„Wir weinten tränenlos“ – Ein Film über die Mitglieder des jüdischen „Sonderkommandos“ in Auschwitz

Von Tobias Rüger

Der Dokumentarfilm »We Wept Without Tears« des israelischen Filmemachers Itai Lev porträtiert Überlebende des sogenannten Sonderkommandos von Auschwitz  

Jacob Silberberg, Schlomo Dragon, Abraham Dragon, Eliezer Eisenschmidt, Schaul Chasan, Josef Sackar.

Diese Auschwitz-Überlebenden wurden Anfang der ’90er Jahre von dem israelischen Historiker Professor Gideon Greif auf dem Gelände des ehemaligen NS-Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz zu ihren Erinnerungen befragt.

Alle sechs waren Mitglieder des sogenannten Sonderkommandos, einer Gruppe, die dafür verantwortlich war, im Lagerbetrieb der Mordmaschinerie zuzuarbeiten. Die Bilder, die diese Menschen beschreiben, erschrecken in doppelter Weise. Denn diese Zeitzeugen sind nicht nur Überlebende der Hölle von Auschwitz, sie waren dazu auch noch zur Mitarbeit beim industriellen Töten gezwungen. Sie mussten Menschen zu den Gaskammern begleiten, dabei für einen ruhigen Ablauf sorgen, die Toten aus der Gaskammer schleppen, Wertgegenstände einsammeln, die Gaskammer säubern, die Leichen verbrennen und danach deren Asche beseitigen.

Sie tragen also ein doppeltes Trauma in sich: zum einen das eines Schoa-Überlebenden, zum anderen das einer – erzwungenen – Mittäterschaft. 

Gideon Greif ist ein Experte für das Sonderkommando von Auschwitz, er hat dazu 1995 das Buch »Wir weinten tränenlos« veröffentlicht. Die im Rahmen seiner Recherchen dafür gefilmten Interviews lagen allerdings fünfundzwanzig Jahre lang im Archiv, bis der israelische Filmemacher Itai Lev mit Greif zusammenkam und die beiden entschieden, aus dem Material einen Dokumentarfilm zu machen.

Es ist mir eine Freude und ein Stück weit auch eine Ehre gewesen, von Itai Lev mit der Filmmusik zu der Dokumentation beauftragt zu werden. Eine Arbeit zu einem derartigen Thema ist delikat. Was keinesfalls gebraucht würde, darüber waren wir uns sofort im klaren, wäre Musik, die Drama und Pathos versprüht. So entschied ich mich dafür, mit den klanglichen Mitteln der Neuen Musik aber fasslichen Melodien zu arbeiten.

Es ist der Abgrund, in den wir schauen, den ich zu vertonen hatte. Nur: Wie vertont man so etwas, wie komponiert man Apathie, einen stillen Schrei, ein tränenloses Weinen? Ich weiß es immer noch nicht.

Bemerkenswert schien mir beim immer wieder neuen Anschauen des Bildmaterials, wie sehr sich die sechs Persönlichkeiten in der Verarbeitung des Grauens unterscheiden.

Während Eisenschmidt immer wieder Empörung erkennen lässt, Empörung darüber, was geschehen ist, und dass es ihm geschehen ist, scheint bei Silberberg erkennbar, dass er das Erlebte nur mit Entrückung hat ertragen können. Wenn er von den starren Leichen, die er aus der Gaskammer schleppen musste, spricht, dann grinst er und schaut mit schelmischem Blick ins Leere. 

Gideon Greif lässt jeden sein, jeden mit seiner Wortwahl, seinem Temperament gemäß sprechen. Nichts wirkt dabei belehrend. Er, der Historiker, betrachtet die Aussagen der Zeitzeugen sachlich und vorurteilsfrei. Vielleicht musste eine solche Dokumentation in Israel entstehen. Wäre es eine deutsche Produktion gewesen, wir hätten vermutlich permanent erklärt bekommen, wie schlimm es war, seinerzeit in Auschwitz. Die Dokumentation von Itai Lev arbeitet hier mit einem ganz anderen Selbstbewusstsein. Die Schilderungen der Überlebenden, größtenteils in den Ruinen der Gebäude von Auschwitz gefilmt, klingen zeitweise so absurd, dass man tatsächlich meinen könnte, das könne es so gar nicht gegeben haben. Genau hier wird der Film besonders glaubwürdig, denn gerade weil er nicht um Glaubwürdigkeit ringt, Empörung einfordert, nicht belehren will, nicht permanent betont, was gut und was schlecht gewesen ist, holt er uns die Geschehnisse besonders nah heran.

Am Ende meint man zu glauben, nicht mehr urteilen zu dürfen, denn jeder von uns hätte Täter, Opfer oder beides zugleich sein können – je nachdem, in welches Leben man hineingeboren worden wäre. Wenn es das ist, was der Film als Botschaft hinterlässt, dann ist es mit Sicherheit das größte was eine solche Produktion an Aufklärungsarbeit leisten kann. Zugleich ist es Itai Lev aber auch gelungen, der Szenerie eine nahezu bizarre Poesie abzugewinnen. Auch das irritiert. Vor allem, dass im Bildmaterial immer wieder zu erkennen ist, wie die Geschichte über alles Gras wachsen lässt. Hier wortwörtlich zu verstehen, auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz. 

Auf die Frage, wann er befreit wurde, hören wir Jacob Silberberg am Ende des Films sagen, er sei noch immer ein Gefangener von Auschwitz. Sein Lächeln und die sanfte Stimme, mit der er spricht, bilden den denkbar größten Widerspruch zu seinen Worten. 

Hier wird klar: Mit dem Ableben der Zeitzeugen wird die Erinnerung an die Schoa abstrakt. Es ist eine Kulturleistung, unsre Kulturleistung, diese Ereignisse vor dem Vergessen zu bewahren. Itai Lev und Gideon Greif haben hierzu einen wichtigen Beitrag geleistet.

Der Film wurde am 27. April im israelischen Fernsehsender Kan 11 erstausgestrahlt und wird nun im Rahmen des jüdischen Filmfestivals Berlin-Brandenburg gezeigt. Am 15. Juni um 17.00 Uhr im Thalia Programmkino in Potsdam sowie am 15. Juni um 20.00 Uhr und 19. Juni um 17.00 Uhr im Delphi Lux in Berlin. www.jfbb.info

Tobias Rüger ist Saxofonist und Komponist aus Frankfurt. Neben seinen Aktivitäten mit Jazzprojekten und als Mitwirkender bei der Kammeroper Frankfurt komponiert er Hörspiel- und Filmmusiken. Die Produktion der Musik zum Film ‚Wir weinten tränenlos' entstand mit finanzieller Unterstützung der Hessischen Kulturstiftung.

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