Die Juden auf der Titanic

Isidor und Ida Straus (um 1910)© Straus Historical Society


Vor 110 Jahren ereignete sich das wohl bekannteste Schiffsunglück der Geschichte. Auch viele Juden waren unter den Toten und den Überlebenden. Ihre Geschichten erzählen viel über ihre Pläne und Lebenswege in der jüdischen Diaspora. (JR)

Von Alexandra Baglai

Der Untergang des riesigen Passierschiffes, das in der Nacht vom 14. auf den 15. April im Jahr 1912 1400 bis 1517 Menschen mit sich in die Tiefe zog, wurde zur größten und berühmtesten menschlichen Tragödie der Schiffsgeschichte. Da die Titanic außerdem als „Emigrantenschiff“ galt, wurde das Unglück erst recht zur internationalen Katastrophe.

Die genaue Anzahl der Juden, die sich auf dem Schiff befanden, kann nicht angegeben werden. Erst nach dem Unglück versuchte man, anhand typisch jüdischer Namen die Opfer zu ermitteln. Doch viele Passagiere der dritten Klasse bestiegen das Schiff mit falschen Papieren, da das oft die einzige Möglichkeit war, Russland zu verlassen.

Zuverlässig und gut recherchiert sind zum Beispiel die Geschichten von zwei der 27 jüdischen Überlebenden, die in der dritten Klasse reisten.

Der 20-Jährige Gurshon Cohen, ein gebürtiger Londoner, sprang direkt ins Meer, als er sah, dass das Schiff zu sinken drohte, und konnte auf diese Weise ein Rettungsboot erreichen.

Der 34-Jährige Joseph Abraham Hyman, ein Ladenbesitzer aus Manchester, wurde im Passagiermagazin als „Hersteller von Bilderrahmen“ erwähnt. Nur sein blinder Überlebenstrieb rette ihm das Leben; von Heldenmut konnte da nicht die Rede sein. Seinen eigenen Worten zufolge herrschte an Deck das totale Chaos. Hyman nutzte die Verwirrung für sich und stieg im passenden Moment in eines der Boote. Als die Titanic-Crew nämlich wieder die Kontrolle über die Situation erlangt hatte, durften Männer nicht mehr so einfach flüchten. Nach seiner Ankunft in den Vereinigten Staaten gab Hyman mehrere Interviews, kehrte dann wieder nach Manchester zurück und eröffnete mit dem als Entschädigung für den Unfall erhaltenen Geld einen kleinen koscheren Feinkostladen, der rasch zu einer lokalen Berühmtheit wurde. Von da an war sein Geschäft wie auch seine Familie unter dem Namen „Die Titanics“ bekannt. Das von ihm gegründete Unternehmen verwendet noch immer ein Bild von Joseph Abraham Hyman und des berühmt-berüchtigten Schiffes als Markenzeichen.

Da Hyman zu den Passagieren dritter Klasse gehörte, galt seine Rettung als ein wahres Wunder und man bombardierte ihn nicht mit provokanten Fragen. Ganz anders war es bei dem Überlebenden Adolphe Saalfeld, Parfümeur aus Großbritannien, ein Gentleman der ersten Klasse. Wie konnte es dieser Schnösel nur wagen, ein Rettungsboot zu besteigen, fragte man sich.

Da war allerdings noch der millionenschwere Bankier Benjamin Guggenheim, der einen Platz im Boot ablehnte und seine Entscheidung damit begründete, dass keine einzige Frau wegen seiner Feigheit sterben dürfe. Einer Version zufolge blieb er, um der Crew dabei zu helfen, Passagiere in Rettungsboote zu bringen, einer anderen zufolge, bat er um einen Brandy und trank diesen ruhig mit seinem Butler Victor Giglio, während die Titanic unterging. Dabei soll er gesagt haben, sie wollen eben wie wahre Gentlemen gehen. Sein Leichnam wurde nie gefunden, er starb, wie die meisten Juden in dieser einen grausamen Nacht.

In James Camerons berühmtem Filmdrama „Titanic“ (1997) sind in einer Szene Ida und Isidor Straus zu sehen, zwei ältere First-Class-Passagiere und wohlhabende Besitzer des Kaufhauses Macy's. Über dieses mutige Paar und über ihre starke Liebe sind später Gedichte, Lieder und sogar ein Buch verfasst worden.

Isidor Straus war der Bruder des bekannten Nathan Straus, nach dem übrigens die israelische Stadt Netanja, auch Nathania geschrieben, benannt ist. Isidor und sein jüngerer Bruder Nathan standen sich sehr nahe. Sie wurden in Otterberg, Deutschland, geboren. Ihr Vater Lazarus war besorgt über die politische Lage in Europa, und so zog die Familie, bestehend aus ihm, seiner Ehefrau Sarah und zwei kleinen Jungs, im Jahr 1854 nach Amerika. Anfangs verdiente der Vater sein Geld mit Hausieren und eröffnete infolgedessen ein Kaufhaus in Georgia.

Ihr erstes richtiges Geld verdiente die Familie mit dem Verkauf von Baumwolle, doch das Vermögen ging verloren, als der Süden den Bürgerkrieg gegen den Norden verlor (Isidor hatte sich freiwillig beim Heer der Konföderierten Südstaaten zum Wehrdienst gemeldet) und die Wirtschaft Georgias durch die Kriegstaktik „Verbrannte Erde“ zerstört wurde.

Lazarus konnte seine Schulden trotz alledem begleichen und eröffnete ein neues Geschäft – diesmal spezialisierte er sich auf die Produktion von Töpfer- und Glaswaren im Norden. Natürlich stiegen auch seine beiden Söhne in das Business ein. Nach einem vielversprechenden Treffen mit Rowland Macy, dem Gründer des berühmten und noch immer florierenden Warenhausbetreibers Macy's Inc., erhielt das Unternehmen von Straus einen Showroom. Im Laufe der Zeit wurden Isidor und Nathan Partner von Macy's.

Zwanzig Jahren vergingen, das Unternehmen ging in die Hände der Brüder über. Neben der Partner- und Mitgliedschaft im Vorstand von Macy's, wurden sie auch Partner eines weiteren Geschäftes: „Abraham & Straus“, dessen Direktor Nathan war.

Zudem widmeten sich die Brüder bald dem sozialen Engagement. Als eine der Verkäuferinnen der Firma vor Hunger ohnmächtig wurde (sie arbeitete hart, um ihre behinderte Mutter zu unterstützen), organisierten die Brüder Straus die wohl erste subventionierte Kantine für Angestellte in den USA.

Beide waren engagierte Philanthropen, insbesondere im Gesundheitswesen. Darüber hinaus unterstützten sie gemeinnützige Vereine in New York. Isidor wurde ins US-Repräsentantenhaus gewählt und war auch Gründungsmitglied des American Jewish Committee. Nathan war Vorsitzender des New York City Board of Health.

 

Schicksalhafte Begebenheiten

Das Jahr 1912 brach an. Im Januar begaben sich Isidor und Ida nach Frankreich, wo Isidor ärztlich behandelt wurde. Das Paar besuchte auch ihre Familienangehörigen in Deutschland. Anschließend machten sie sich auf den Weg nach London, wo Isidor versuchte, in dem Bergarbeiterstreik zu vermitteln. Zudem besuchten sie Palästina. Im Februar 1912 reisten auch Nathan und seine

Frau Lina mit dem Gründer und ersten Präsidenten der Hebräischen Universität Jerusalem Judah Magnes dorthin. Die Zeit war knapp, da Nathan sich bereit erklärt hatte, die USA auf dem internationalen Tuberkulose-Kongress im April in Rom zu vertreten.

Der Bergarbeiterstreik führte dazu, dass viele Fahrten nach Amerika gestrichen wurden. Die Titanic fuhr aber. Und so buchten Isidor und Ida ihre Tickets …

Als in jener schicksalhaften Nacht im Jahr 1912 im Nordatlantik die Titanic, das größte Passagierschiff der damaligen Zeit, infolge einer Kollision mit einem Eisberg zu sinken begann, fing man an, Frauen und Kinder in Rettungsboote zu befördern. Doch die 63-jährige Ida äußerte den Wunsch, bei ihrem Mann bleiben zu wollen, mit dem sie 40 glückliche Jahre verbracht hatte.

Und so schilderte Professor Kurzman, Urenkel von Ida und Isidor Straus, die Ereignisse in jener Nacht: „Meine Urgroßmutter stieg zunächst in ein Rettungsboot, in dem Glauben, dass ihr Mann ihr nachfolgen und ebenfalls einsteigen würde. Als er es aber nicht tat, wurde sie nervös. Der Schiffsoffizier meinte noch: „Nun, Mr. Straus, Sie sind ein älterer Herr … und wir wissen alle, wer Sie sind … Gehen Sie ruhig zu ihrer Frau.“ Aber mein Urgroßvater erwiderte: „Ich werde es nicht tun. Ich steige nicht in das Boot, solange noch so viele Menschen nicht in Sicherheit sind.“ Als Ida das hörte, verließ sie das Boot, um bei Isidor zu bleiben. Die letzten Worte, die ein Dienstmädchen von Ida Straus mitbekam waren: „Wir haben zusammen gelebt und wir werden auch zusammen sterben.“

In Camerons Film fand das Paar den Tod in ihrer Kabine. Doch in Wirklichkeit wurde es zuletzt auf dem Deck des sinkenden Schiffes gesehen; das Paar stand einfach nur so da und hielt sich an den Händen.

Der Tod der beiden hat Nathan und Lina tief getroffen, die zuvor auch noch zwei Kinder verloren hatten – eine zweijährige Tochter und einen 17-jährigen Sohn. Viele Jahre engagierten sie sich für verschiedenste karitative Zwecke. Beispielsweise wurde seit 1892 viel harte Arbeit und Geld in die Förderung der Pasteurisierung von Milch investiert; zuvor war das Fehlen eines solchen Verfahrens eine der Hauptursachen für die Kindersterblichkeit gewesen. Sie verkauften diese Milch zu reduzierten Preisen und überstanden den heftigen Protest von Bauern, Politikern und sogar einigen Ärzten. Bald gründeten und finanzierten sie Gesundheitszentren in Jerusalem, und das Hadassah-Krankenhaus begann mit dem Verkauf der pasteurisierten Milch, die zum Prototyp des Mutter-Kind-Punktesystems wurde, das es heute in Israel gibt. Nathan und Lina ließen auch ein alternatives Hotel in Lakewood, New Jersey, erbauen, als ihren Familienmitgliedern ein Zimmer verweigert worden war und sie sich dort gegen Henry Fords judenfeindliche Thesen ausgesprochen hatten. Zwei Drittel ihres Vermögens gab das Paar für wohltätige Zwecke aus.

Wie schon Ida und Isidor gingen beide in die Geschichte ein als tatkräftige und aufopfernde Menschen.

Die Geschichten der jüdischen Passagiere auf der Titanic zeigen uns, wie verschieden doch Menschen trotz gleicher Herkunft oder derselben Glaubensgemeinschaft sein können. Passagier der dritten, zweiten oder ersten Klasse, mutig, feige, selbstsüchtig, aufopfernd, jeder handelte auf seine individuelle Weise in einer so furchteinflößenden Lage.

 

Aus dem Russischen von Edgar Seibel

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