The Jazz Singer
Die gelungene Integration und Emanzipation der ersten Generation jüdischer Einwandererkinder aus Osteuropa und ihr prägender Einfluss auf die amerikanische Musik- und Filmkultur.
Filmplakat „The Jazz Singer“ aus dem Jahr 1927
Auf der Suche nach einer neuen Heimat, einer gesicherten wirtschaftlichen Existenz, einhergehend mit der Sehnsucht nach Freiheit und nach einem Leben ohne Angst vor Pogromen, welchen sie in ihrer alten Heimat ausgesetzt waren, strömten die Juden Osteuropas nach Amerika. Man kann von einer Massenauswanderung aus den ostjüdischen Shtetln nach Übersee sprechen, da allein zwischen 1881 und 1914 eine breite Welle von über zwei Millionen Immigranten die USA erreichte. Mehr als 60 % aus Russland und etwa 20% aus Österreich-Ungarn stammende Einwanderer, wählten so den Weg in die „gildene medine“- jiddisch für goldenes Land.
Die Juden Russlands waren im ausgehenden 19. Jahrhundert Verfolgungen ausgesetzt, die an Umfang und Grausamkeit alles, was bis dahin in der Neuzeit an Antisemitismus in Erscheinung getreten war, übertrafen. Die Hoffnungen auf den Reform-Zaren Alexander II. nahmen mit seiner Ermordung 1881 ein jähes Ende, als eine Pogromwelle über Russland hinwegfegte, die der Auftakt für eine systematische und staatlich gelenkte Judenverfolgung sein sollte.
Mit der Ankunft in der Neuen Welt wurden die Juden vor die große Herausforderung gestellt, sich entweder in die amerikanische Gesellschaft einzugliedern oder weiter in der mitgebrachten ostjüdischen Ghettowelt zu leben. Die Mehrheit wählte einen Mittelweg: Sie adaptierten die Lebensweise der amerikanischen Gesellschaft, gründeten aber auch zahlreiche Synagogen und amerikanisch-jüdische Landsmannschaften, die ein beträchtliches Maß an kulturellem, sozialem und religiösem Leben gewährleisteten.
Die jüdischen Einwanderer erreichten ein Amerika, das die enorme Migrationsbewegung aber auch dringend brauchte. Sie etablierten sich in der Schwer- und in der Textilindustrie, und viele stiegen bald in den wohlhabenderen Mittelstand auf. Ein Bereich, in dem die jüdischen Einwanderer im Gegensatz zu anderen Einwanderergruppen prozentual überdurchschnittlich erfolgreich waren, war das Gebiet der Dienstleistungen. Schaut man auf die großen Metropolen der Ostküste, so lag der Schwerpunkt ihrer Tätigkeit vorwiegend in der Versorgungs-, Bekleidungs-, vor allem aber in der Unterhaltungsindustrie.
Ein Film als Zeitzeuge
Die amerikanische Film- und Unterhaltungsbranche steckte noch in ihren Kinderschuhen, aber die amerikanische Gesellschaft befand sich aus mehrfacher Hinsicht am Ende des 19. Jahrhunderts im Umbruch. Hohe Zuwanderungsraten, zahlreiche technische Neuerungen wie elektrische Straßenbeleuchtung und öffentliche Verkehrsmittel ließen Metropolen mit Millionenbevölkerung entstehen. Unter der maßgeblichen Beteiligung der jüdischen Immigranten an der Entwicklung der amerikanischen Unterhaltungsindustrie entstanden Film- und Vaudevillevorführungen.
The Jazz Singer beginnt mit einer vertonten Kamerafahrt durch die Straßen der Lower East Side von New York: „It is a typical East Side business street at the height of day’s activities, a street that is lined with pushcarts, sidewalk vendors and little stores, with its milling shoppers, its petty marketing arguments, its unkempt kids playing in the streets heedless of consequence…“
Im Untertitel: „The New York ghetto, the daily life of which throbs to the rhythm of music that is as old as civilization.“
Wir machen Bekanntschaft mit der neuen-alten Welt. Das Ghetto des Ostens wurde in die USA verlagert, die Menschen, „the ghetto folks“ fühlen sich zwischen den Marktständen und jüdischen Straßenhändlern wie zu Hause. Die Kinder laufen verwahrlost auf der Straße herum, aber das Leben pulsiert im Rhythmus des Jazz. Im Gegensatz zum Film, der einen fast romantisierenden Blick auf das Leben in diesem Stadtteil wirft, sah die Realität auf den Straßen der Lower East Side ganz anders aus. Sie war Sammelpunkt sozialer Randgruppen, vor allem der schwarzen Bevölkerung und der Masse von mittellosen europäischen Einwanderern, die vornehmlich aus Irland, Deutschland und Italien stammten. Betrachtete man das jüdische Leben in diesem Ghetto, wie die Menschen es auch selbst nannten, so hätte man annehmen können, dass die Immigranten Kultur und Traditionen des ostjüdischen Schtetls aus der alten Heimat transferiert hatten und sie an diesem neuen Ort weiterpflegten. Zwar bestanden die Juden, wie alle anderen Einwanderergruppen, auf eine Abgrenzung, um so ihre jüdische Identität nicht zu verlieren. Im Gegensatz zu anderen Ethnien akzeptierten sie aber weitaus schneller und zahlreicher, dass das Beibehalten zu vieler „veralteter“ Traditionen, ein beträchtliches Hindernis auf dem Weg aus der sozialen Not darstellen konnte.
Die facettenreichen Möglichkeiten, sich künstlerisch auszudrücken, wurden in einem überragenden Maße von jüdischen Einwanderern und ihren Kindern genutzt. Sie ergriffen die Chancen, die ihnen die boomende Film- und Unterhaltungsindustrie ermöglichte: Vom Vaudeville-Sänger über den klassischen Musiker bis hin zum Dirigenten, Komponisten, Drehbuchautoren; in jeder Sparte waren Juden namhaft vertreten.
Diese schlummernden Talente schienen auf eigentümliche Weise Teil ihrer mitgebrachten Identität zu sein. Denn allen voran waren es die jüdischen Einwanderer aus Osteuropa, die den „American dream“ als Schriftsteller und Schauspieler, Produzenten und Regisseure regelrecht visualisierten und der Unterhaltungsindustrie damit ihren ganz eigenen Stempel aufdrückten.
Meilenstein in der Filmgeschichte
Unter diesen Bedingungen entstand 1927 in den Warner Brother Studios der erste Tonfilm: The Jazz Singer, ein von den Produzenten Jack Warner und Alfred Cohn verändertes Broadway-Bühnenstück, geschrieben von Samson Raphaelson, der 1896 in der „Jewish community“ von New York City's Lower East Side geboren und aufgewachsen war. Er wurde einer der populärsten Drehbuchautoren seiner Zeit, und The Jazz Singer basiert auf seinem Bühnenstück The Day of Atonement.
The Jazz Singer kann als Meilenstein beim Übergang vom Stumm- zum Tonfilm gesehen werden, da er dem Tonfilm endgültig zum Durchbruch verhalf. Da der Film nur zum Teil vertont wurde, handelt es sich um einen sogenannten „part-talkie“ -Film, in dem das expressive Spiel der Figuren und der Einsatz von Zwischentiteln nach wie vor an den Stummfilm erinnert. Er gilt als erster Tonfilm und ist als erstes Film-Musical mit seiner hybriden Form aus Stumm- und Tonfilmelementen ein wichtiges Zeugnis seiner Zeit.
Es ist bemerkenswert, dass gerade der erste amerikanische Tonfilm die Problematik osteuropäischer Einwandererfamilien in Amerika thematisiert und eine neue und individuelle Taktik nutzte, mit gewissen Tönen gezielt bestimmte Bilder zu untermalen. Die Geschichte erzählt von dem jüdischen Jungen, Jackie Rabinowitz, der seine Stimme als Jazzsänger erklingen lässt, dabei aber auf großen Widerstand in der alten Generation stößt.
Schon früh kollidieren im Film die Vorstellungen von Vater und Sohn über die Zukunft von „Jackie.“ Der betagte Kantor plant die Zukunft seines Sohnes als Nachfolger: als Vorbeter und Kantor der Synagoge. Jackie möchte als Sänger auf den Bühnen der Varietés und Theater auftreten. Während er die Generation repräsentiert, die Karriere und Persönlichkeitsentfaltung anstrebt, stellt der Vater jene Generation dar, welche den Überlieferungen und Bräuchen folgt. Diese alte Welt, in der sein Lebensweg bereits vorgezeichnet wäre, kommt für Jackie nicht mehr infrage. Für den Vater hingegen ist die orthodox-religiöse Lebensweise die einzig vorstellbare Daseinsform, bestehend aus strikten Regeln, die dem ostjüdischen Schtetl entstammen. Jackies Traum, nun als Amerikaner leben zu wollen, erscheint seinem Vater regelrecht als Häresie.
Der Sohn verweigert nicht nur das traditionelle Talmudstudium, die Bildungsform, die das allerhöchste Gut im Judentum darstellt. Er bricht auch mit den alten Familienstrukturen, um sich stattdessen der weltlichen Musik von New Yorks Straßen zu widmen, schwänzt den Gesangsunterricht im jüdischen Chor und singt lieber für Geld in einer Bar, anstatt in der Synagoge am Abend des Jom Kippur das Kol Nidre zu singen.
Sein Aufbegehren gleicht einer Rebellion: „But Papa, I don’t want to be no cantor. I want to be a singer in a theater.“ Die Reaktion des Vaters ist gewaltig: „I will teach him he shall never again use his voice for such low things.“
Am höchsten Feiertag der Juden, dem jüdischen Versöhnungsfest, dem Jom Kippur, entzweien sich Vater und Sohn und Jackie startet seine Karriere als Jazzsänger. Der Jazz steht symbolisch für ein Aufbegehren gegen das traditionell-orthodoxe Leben der Eltern, also dem „mitgebrachten Ghetto“.
Ablösen von der alten Welt
Der Film beschreibt das Motiv des „Ghettoausreißers“, das in der Literatur deutschsprachiger Autoren ostjüdischen Ursprungs aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und auch in den Werken von Alexander Granach „Da geht ein Mensch“ oder Karl Emil Franzos „Der Pojaz“ thematisiert wird. Exemplarisch stehen diese Romane dafür, dass Auswanderung und Assimilation immer mit einer Ablösung von den traditionellen Werten der Heimat einhergehen, gleichzeitig aber die Aussicht auf bessere soziale Verhältnisse und beruflichen Erfolg eröffnet.
Das Zurücklassen der Heimat, also die physisch-geographische Ablösung von der überlieferten alten Welt, führt zur teilweisen oder vollständigen geistigen Loslösung vom jüdischen Glauben in seiner traditionellen Form. Der Assimilationsprozess bedeutete, neben sprachlicher und kultureller Adaption, auch das Stillen von Wissensdrang, Bildungshunger und des schlichten Drangs nach Erkenntnis. Endlich nicht nur religiöses Wissen anzuhäufen, sondern sich auch „profanes Wissen“ und weltliche Bildung zu erlangen, war die neue Maxime der neuen Welt. Das bemerkenswerte bei den Karrieren der „Ghettoausreißer“ in den Romanen von Granach und Franzos ist, dass es sich bei ihnen wie auch im Film The Jazz Singer um einen Assimilationsprozess im Künstlermilieu handelt.
Hauptdarsteller Al Jolson
Der Hauptdarsteller, Al Jolson, und der Produzent, Jack Warner, verliehen dem Film autobiographische Züge. Wie im Film lebten im wahren Leben deren Väter zurückgezogen in ihrer Welt der strengen orthodoxen Lehren und Traditionen. Die Söhne hingegen assimilierten sich, kehrten diesem Judentum den Rücken und wurden Filmproduzenten, Sänger, Entertainer und Filmstars. Was all diese „Ghettoausreißer“ vereint, ist die Künstlerthematik, denn sie bewerkstelligen ihre Assimilation innerhalb des Künstlermilieus.
Der Ausbruch aus der Enge des altehrwürdigen Shtetl fand in der Künstlerthematik eine bis dahin ungekannte expressive Form. Die lang ersehnte grenzenlose Freiheit Amerikas führte zu ebenso grenzenlosen Verschiebungen und zur allmählichen Auflösung der ostjüdischen Lebenswelt: Sie bekam Risse, wenn sie sich nicht sogar in einem gewissen Prozess der Auflösung befand. Die Kinder waren dem Ghetto endgültig entflohen, für die Welt ihrer Eltern aber waren sie verloren: sie hatten sie an die Neue Welt verloren.
Jackies` Mutter bleibt das nicht verborgen: „Jakie is a good boy, Papa – but maybe he shouldn’t be a cantor.“
Während der Vater dem Idealbild des Gelehrten nachtrauert: „He knows all the songs and prayers even now so good as I do. He could take my place yet tonight and sing, Kol Nidreʻ when Yom Kippur begins.”
Wissend, dass ihr Mann die Realität verkennt, antwortet sie: „He has it all in his head, yes, but it is not in his heart. He is of America.”
Das Spiel mit Ton und Stille
Neben dem Spagat zwischen religiös-traditioneller und amerikanischer Lebensweise in ostjüdischen Einwandererfamilien, will der Film auch erstmals Töne zu Bildern erklingen lassen. Besonders deutlich wird das ästhetische Vorgehen beim Übergang zwischen Stumm- und Tonfilmelementen in der Szene, als der verlorene Sohn nach Hause kommt und die grundverschiedenen Lebensweisen aufeinandertreffen.
Das Gespräch zwischen Jackie und seiner Mutter ist zunächst stumm und wird mit Zwischentiteln sowie durch Mimik und Gestik der beiden Darsteller präsentiert. Doch als Jackie beginnt, seiner Mutter am Klavier das Lied Blue Skies vorzusingen, verstummt die Hintergrundmusik abrupt und plötzlich erklingen Gesang und das Klavierspiel. Auch das danach folgende Gespräch bleibt hörbar. Als Jackie wieder singt, wird er urplötzlich durch einen lauten Schrei seines Vaters unterbrochen, der unbemerkt das Zimmer betreten hatte. Stille kehrt ein, es ist absolut nichts mehr zu hören, keine Begleitmusik, alles wird ausgeblendet. Dem zunächst harten Einstieg zum Tonfilm folgt damit ein genauso heftiger Wechsel zurück zum Stummfilm.
Der Streit zwischen Vater und Sohn wird nun lautlos und mit expressiven Gesten und Zwischentiteln visualisiert. „Stop“ bleibt das einzige Wort, dass der Vater im gesamten Film spricht. Erst ein paar Sekunden später, die wie eine Ewigkeit erscheinen, setzt die Begleitmusik wieder ein.
The Jazz Singer setzt mit dem Vater-Sohn-Konflikt Tradition in Opposition zur Moderne, den jüdischen Gesang eines Kantors als Gegenpol zum Jazz, und stellt letztendlich das religiöse Leben im Ghetto gegen das Show-Business.
Der Film ist, durch das Schwenken zwischen stummen und tönenden Bildern der neuen Tonfilm-Ära gewidmet und thematisiert parallel die Diskrepanz zweier menschlichen Lebenswelten, die ebenso unvereinbar scheinen. Es kollidieren Pflichtbewusstsein und Tradition mit dem Drang nach Verwirklichung eines neuen Lebenstraums.
Im Film kann „Jackie“ auf keines seiner Talente verzichten und in Hollywoods Traumfabrik muss er das auch nicht. Er verbindet Herkunft und Karriere, Erbe und Begabung miteinander und singt zur Freude der Gemeinde am Jom Kippur das Kol Nidre in der Synagoge.
Jackie Rabinowitz ist ein Jazzsänger, der zu seinem Gott singt, und ein Kantor der auch Jazz singt. Er dient Gott auch dann mit seiner Stimme, wenn er sie einem weltlichen Publikum widmet und sie im Takt des Jazz erklingen lässt. Gerade in seiner Stimme vereint er beide Welten, was auch seine Freundin Mary merkt: „Du singst Jazz, aber es ist anders. Es ist eine Träne darin.“
Jüdisches Erbe und Gabe verschmelzen untrennbar, als Jackie seine Liebe zum Jazz verwirklicht ohne das kulturelle Erbe, die alte Gabe zu verleugnen.
Als am 6. Oktober 1927 der Film in die amerikanischen Kinos kam, hatten seine Macher als Datum für die Premiere den Abend vor Jom Kippur gewählt. Auch der Film beginnt und endet mit diesem Tag. Entzweien sich Vater und Sohn noch zu Beginn, so finden sie am Jom Kippur, zur feierlichen Einleitung dieses Feiertages, nämlich zur Liedrezitation des Kol Nidre, wieder zueinander.
Jackies Träume kollidierten mit der Realität und viele Juden waren in einem Zwiespalt zwischen dem alten und dem neuen Leben gefangen, da sie zwar das Judentum ins Showgeschäft bringen konnten, aber nicht das Showgeschäft in das Judentum.
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