Bürger zu werden, den Nazis hingegen waren die Juden zu intelligent, um Bürger zu bleiben.

Der „jüdische Typus“ des 19. Jahrhunderts wurde durch den biologistisch-rassistischen Antisemitismus als – angeblich unveränderliche! – negative Eigenschaften definiert – seine spezielle Intelligenz oder Raffinesse. Das greift Sarazin und mit ihm eine bestimmte Klientel auf, wenn er von der „durchschnittlich höheren Intelligenz“ von Juden spricht und sie als Ergebnis jüdischer Familien- und Heiratspolitik darstellt. Indes sind solche Äußerungen nichts als ein Aufguss älterer, längst diskreditierter Mythen einer biologisch homogenen jüdischen Identität, angeblich belegt durch den überdurchschnittlichen jüdischen IQ.

 

Fantasien über das Judentum

Zur Komplexität der gemeinschaftlichen Identifikation, die immer im Fluss ist, gehört nach Gilmans Auffassung auch die Verwendung des Etiketts „Jude“, entweder zur Verunglimpfung (bei allen Arten von Antisemiten, die Juden oder Nicht-Juden sein können) oder zur Wertschätzung (bei Philosemiten, die ebenfalls Juden oder Nicht-Juden sein können). Beide Kategorien sind integriert in die Psyche derjenigen, die solche Stereotypen benutzen, und haben starke Auswirkungen auf die Psyche derjenigen, deren Identität auf diese Weise definiert wird.

Für Gilman ist Börnes Schlüsselfrage, warum das Jüdische in der deutschsprachigen Welt der Prüfstein für moralische Beklemmung und Dissonanz sowie für das Konzept des moralischen Handelns geblieben ist, relevant. Eine Frage, die lange vor dem Holocaust virulent war. Gilman versucht in seinen Untersuchungen nicht, die Juden an sich zu „erforschen“, sondern sein Forschungsziel bezieht sich auf die Fantasien über sie. Seine Untersuchungen selbst bezeichnet er als „vorwiegend einzelgängerisch“.

In anderen Untersuchungen gibt Gilman immer wieder einen Überblick über die weitgefächerte Literatur, die sich seit dem 19. Jahrhundert permanent, den jeweiligen Zeitgeist aufgreifend, mit der angeblichen und scheinbaren geistigen Überlegenheit der Juden gegenüber den jeweiligen „Wirtsvölkern“ bzw. anderen Völkern und Minderheiten beschäftigt. Dies ist zugleich eine Literatur, die antisemitischen und rassistischen Geist atmet und bis in die Gegenwart immer neue Nahrung findet. Schlüsselbegriffe in diesem Zusammenhang sind Schlagworte wie: Schläue, Cleverness, Intelligenz. Intellektualität, Gewieftheit, Scharfsinn, Spitzfindigkeit, Verschlagenheit u.v.m., Stereotypen, für die Gilman die zutreffende Zuschreibung findet – ein dummes Vorurteil. Je nach ideologischem Standpunkt werden die erwähnten „jüdischen“ Eigenschaften romantisiert oder stigmatisiert, was letztlich auf ein und dasselbe herausläuft.

 

Tödliche Rassentheorien

Gilman beschreibt die Entstehungsgeschichte und die argumentativen Verästelungen dieser scheinbar positiven Diskriminierung, die ihren Ausgang in den Debatten und Rassetheorien des 19. Jahrhunderts nahm. So aberwitzig es klingt: Vom Klischee der „schlauen Juden“ führt ein gerader Weg zu den Begründungen, die zum Judenmord geführt haben, auch wenn die Geschichte im Nachhinein gelehrt hat, dass die den Juden zugeschriebene Intelligenz Auschwitz auch nicht verhindern konnte. Der Mythos von der höheren jüdischen Intelligenz hat seinen Ursprung im Zeitalter des biologischen Rassismus und wurde Bestandteil bei der Erörterung von Juden als rassische Kategorie. Gilman fasst seine Analyse u.a. in die Formel, dass die Erfindung des „klugen Juden“ wenig oder gar nichts mit den tatsächlichen Leistungen oder moralischen Qualitäten einzelner wie auch immer definierter Juden in der heutigen Welt zu tun hat. Kein „Körnchen Wahrheit“ in Hinblick auf die Realität jüdischer Aktivitäten verbirgt sich im Kern dieses philosemitischen Mythos verallgemeinerter geistiger Überlegenheit „der“ Juden.

 

Gilman, Sander L.: Gebannt in diesem magischen Judenkreis. Essays. Wallstein Verlag, Göttingen 2022, 296 S., 20 Euro

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