Chilly Gonzales – ein exzentrisches Genie

Der kanadische jüdische Piano-Virtuose erfindet die klassische Musik neu

Von Nataliya Indikova

Ein gemütlicher Saal auf dem Montreux Jazz Festivals im Jahr 2017. Ein stattlicher Mann sitzt am Flügel und bespaßt mit einer kurzen komödiantischen Einlage aus Englisch und Französisch das Publikum. Für einen Moment ist es ganz still. Plötzlich, voller Elan und Hingabe bespielt Chilly Gonzales gekonnt die Tasten seines Flügels – und nimmt sich selbst und das Publikum auf einen komplexen, zauberhaften Spaziergang durch die Welt seiner eigenen komponierten Melodien. Das Publikum ist wie in Trance, keiner bewegt sich; später wird fröhlich geklatscht und gegrölt. Der Auftritt ist mit über 412.000 Aufrufen wohl eines der beliebtesten und bekanntesten Musikstücke des Künstlers. Doch bei Weitem nicht das einzige Stück, dass Begeisterung auslöst.

Der Enthusiasmus für das musische Schaffen ist bei Chilly Gonzales, der mit bürgerlichen Namen Jason Beck heißt, nicht zu übersehen, sondern so stark, dass der Musiker schon in den frühen 2000-er Jahren verkündet, ein Genie zu sein. Arroganz ist es wohl kaum, die ihn dazu verleitet; schon eher seine humorvolle und spielvolle Art, die sich auch in seinen Rap-Texten widerspiegelt. In der Tat kann sich das Oevre des Wahl-Köllners sehen lassen: Zwanzig Alben, ein Eintrag in das Guinness Book of Records für das bis dato längste Solo-Konzert mit über 200 verschiedenen Songs auf 27 Stunden 3 Minuten und 44 Sekunden in Paris, ein Buch über die Irische Sängerin Enya und Zusammenarbeit mit Weltstars wie Daft Punk, Drake, Jarvis Cocker und Feist, um nur einige seiner wichtigsten Errungenschaften zu nennen.

Eine schillernde Biografie, die durch Liebe zur Musik, Selbstexpression, Meisterhaftigkeit und eine Prise Leichtigkeit und Albernheit geprägt ist.

2018 gründet Gonzales „The Gonzervatory“, eine Musikschule auf Zeit, die jungen Talenten die Chance gibt, ihr Können im Rahmen eines Performance Workshops in Paris und Köln zur Schau zu stellen. Pünktlich zu Weihnachten 2020 veröffentlichte Gonzales sein Album „A Very Chilly Christmas“ – seine eigene, lustvolle, eklektische Interpretation der Weihnachtsklassiker von „O Tannenbaum“ (mit Wurzeln im 16. Jahrhundert) bis zu Mariah Careys’ allseits beliebten Radio Hit von 1994 „All I want For Christmas Is You.“ Im Sommer 2021 erscheint die kraftvolle Single „Music is back“ und animiert mit Zeilen wie „Music is back and I am jacked with this battery pack strapped to my back and that ass just has to be slapped.“

 

Europa als Wiege seiner jüdischen Wurzeln

Während Chilly Gonzales seinen Traum von musikalischer Erfüllung in Europa lebt, war das Leben für die Familie Beck auf diesem Kontinent nicht immer einfach. Sein Großvater sah sich gezwungen, seine Heimat Ungarn in den 1940ern zu verlassen, um seine jüdische Familie vor dem Tod durch die Nationalsozialisten zu retten. In Kanada hat sich der Vater von Gonzales als erfolgreicher Bauunternehmer etabliert, während Chilly und sein Bruder, der nicht minder begabte Filmkomponist Christophe Beck, Klavierunterricht vom Opa selbst erhielten. Die Familie lebt nicht besonders religiös - der 49-jährige Gonzales hatte bis heute keine Bar Mitzwa - dennoch sind jüdische Figuren in seinem Leben mehr als präsent. Groucho Marx und Woody Allen flattern auf den Bildschirm in der Kindheit und Jugend. Später schreibt er den Song „Making A Jew Cry“, welcher beim Label Warner Brothers auf wenig Verständnis stößt.

Das Eintauchen in die Welt der klassischen, europäischen Komponisten erlebte Gonzales sowohl als Pflicht, aber auch etwas, wozu er eine natürliche, außerordentliche Begabung hatte. Obwohl Europa zeitweise kein sicherer Ort für die Familie war, war es dennoch ein Raum der Sehnsucht, geschichtsträchtig und zukunftweisend zugleich.

Dass Chilly Gonzales bereits seit den 1990er Jahren in Europa lebt ist daher kein Zufall. Nach dem Studium vom Klassischen Piano an der McGill Universität in Montreal, versucht er sein Glück in der Musikszene von Toronto, wo er trotz zwei Alben - Thriller und Wolfstein – mit seiner Indie Band „Son“ keine Befriedigung findet. Es zieht ihn zuerst nach Paris, anschließend nach Berlin und Köln, wo er nach und nach zur der schillernden Kunstfigur heranwächst, die er heute ist.

Tatsächlich entsteht die Persona Chilly Gonzales in Berlin 1999, in einer Stadt, die auch nach fast einer Dekade nach dem Mauerfall zum Experimentieren einlädt. Die Hauptstadt bietet Raum für Introspektion – anfangs weiß Gonzales weder was andere Musiker tun noch was sie sagen. So kann der Musiker zu sich, seinen eigenen musikalischen Vorstellungen und Stil finden: „Ich habe all meine Neugierde auf mich selbst gelenkt und plötzlich hatte ich was zu sagen und mir wurde zugehört. Das war eine großartige Offenbarung!“

Ab März 2022 tourt Chilly Gonzales durch Deutschland, Österreich und der Schweiz und leitet seine Performance Workshops in The Gonzervatory zu den Themen Musikalischer Humanismus, Psychologie des Publikums und was es heißt, heutzutage ein performender Musiker zu sein.

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