120 Jahre AltNeuLand

Im Vorfeld der noch im gleichen Jahrhundert nach dem 2. Weltkrieg vollzogenen Staatsgründung Israels erschien 1902 Theodor Herzls utopischer Roman „AltNeuLand“ als letztes Werk vor seinem Tod (Teil II) (JR)

Theodor Herzl (vor 1900)© WIKIPEDIA

Von Simone Schermannn

Fortsetzung von Teil I aus der Januarausgabe: Der detaillierte Bericht von der Wahlkampagne schildert den Wettbewerb zwischen der Liberalen Partei und der rassistischen Ideologie der Partei des jüdischen Dr. Geyers. Letzterer entpuppt sich für den Leser als eine Mischung zweier Zeitgenossen Herzls, die beide seine Widersacher waren: Dem Wiener Rabbiner Moritz Güdemann, der den Zionismus für seine Schäfchen strikt ablehnte und dem antisemitischen Wiener Bürgermeister Karl Lueger.

Die wahre Utopie bestand damals wie heute darin, die deutschsprachigen Diaspora-Juden aus ihrem selbst gewählten Ghetto, also aus den Fesseln der Assimilation und der grenzenlosen staatstragenden Hörigkeit zu befreien, wofür sie der freiwilligen Aufgabe ihrer jüdischen Identität und vor allem ihres jüdisches Stolzes zustimmten, ohne wirklich bei den Herrschenden Akzeptanz zu finden.

AltNeuLand ist einer der bemerkenswertesten Romane des 20. Jahrhunderts, wegen seiner beispiellosen außerliterarischen Wirkung.

Herzl sah es als seine Verpflichtung an, sein literarisches Schaffen in den Dienst der zionistischen Bewegung zu stellen, sodass sein utopisch anmutender Entwurf eines perfekten Judenstaates eigentlich auf die Wiederherstellung der jüdischen Ehre in einem jüdisch-nationalen Staat abzielte, der sogar alle Mitglieder von den modernen ökonomischen und sozialen Maßnahmen profitieren lassen wollte.

Herzl sah den Roman, den er für sein Meisterwerk hielt, als Überzeugungsschrift an und als dieser engagierte Autor zählt er zu den erfolgreichsten und wirkungsmächtigsten Schriftstellern überhaupt. „Der Judenstaat“ und „AltNeuLand“ begründeten, wie kaum andere Bücher, zuerst einen Traum, um dann eine Hoffnung und schließlich einen Mythos entstehen zu lassen, auf dem viel von der damaligen und der heutigen Wirklichkeit beruht.

Natürlich weißt die Gesellschaft von AltNeuland Mängel auf und ist nicht vollkommen, was Herzl mit der Figur Geyers verdeutlicht, einem jüdischen Rassisten, den er daher fulminant scheitern lässt. Der Rassenhass aus Europa sollte im Land der Juden keine Chance haben. Eine liberale und egalitäre jüdische Gesellschaft, die keine Unterschiede hinsichtlich Religion und ethnsicher Herkunft kennt war Herzls Traum. Diesen fundamentalen Unterschied zwischen Wien (Europa) und seiner Vision hervorzuheben galt der Roman.

Das Scheitern Wiens war Zions Sieg, denn Wien war der gescheiterte Weg der europäischen, angepassten Nathan-Juden, Zion und der Zionismus aber bedeutete die endgültige Befreiung der Juden aus dem selbst gewählten Ghetto; aber auch für die Araber sollte es befreiend wirken.

Diesen Pluralismus und Multikulturalismus betont Herzl im Zusammenhang mit seiner Seder-Feier am Vorabend von Pessach in Tiberias, an der alle Protagonisten der Geschichte teilnehmen: Die Littwaks, beide Reisende, der befreundete Araber Reschid Bey und Christen verschiedener Konfessionen. Tiberias, am See Genezareth gelegen, wird als internationales Touristenzentrum beschrieben, wo auch stattliche Moscheen, Kirchen und prachtvolle Synagogen dargestellt werden.

Der schmale Grat zwischen säkularen Werten und religiöser Tradition

Zur Liturgie der Feier gehört die Erzählung vom Auszug aus Ägypten, aber alle Teilnehmer am Fest erzählen auch ihre persönlichen Geschichten. So ist die Seder-Feier modern und verbindet traditionelle Riten mit Geschichten vom neuen Exodus. Herzl begibt sich hier auf einen schmalen Grat zwischen säkularen Werten und religiöser Tradition, auf den ihm wohl weder orthodoxe Juden noch Atheisten gefolgt wären. Aber sein Ziel war die Schaffung eines neuen jüdischen Gemeinwesens, in dem Alt und Neu miteinander verwoben werden könnten – AltNeuLand. Den Höhepunkt erreicht die Szenerie als Friedrich Löwenberg Heinrich Heines Gedicht Prinzessin Sabbat an einem Freitagabend in Jerusalem hört.

Der einst entwurzelte Friedrich, der aus tiefster Verzweiflung den Beschluss fasste, seine extreme Heimatlosigkeit dadurch zu komplettieren, dass er der Welt gänzlich den Rücken kehrte, wird nun Mitglied der jüdischen Gemeinschaft. Ehedem desillusioniert und des Lebens überdrüssig erhielt er in der utopischen Tour durch ein futuristisches Palästina eine zweite Chance; weg von der gescheiterten Emanzipation des Jahres 1902 hin zu einem empathischen Bekenntnis zu einem jüdischen Gemeinwesen in der Utopie des Jahres 1923. Eine Entdeckungsreise mit Happy End, eine Abenteurerreise, mit der europäischen Assimilation als Auslaufmodell, die Friedrich beim Anker lichten vollends hinter sich gelassen hat.

 

Israel übertrifft die Utopie

Das praktisch aus dem Nichts aufgebaute heutige Israel, hätte Theodor Herzl sicher enthusiastisch begeistert, in all seiner Unvollkommenheit, seiner prachtvollen Mischung aus Orient und Moderne, in seiner ethnischen und religiösen Vielfältigkeit – also seiner Menschlichkeit.

Israels innovative Technologien, Israel als Start-Up-Nation, hätte den Bewunderer der Weltausstellung von 1900 sicher beeindruckt, auch wenn keine elektrifizierten Palmen zum Einsatz kamen und stattdessen die Erfindungen des USB-Stick bis hin zur Cherry-Tomate erfolgten. Sein Roman beschrieb neue Bewässerungsmethoden, die auf den Golanhöhen eingesetzt würden. Israel ist sogar noch innovativer und lässt mit Entsalzungsanlagen Meerwasser zu Trinkwasser werden und ist Hightech-Standort in den Bereichen Medizintechnik, autonomes Fahren oder Cybersicherheit.

Wie in Herzls Roman angedeutet, müssen alle Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft ihre Lebenszeit zwischen dem achtzehnten und zwanzigsten Lebensjahr dem Gemeinwohl widmen. Junge Männer und Frauen müssen in Israels Realität zur Armee. Anders als es Herzl gedachte hatte, gilt dieser Dienst dem Überlebenskampf des Staates Israel.

Herzl wäre heute sicher ein Technik-Freak, denn er war von Wissenschaft und Futurismus begeistert. Mit großer Wahrscheinlichkeit wäre er von iPhones ebenso fasziniert wie er es zu Lebzeiten von Luftschiffen und den Attraktionen der Pariser Weltausstellung gewesen war, von der er als Korrespondent berichtete. AltNeuLand ist ein Ort der Technisierung. Industrielle Landwirtschaft und elektrische Eisenbahnen waren bereits europäische Erfindungen, die lediglich im AltNeuLand des Jahres 1923 praktische und alltägliche Dinge geworden sind, wodurch sich AltNeuLand von den meisten utopischen Romanen unterscheidet.

So überwindet Herzl mit unterschiedlichen Mitteln die Utopie und zeigt auch an unserem Romanhelden den Weg aus dem Neuen Ghetto nach AltNeuLand. Aus dem rastlosen, heimatlosen Ahashver aus dem Wiener Salon wird eine neue Gesellschaft geformt.

Herzl entwirft einen utopischen Raum – eine utopische Moderne, die weder kapitalistisch noch sozialistisch organisiert ist. Ein Raum der weitgehend säkular und hochtechnisiert ist. Nicht nur hier verbindet Herzl darin Altes mit Neuem, Wissenschaft mit Glauben, Gleichberechtigung mit Solidarität, Juden und Araber, die ihr „gemeinsames Vaterland“ erblühen lassen. So betont Herzl Mal um Mal, dass nichts in seinem Roman wirklich neu war und es alle Elemente und Komponenten der neuen Gesellschaft schon gab. AltNeuLand ist ein realistischer, praktikabler Plan, der im irdischen Jerusalem Verwirklichung finden sollte; vor allem für die jüdische Nation.

Herzl ist mit seinem AltNeuLand -Projekt, dass aus dem Wiener Juristen, dem Dramatiker und Bühnenautor, ebenso wie aus dem Journalisten und Feuilletonisten, aber auch aus dem Vorsitzenden des Zionistenkongresses entsprungen war – also im literarischen und politischen Sinn – ein Realist gewesen.

Nirgends wird die Verbindung von Realismus und Phantastischem so deutlich wie in AltNeuLand, Herzls großem Lebensroman, den er im Oktober 1899 begann und den er im April 1902 vollendete. Am Israel Chai!

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