Der Holocaust war kein Mysterium
Ist der Holocaust auch ein Ergebnis der christlichen Lehre? Darüber stritten und streiten Historiker und Theologen. (JR)
Das Neue Testament stellte die Juden als verfluchtes Volk hin, dem eine außergewöhnliche Bestrafung zugedacht war. Die Zerstörung des Tempels (70 n.u.Z.) galt als Erfüllung dieses Fluches, und das spätere Exil der Juden (das in Wirklichkeit nicht vor der arabischen Eroberung im 7. Jahrhundert begann) wurde vordatiert und als weitere Erfüllung des Fluches betrachtet. Es war allerdings nicht das Neue Testament selbst, das die Juden zu einem Pariavolk machte, obwohl es die Bühne bereitete und alle Bedingungen für diese Entwicklung festschrieb. Die Juden wurden zum Pariavolk als Folge des Triumphs des Christentums im Römischen Reich nach dem Regierungsantritt Konstantins, der sie zum ersten Mal zu einem Volk von Untertanen in einem christlichen Reich machte. Auch dann dauerte es noch lange, bis sie zur Paria-Gruppe in einer christlichen Gesellschaft wurden. Das 11. Jahrhundert kann als Wendepunkt bestimmt werden, als die Juden allmählich von der breiten Masse dämonisiert wurden. Sie wurden zur geächteten Gruppe, ausgeschlossen vom gesellschaftlichen Umgang, von der Mischehe und von jedem ehrbaren Beruf.
Das Mittelalter dauerte am längsten für die Juden im zaristischen Russland, wo sie unter mittelalterlichen Bedingungen bis ins 19. Jahrhundert lebten. Die Kontinuität zwischen dem mittelalterlichen Paria-Status und dem modernen Antisemitismus kann man hier ganz deutlich sehen, wo die Abfassung der gefälschten „Protokolle der Weisen von Zion“, die Stütze und Bibel des modernen Antisemitismus, stattfand. Aber der größte Ausbruch von Antisemitismus fand nicht in Russland statt, sondern in Deutschland, wo die Kontinuität nicht ganz so stark ins Auge fällt und deshalb von allen geleugnet wurde, die den Antisemitismus von seinen christlichen Vorläufern loslösen möchten. In Deutschland wurden die Juden nicht in Ghettos zusammengepfercht, sondern waren in den höchsten Berufen vertreten: als Richter, Professoren, Naturwissenschaftler, Ärzte, Schriftsteller, Kritiker, Politiker. Sie erfreuten sich ihrer Freiheit und rühmten sich ihres deutschen Patriotismus. Aber hier wurden sie zusammengetrieben, in Lager im Osten geschickt und umgebracht. Unter Umständen, die an mittelalterliche Bilder von der Hölle erinnern.
Die deutsche Spielart des christlichen Judenhasses
Den Deutschen dafür allein die Schuld zu geben, bedeutet, der Verantwortung anderer Christen auszuweichen. Es ist wahr, dass Deutschland die Schande der schlimmsten Verfolgung von allen trägt, und dies ist eine Fortsetzung der besonders boshaften Färbung der deutschen Judenverfolgung im Mittelalter. In Deutschland war es, wo die ersten Massaker im Zusammenhang mit den Kreuzzügen stattfanden. In Deutschland hatten die Passionsspiele eine besonders sadistische Schärfe und die Darstellungen von Juden in Kunst und Karikatur eine brutale, obszöne Note. Trotzdem ist dies nur der deutsche Anstrich einer universellen christlichen Kampagne des Hasses. Die Maßnahmen der Nazis, die die demokratischen Bürgerrechte der Juden beschnitten, wiederholten in jeder Hinsicht die mittelalterlichen Verfügungen. Außerdem war die aktuelle Propaganda, mit der die Juden verleumdet wurden, einschließlich der Ritualmordlegende, direkt der mittelalterlichen Literatur und Luthers antisemitischen Schmähschriften entnommen. Angesichts dieser Kontinuität muss man wohl sagen, dass es um den Holocaust kein Geheimnis gab. Wenn ein Volk durch die Jahrhunderte ständiger Verleumdung und Dämonisierung ausgesetzt war, sodass ein allgemeiner Abscheu so tief eingeimpft wurde, um wie ein Instinkt zu funktionieren, kann es nicht überraschen, dass irgendwann eine Bewegung aufkommt, deren Ziel die Auslöschung dieses angeblichen Schädlings und Feindes der Menschheit ist. Wenn eine Nation eine demütigende Niederlage in einem großen Krieg erlitten hat und auch unter wirtschaftlicher Not leidet, ist es überhaupt nicht überraschend, dass ein Sündenbock in einer unbewaffneten Minderheitengruppe gefunden wird, die in den Köpfen der Menschen immer noch einen Paria-Status einnimmt.
Abkehr von der traditionellen christlichen Strategie?
Bezüglich der „Endlösung“ der Nazis muss eine Sache angesprochen werden, die anscheinend im Widerspruch zur Kontinuität des christlichen Mittelalters steht. Ich habe mehrfach die Tatsache hervorgehoben, dass die Juden ein notwendiges Element in der christlichen Religionsökonomie des Mittelalters waren und dass dies den Schutz der Juden vor dem Schicksal der Albigenser und anderer Ketzer erklärt, die vollständig ausgelöscht wurden. Bernhard von Clairvaux ist das führende Beispiel des christlichen Anliegens, die Juden vor der Vernichtung zu bewahren; wichtig war hier nicht nur das „Zeugnis“, das die Juden trugen, sondern auch der Glaube, dass die Wiederkunft Christi nicht ohne ihre Bekehrung stattfinden könne.
Hitlers Entscheidung, die Juden vollkommen zu vernichten, könnte also als Abkehr von der traditionellen christlichen Strategie gegenüber den Juden verstanden werden. In Wirklichkeit ist es jedoch keine vollständige Abkehr, denn das Drehbuch der „Endlösung“ war auch im Christentum vorhanden. Es findet sich in den endzeitlichen Bewegungen, die von Zeit zu Zeit aufkamen und die um die Idee vom „Antichristen“ kreisten, vor allem gestützt auf 2 Thessalonicher 2,3-12. Diese Lehre wurde zuerst von den Kirchenvätern ausgelegt. Die paulinische Passage wurde meist dahingehend gedeutet, dass zur Endzeit ein jüdischer Antichrist auftreten würde, der von den Juden als Messias betrachtet und eine mächtige jüdische Armee gegen die Streitkräfte des Christentums unter der Führung von Christus selbst anführen würde. Man glaubte auch, dieser Kampf würde zur völligen Vernichtung der Juden, Männer, Frauen und Kinder, durch die christlichen Streitkräfte führen. Also hatte Hitler in einem Strang der christlichen Tradition doch ein Vorbild für seine Vorstellung von der „Endlösung“. Tatsächlich war die endzeitliche Tradition besonders stark in Deutschland, wo Hitlers tönender Ausdruck vom „Tausendjährigen Reich“ einen endzeitlichen Widerhall hatte, der letztlich aus dem Neuen Testament (Offb 20,4-6) kam.
Mehrere Faktoren zusammen haben verhindert, dass die Offensichtlichkeit der Vorläufer des Holocausts allgemein akzeptiert wurde. Die meisten jüdischen Publizisten und Forscher haben sich gescheut, den Holocaust christlichen Lehren und gesellschaftlichen Regelungen zuzuschreiben. Bernard Levin zum Beispiel schreibt in Abständen über den Holocaust in The Times und seine Botschaft ist immer die gleiche: Der Holocaust ist ein unergründliches Geheimnis. Auf einer höheren Ebene haben jüdische Denker wie Elie Wiesel und Emil Fackenheim ebenfalls ein Geheimnis aus dem Holocaust gemacht, indem sie seine Ursache irgendeinem dunklen Element des Bösen im Universum zuordnen. Einige christliche Theologen haben in ihrem Eifer nach einer christlich-jüdischen Annäherung die Leiden der Juden im Holocaust als Echo der Kreuzigung gesehen, und einige Aussagen Elie Wiesels scheinen diese Deutung zu stützen. In diesem Geist versuchte eine Gruppe von Karmeliterinnen, einen Konvent auf dem Gelände von Auschwitz zu errichten und war erstaunt, auf jüdischen Widerstand zu stoßen, da ihnen niemand erklärt hatte, dass dieser aus der jüdischen Überzeugung kommt, der Holocaust sei ein Ergebnis der christlichen Lehre und nicht etwa ein Beweis für deren Wahrheit.
Die Unterdrückung der Juden war kein „Missverständnis“
Der Holocaust ist wahrhaftig ein Teil der Geschichte des Christentums, aber nicht in dem Sinn, den jene Christen beabsichtigten, die den Holocaust für die christliche Theologie vereinnahmen wollen. Der Holocaust ist die schwerste Krise, der sich das Christentum jemals stellen musste, weitaus größer zum Beispiel als die Reformation. Die christliche Antwort auf den Holocaust wird über die Zukunft des Christentums – und ob es eine Zukunft hat – entscheiden. Die römisch-katholische Kirche hat seit dem II. Vatikanischen Konzil mutige Anstrengungen unternommen, ihre Lehre und Liturgie zu reformieren, aber leider ohne Verantwortung für die Vergangenheit zu übernehmen. Die ganze Unterdrückung der Juden im Mittelalter sei einem „verbreiteten Missverständnis“ geschuldet gewesen. Man darf in diesem Fall fragen, warum so viele herausragende christliche Kirchenmänner, von denen einige als Heilige kanonisiert wurden, die Unterdrückung förderten. Man muss auch darauf hinweisen, dass eine Religion nach ihren moralischen Auswirkungen zu beurteilen ist. Wie Jesus selbst sagte: „An ihren Früchten also werdet ihr sie erkennen“ (Mt 7,20). Wenn eine Religion, nachdem sie die Menschen über Jahrhunderte beharrlich belehrt hat, den Holocaust als ihr Endergebnis stehen hat, ist es aber zu einfach, die Sache auf die ungebildeten Massen zu schieben.
Der christliche Antisemitismus ist nicht die einzige Ausprägung des Antisemitismus, die es gibt, aber es ist diejenige, die den Holocaust hervorgebracht hat. Keine der anderen Arten (griechisch, römisch, gnostisch, muslimisch) drückte die Juden auf den Paria-Status hinab oder stattete sie mit dem gleichen Stigma, der gleichen Abscheu aus, wodurch sie Ausbrüchen allgemeiner oder obrigkeitlicher Gewalt ausgesetzt wurden. Das Niveau der christlichen antisemitischen Propaganda, ihre Bestätigung in sakralen Texten und die Länge der Zeit, über die sie verbreitet wurde, sind ohne Parallele. Angesichts dieser Geschichte ist es grotesk, Erstaunen über das Geschehen zu bekunden. Nur eine resolute Entscheidung, Geschichte zu ignorieren, kann der Grund für solches Erstaunen sein, und leider begünstigen neue Trends die „Theorie“ der Verdrängung der Geschichte.
Hat jede Generation ihren eigenen Antisemitismus?
Erklärungen des Antisemitismus gibt es zuhauf, aber sie bleiben in der Schwebe zwischen zwei Polen. Einerseits kann Antisemitismus als einmaliges und geheimnisvolles Phänomen betrachtet werden, für das keine rationale Erklärung vorgelegt werden kann. In dieser Ansicht können sämtliche Versuche, Ursachen entweder in gegenwärtigen oder in historischen Faktoren zu finden, bestenfalls nur unvollständige Erklärungen ergeben; insbesondere bleibt die Beständigkeit des Antisemitismus in allen Arten von unterschiedlichen historischen und geografischen Umständen unerklärlich. Diese Sicht des Antisemitismus als Geheimnis kann von Nicht-Gläubigen wie Bernard Levin vertreten werden, wird aber häufiger als Unterstützung einer religiösen Position vertreten, manchmal einer christlichen, aber manchmal auch einer jüdischen. Am anderen Extrem steht die Ansicht, dass Antisemitismus vollständig aus unmittelbaren Ursachen heraus zu erklären ist. Nach dieser Ansicht habe jede Generation ihren eigenen Antisemitismus, und es sei falsch zu versuchen, alle diese Antisemitismen zu einer zusammenhängenden historischen Kette zu verbinden; tatsächlich gebe es nicht so etwas wie Antisemitismus als historisches Phänomen, das die Jahrhunderte überspannt. Also hätten Ereignisse im Mittelalter keinerlei Bedeutung für antisemitische Äußerungen im 20. Jahrhundert. Antisemitismus sei im Grunde eine Form von Fremdenhass, eine Reaktion auf „den Anderen“ oder auf diejenigen, die nicht als zugehörig betrachtet werden. Da die Juden in irgendeiner Weise länger als alle anderen Fremde in der Gesellschaft geblieben seien, seien sie mehr Spielarten von Fremdenhass begegnet als andere, aber diese Spielarten müssten jeweils für sich behandelt und dürften nicht auf eine unzulässig metaphysische Art verknüpft werden. Das Studium des Antisemitismus bestehe aus der separaten Untersuchung von generationsmäßigen Antisemitismen, die jeweils in Bezug zu den soziologischen Zeitumständen analysiert würden.
Diese Theorie ist nicht falsch, aber mehr auch nicht; gewiss ist ein Bestandteil des Antisemitismus Fremdenhass oder Reaktion auf das Fremdartige. Aber das als die vollständige Antwort auf das Problem vorzutragen ist oberflächlich, weil es nicht erklärt, warum der Jude in der christlichen Gesellschaft immer ein Fremder bleibt, mag er sich noch so sehr um Assimilation bemühen, sogar so weit, dass er Christ wird. Mein eigener Standpunkt verwirft beide oben genannte Standpunkte. Antisemitismus ist nicht einmalig oder geheimnisvoll, denn er enthält Elemente, die sich alle anderswo finden, wenn auch nicht in Kombination.
Während ich die Ähnlichkeit des Antisemitismus mit vielen anderen gesellschaftlichen Äußerungen in anderen Kulturen einräume, verwerfe ich das andere Extrem, den Antisemitismus mit lokalen soziologischen Faktoren zu erklären, unterschiedlich in verschiedenen Gesellschaften, so dass die Einheit des Antisemitismus als historisches Phänomen zerstört wird. Dies ist eine oberflächliche Herangehensweise, die den historischen Sachverhalt zerstückelt und verfehlt, den Antisemitismus als ein viele Jahrhunderte umfassendes Phänomen zu betrachten. Eine solche Herangehensweise bietet keine Hoffnung auf irgendeine grundlegende Lösung des Problems des Antisemitismus, weil es das Problem als eine Hydra zurücklässt, deren Köpfe man nach und nach abhacken kann, der aber ständig neue Köpfe nachwachsen. Während ich zustimme, dass es mehrere Arten von Antisemitismus gibt, bestehe ich darauf, dass der christliche Antisemitismus der bei weitem wichtigste in seinen historischen Folgen samt dem Holocaust ist. Während der islamische Antisemitismus keineswegs unbedeutend ist und in jüngerer Zeit wegen der Staatsgründung Israels noch wichtiger geworden ist, hat er keinen Holocaust auf dem Gewissen.
Ein neues Feindbild
Die historischen Umstände, unter denen die Spaltung zwischen Judentum und Christentum stattfand, sind wichtig, um zu erklären, wie das Christentum dazu kam, die Juden zu dämonisieren. Das Bedürfnis des Heidenchristentums, von Paulus zu einer unpolitischen jenseitigen Religion der Erlösung bekehrt, bestand darin, seine Bande zum Judentum zu zerschneiden und sich den Römern als unverbunden mit jüdischem Nationalismus und Unabhängigkeitsstreben darzustellen. Folglich wurde die Rolle des Feindes (immer noch vom jüdischen „Christentum“ an den Römern festgemacht) auf die Juden übertragen, aber in einer ins Unermessliche gesteigerten Form, da der Feind nicht mehr politisch war, sondern kosmisch, und Satan in seiner Gegnerschaft gegen den göttlichen Erlösungsplan half. Noch unheimlicher war der Schwindel, durch den gerade die Anstrengungen der Juden und Satans, die Erlösung zu verhindern, dazu dienten, diese herbeizuführen. Die Gesamtwirkung der Verschmelzung von auf Opferung beruhender Erlösungsreligion und politischer Selbstentschuldigung war, die Juden in ein verfluchtes Volk zu verwandeln, durch ihre ganze Geschichte der Rolle des archetypischen Verräters geweiht. Dieses Gebräu war auch nützlich für den Usurpationsmythos, da es erklärt, warum das Judentum durch das Christentum als das wahre Israel ersetzt werden musste. Somit war die Bühne bereitet für die Zeit, da die Juden Europas schutzlos dem triumphierenden Christentum ausgeliefert sein würden, welches sie in eine Kaste von Sklaven verwandeln, ihnen entehrende Aufgaben aufbürden und sie schließlich soweit dämonisieren würde, dass Massaker auf Massaker unvermeidlich wurde und im Holocaust gipfelte.
Dieser Artikel ist ein gekürzter Auszug aus dem Buch „Ein Pariavolk“, Hentrich&Hentrich, 2019, herausgegeben von Peter Gorenflos
Ein Pariavolk: Zur Anthropologie des Antisemitismus : Gorenflos, Peter, Maccoby, Hyam, Müller, Wolfdietrich: Amazon.de: Books
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