Mehr als 100 jüdische Waisenkinder aus Odessa sicher in Berlin angekommen

Es sind Kinder, die vor dem Krieg fliehen mussten und weder Vater noch Mutter haben. Jetzt haben sie auch ihr letztes Zuhause verloren. Die jüdische Chabad-Gemeinde Berlin gibt über 100 jüdischen Kindern Schutz und neue Geborgenheit. (JR)

Von Julian M. Plutz

Es gibt sie noch die guten Nachrichten. Die Meldungen, die uns Grund zur Hoffnung geben. In Zeiten, in denen der Krieg in Europa zurückgekehrt ist, ist dies gar nicht so leicht. Nach Jahrzehnten des Friedens fliehen innerhalb des Kontinents wieder Menschen, was für viele vor wenigen Wochen noch unvorstellbar gewesen war. Und dennoch gibt es in den tristen Tagen Anlass zur Zuversicht, wie die Geschichte über die jüdischen Waisenkinder aus Odessa zeigt.

Anfang März war es endlich soweit. Nach einer dreitätigen Fahrt kamen 105 Kinder in Berlin an. Drei Tage zuvor brachen sie mit insgesamt fünf Bussen auf, da die ukrainische Hafenstadt Odessa nicht mehr sicher war. Die Einschläge von Putins Bomben kamen immer näher, so dass das jüdische Waisenhaus evakuiert werden musste. Auf dem kurzen Dienstweg und ohne großen bürokratischen Aufwand sagte das Bildungszentrum „Chabad Lubawitsch Berlin“ zu, die Kinder aufzunehmen. 50 Stunden später kamen sie in der deutschen Hauptstadt an. Über vier Länder und vorbei an Kontroll- und Grenzposten, um in Sicherheit zu sein.

„Ich habe dann spontan gesagt, dass wir die Kinder retten müssen.“

Inzwischen kamen zwei weitere Busse mit Waisenkindern aber auch mit alleinerziehenden Eltern in Berlin an. Fürs erste wurden sie in ein Hotel im Stadtteil Wilmersdorf untergebracht. Zum Essen, Beten und Spielen treffen sie sich im Bildungszentrum Chabad. Organisiert hatte die Rettungsaktion der Gemeinderabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Berlin Yehuda Teichtal. „Die letzte Woche konnte ich kaum schlafen“ sagte er der Berliner Zeitung. „Gott sei Dank sind die Kinder jetzt in einem sicheren Hafen“.

Für den Rabbi war es keine Frage zu helfen: „Ein Vertreter der Jüdischen Gemeinde in Odessa hat mich nach Ausbruch des Krieges angerufen und von der ernsten Lage berichtet. Ich habe dann spontan gesagt, dass wir die Kinder retten müssen. Vier Tage später kamen die Flüchtlinge in Deutschland an. Wie brenzlig die Lage in Odessa tatsächlich ist, zeigt uns die aktuelle Nachrichtenlage.

 

Zynische Wortwahl von Putin

Doch auch in Berlin ist für die Kinder nicht alles rosig. „Auf dem Spielplatz wurden wir von einem älteren Mann beschimpft“, so eine Betreuerin: „Wenn ich euch sehe, dann kann ich Putin verstehen“, hatte er gesagt. Antisemitismen, an die sich die Neuberliner wohl gewöhnen müssen. Taten, die Rabbiner Teichtal gut kennt. So wurde er 2019 selbst Opfer eines antisemitischen Angriffs. Auf dem Weg nach Hause, nach einem Gottesdienst, wurde er in der Nähe der Synagoge in Wilmersdorf vor den Augen seines Kindes von zwei Männern auf Arabisch beschimpft und bespuckt.

Doch wichtig ist erst einmal, dass die jungen Flüchtlinge in Sicherheit sind. Wann und ob sie wieder zurück in ihre Heimat zurückkehren, ist völlig ungewiss. In absehbarer Zeit dürfte ein Umzug zurück nach Odessa kein Thema sein. Von der Evakuierung des Waisenhauses, bis zur Flucht nach Berlin bekommen die Worte Putins, er wolle das Land „entnazifizieren“ eine zynische, menschenverachtende Note. Dass ausgerechnet der russische Präsident die vermeintlichen Nazis aus der Ukraine mit einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg vertreiben will, eine Methode, der sich die Nazis bedienten, wäre ein Treppenwitz der Geschichte, wenn die Lage nicht so bitterernst wäre.

Die Geschichte der Waisenkinder aus Odessa ist genau die Meldung in diesen schwierigen Zeiten, die uns daran erinnert, dass wir Menschen sind und Menschen helfen können. Es sind wir, die dafür sorgen, dass das Wort „Solidarität“ mit Leben gefüllt wird und nicht zur Plattitüde verkommt. Es liegt an uns, dass wir nicht nur über Menschlichkeit reden, sondern auch Menschlichkeit leben. Berlins Gemeinderabbiner Yehuda Teichtal, der selbst vor mehr als 25 Jahren von New York in die deutsche Hauptstadt kam, ist hierfür ein leuchtendes Beispiel.

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