Zum Tod von Leon Schwarzbaum: „Vergeben können nur die Toten“

Leon Schwarzbaum sah es als seine Pflicht an, als Zeitzeuge Aufklärung zu leisten.
© Tobias Schwarz / AFP

Im Alter von 101 Jahren verstarb Leon Schwarzbaum. Er war einer der letzten Überlebenden des Holocaust und hatte die Hölle der Konzentrationslager Sachsenhausen und Auschwitz erleiden müssen. Mit ihm verstummt eine Stimme, die sich dem Vergessen laut entgegengestellt hat. (JR)

Von Julian M. Plutz

„Vergeben können nur die Toten und die können nicht sprechen“ - sagte Leon Schwarzbaum in einem Interview vor fünf Jahren. Nun kann der Mann, der Auschwitz und Sachsenhausen überlebte, selbst nicht mehr sprechen. Am 13. März 2022 verstarb Leon „Henry“ Schwarzbaum im Alter von gesegneten 101 Jahren. Er galt als einer der letzten Überlebenden der Shoah.

Am 20. Februar 1920 wurde Leon Schwarzbaum, Kind einer polnisch-jüdischen Familie, in Hamburg geboren. Sein Vater war Altmetallhändler. Viel Geld hatten sie nicht, doch irgendwie schaffte es die Familie, sich über Wasser zu halten. Die Aussicht auf ein besseres Leben brachte seinen Vater 1922 nach Argentinien. Sein Ziel: Er wollte die Grundlage für eine Auswanderung schaffen. Doch nach seinem einjährigen Aufenthalt entschied sich die Familie dagegen. Zu groß war die Sehnsucht nach Bedzin in Oberschlesien – unweit von Kattowitz.

Zwischen den Weltkriegen hatte Familie Schwarzbaum zwar nicht viel – unglücklich waren sie jedoch nicht. Leon, der ein guter Schüler war, hatte zwei Hobbys. Sport und Stepptanz. In der A-capella Gruppe „Die Jolly Boys“ tanzte er mit Freunden zusammen, was die Band durchaus zu einer kleinen, regionalen Bekanntheit machte.

 

Von KZ zu KZ, von Zwangsarbeit zu Zwangsarbeit

Doch die Unbeschwertheit endete jäh, als 1939 die Nazis in Polen einmarschierten. Am 8. September brannte die Synagoge Bedzin, die auch Leon besuchte. Und als dann das Ghetto Kamionka errichtet wurde, nahm die düsterste Zeit der jungen Geschichte ihren Lauf. Juden wurden systematisch dorthin getrieben. Leon hatte zu Beginn noch „Glück“, er durfte zu Beginn, da er recht redegewandt war, in der sogenannten jüdischen Verwaltung als Telefonist arbeiten. Später war er Zwangsarbeiter in einem Unternehmen für Galvanik, ehe 1943 das Ghetto Kamionka aufgelöst wurde und er mitsamt seinen Eltern nach Auschwitz deportiert wurde.

Wieder Zwangsarbeit, dieses Mal für Siemens. Im Außenlager Bobrek wurde er als Läufer eingesetzt. Arbeiten, um zu überleben. Leon war jung und belastbar. Seine Eltern hatten nicht diese Kraft, wahrscheinlich waren sie zu alt. Sie überlebten Auschwitz-Birkenau nicht.

Als sich im Januar 1945 die Sowjetunion dem Konzentrationslager näherten, wurde Leon und die übrigen Häftlinge in einen der Todesmärsche ins KZ Buchenwald verlegt. Von dort aus wurden die noch Arbeitsfähigen nach Sachsenhausen weiterverlegt. Von da aus folgte sein zweiter Todesmarsch, eher er endlich am 5. Mai 1945 von amerikanischen Soldaten befreit wurde.

 

Der Kampf gegen das Vergessen

Von da an begann sein zweites Leben. Jenseits von Nazis, aber zunächst auch jenseits jüdischen Lebens. Als er nach Bedzin zurückkehrte, fand er eine Stadt mit de facto keinen Juden vor. Also ging er in die Metropole Stettin, wo er sein Geld mit den Exporten von Kunstgegenständen, insbesondere in die USA, verdiente. Nach einem einjährigen Aufenthalt in den Vereinigten Staaten kehrte er nach Deutschland, genauer gesagt nach Berlin zurück.

Erst im hohen Alter sprach Leon Schwarzbaum über seine Erfahrungen als Holocaustüberlebender. Er hält Vorträge in Unternehmen und Schulen und wird zu einem der bekanntesten Gesichter im Kampf gegen das Vergessen.

 

Abiturzeugnis nach 80 Jahren

Zu seinen emotionalsten Momenten gehörte sicherlich, als er im Jahr 2016 Zeuge und Nebenkläger im Prozess gegen Rainhold Hanning war, der noch im selben Jahr wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 170.000 Fällen zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde. Das Urteil wurde jedoch nicht rechtskräftigt, da das Verfahren bei Hennings Tod noch anhängig war.

Ein nicht minder emotionaler, dafür um so positiver Augenblick dürfte die nachträgliche Überreichung des Abiturzeugnisses 2019, nach 80 Jahren, gewesen sein. Die Nazis hatten ab 1939 auch Schüler ins KZ Auschwitz gesperrt und alle Dokumente vernichtet. Bis auf eine Zensur wusste Leon Schwarzbaum noch all seine Zensuren. Der damals 98-Jährige habe seine Prüfung am jüdischen „Fürstenbergus Lyzeum“ in Bendzin abgelegt. Jedoch hatten die Nazis das Zeugnis konfisziert. Und auch wenn es nur symbolisch war: Mit dem Abiturzeugnis hätte Herr Schwarzbaum tatsächlich noch an einer Hochschule studieren können.

 

Seine Stimme weitertragen

Bundesverdienstkreuz, eigene Biografie („Der letzte Jolly Boy“), es wurde nicht still um ihn. Und ihm war dies mehr als recht, er sah sich der Biografie seiner Generation verpflichtet: „Wir wissen, dass es in Deutschland über die Jahrzehnte hinweg immer einen Bodensatz gegeben hat von Menschen, die sich dieser Geschichte nicht stellen wollten, die diese Geschichte geleugnet haben. Die Stimmen werden lauter. Das erfüllt uns mit großer Besorgnis. Und umso mehr ist die Mehrheitsgesellschaft aufgefordert, dagegen Stellung zu nehmen, weiter Aufklärungsarbeit zu leisten. Wir als Gedenkstätten werden dazu nach Kräften unseren Beitrag leisten.“

un ist Leon Schwarzbaum mit 101 Jahren gestorben. Wir alle wissen, dass Stimmen wie die seine immer weniger werden. Seine Generation wird es bald nicht mehr geben. Doch die nachfolgenden Generationen leben. Es ist die Verantwortung dieser, Geschichten, wie die von Leon Schwarzbaum, weiterzuerzählen. „Nie wieder Auschwitz“ darf zu keiner Floskel verkommen. So paradox und zynisch es klingen mag: Sie muss mit „Leben“ gefüllt werden. Der konsequente Kampf und die rigorose Ächtung aller Art von Antisemitismus - völlig egal von welcher Richtung - muss zur routinierten Übung aller Bürger werden.

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