„Leopold Tyrmand – Filip“ – Mit Chuzpe durch den Naziterror

Der polnisch-jüdische Autor Leopold Tyrmand beschreibt in seinem autobiographischen Roman „Filip“, wie er als französischer Kellner im Pariser Parkhotel getarnt, mit gefälschten Papieren, Geschick und einer gewaltigen Portion Chuzpe die Nazi-Zeit überlebte.

Von Filip Gašpar

Wohin geht man 1943 als polnischer Jude um die Schreckensherrschaft der Nazis zu überleben? Richtig, nach Frankfurt am Main, wo man sich als in Polen geborener Franzose ausgibt und im Frankfurter Parkhotel als Kellner seinen (Über)Lebensunterhalt verdient. Diesen genialen Plot könnte man problemlos dem mit einer Israelin verheirateten Regisseur Quentin Tarantino (JR 2 (66) 2020) zuschreiben, doch haben wir diese Geschichte jemand anderem zu verdanken. Und zwar dem in Deutschland relativ unbekannten polnisch-jüdischen Schriftsteller Leopold Tyrmand, der seine Erlebnisse während des zweiten Weltkriegs in seinem mit autobiographischen Motiven versehenen Roman „Filip“ gepackt hat. Der 1961 in Polen nach Überwindung vieler Hindernisse erschiene Roman liegt nach über 60 Jahren seit letztem Jahr, Dank der Übersetzung von Peter Oliver Loew, nun auch endlich auf Deutsch vor.

Tyrmand erblickte 1920 in Warschau das Licht der Welt und war das einzige Kind des Lederhändlers Mieczysław und Maryla, geborene Oliwenstein, die in Künstlerkreisen verkehrte. Der junge Gymnasiast Leopold fing an sich für Politik, Literatur und Sport zu interessieren und eckte in jungen Jahren mit der katholisch geprägten nationalen Gesinnung in Polen an. In späteren Lebensjahren sollte er seine Faszination für den Katholizismus und den Konservatismus entdecken. Nachdem er das Abitur abgelegt hatte, verschlug es ihn nach Paris, wo er sich an der dortigen Akademie der Künste einschrieb. Auch seine Leidenschaft für den amerikanischen Jazz entflammte hier, und auch sein Berufswunsch Architekt zu werden. Doch ausgerechnet der schweizerisch-französischer Star der Architektur und Koryphäe auf dem Gebiet „Le Corbusier“ bringen ihn davon ab. So entschließt er sich 1939 in seine Heimatstadt Warschau zurückzukehren.

Der hierzulande unbekannte Tyrmand avancierte vom einstigen Enfant terrible unter den polnischen Literaten zu einer ihrer größten Legenden. Der im amerikanischen Exil verstorbene Publizist und Schriftsteller erlebte in Polen ein Revival und gelangte zu neuen Ruhm.

Am 25. April 2019 hat das Unterhaus des polnischen Parlaments das Jahr 2020 offiziell zum „Leopold Tyrmand“ Jahr ausgerufen. 2020 hätte Tyrmand seinen 100. Geburtstag gefeiert. Als seinen bekanntesten Roman kann man den Krimi „Der Böse“ aus dem Jahre 1956 bezeichnen. Dem Leser wird neben einer spannenden Geschichte eine für damalige Verhältnisse neue Sichtweise auf das stalinistische Warschau geboten. Die literarischen Gesetze des Sozialistischen Realismus hätten verlangt, Warschau als Paradies des Proletariats nachzuzeichnen, doch Tyrmand machte stattdessen daraus ein Sammelbecken von Glücksrittern, Betrügern und auch Zuhältern. Dass die kommunistischen Machthaber ihm dies übelnehmen würden, war eine logische Konsequenz. Doch waren sie von Anfang an nicht gut auf ihn zu sprechen. Dieser Jude Tyrmand mit seiner offenen regimekritischen Haltung, der als ob die anderen Dinge nicht schon schlimm genug wären, auch noch eine Vorliebe für den bei den Kommunisten als „dekadent“ verpönten Jazz hatte. Stress mit der Autorität war somit vorprogrammiert und führte zu seinem Entschluss, 1966 das kommunistische Polen in Richtung USA zu verlassen.

„Filip“ ist auch Tyrmands letztes, vor seiner Ausreise veröffentlichte, Buch, das jedoch damals kaum Beachtung fand und erst mit seiner Neuausgabe 2010 den gebührenden Respekt erhielt. Die Handlung spielt sich im Sommer 1943 ab und ist wie weiter oben angedeutet alles andere als eine weitere typische Kriegsgeschichte.

 

Der schelmenhafte Held

Filip Vincel ist die 23-jährige und Titelgebende Hauptfigur, ein aus einer Polen stammender Jude, der sich mithilfe gefälschter Dokumente in Frankfurt als Franzose ausgibt. Diese gefälschten französischen Dokumente hat er sich im litauischen Wilna besorgt, wohin es ihn kurz nach Ausbruch des Krieges verschlagen hat. Mit den Papieren ausgestattet entschloss er sich dazu, sich einer Gruppe von Zwangsarbeitern anzuschließen und in die Höhle des Löwen, nämlich nach Deutschland, zu gehen.

Die Reise führt ihn zuerst in die Nähe von Mainz in ein Arbeitslager für den Eisenbahnbau. Sein Studium verhilft ihm zu einer privilegierten Tätigkeit als Dolmetscher. Er kann sich auch ein Einzelzimmer und minimal bessere Verpflegung leisten, währenddessen sich die anderen Arbeiter mit weit weniger „Luxus“ zufriedengeben müssen.

„Die Jungs zitterten vor Kälte im blassbraunen Morgengrauen, unausgeschlafen, mit leeren Bäuchen. Ich stand in der Mitte: auf der einen Seite die Kolonne, auf der anderen der Straßenmeister und der Schutzmann vom Dienst, zwischen ihnen ich, der aufpasste, dass niemandem ein Leid geschah.“

Filip ist ein Schelm und als solcher gelingt ihm ein weiterer Coup, als er eine Anstellung im vornehmen Frankfurter Parkhotel eine Anstellung als Kellner ergattert.

Seine Arbeitskollegen kommen aus verschiedenen Ländern. Da ist der charmante Italiener Savino, der Franzose Pierre, sein bester Freund der Niederländer Piet und auch Deutsche wie Leo und Jupp, die aus diversen Gründen nicht an die Front müssen. Zusammen bilden sie eine Schicksalsgemeinschaft, die den schrecklichen Krieg da draußen so gut wie möglich aus zu blendend versucht, wenn es da nicht den regelmäßigen Fliegeralarm gäbe. Aktionen à la Resistance im Kleinen sind das Entwenden von Weinen oder auch das schon fast genüsslich ritualisierte Spucken in den Kaffee des ihnen allen verhassten Hoteldirektors Eißlers.

„Zum Beispiel belustigte es uns, (…) in Herrn Eißlers Kaffee zu spucken. Das große Mysterium der Kaffeeverunreinigung fand um halb neun statt, pünktlich und täglich. Diese Regelmäßigkeit bestärkte uns in der Überzeugung von der Unverrückbarkeit des Universums und der Gesetzmäßigkeiten der Moral, trotz der Tonnen von TNT, die gerade rund um uns herum aus den Liberator- und Halifax-Bombern fielen. „Einen Kaffee für Herrn Eißler!“, riefen Pierre oder Savino, Leo, Jupp, Piotr, Vessely, Marcel, Abbelé oder ich, an der mit Blech ausgeschlagenen Küchentheke stehend, auf die wir ein Silbertablett mit einem silbernen Kaffeekännchen und einem kleineren Kännchen für die Sahne stellten. (…) Mit leichtem Schritt lief ich die Treppe nach oben und rief schon im Office, während ich unterwegs das Gedeck mitnahm (…): „Einen Kaffee für Herrn Eißler!“ Mit einem Fußtritt der Selbstzufriedenheit und der zeitlosen Gerechtigkeit öffnete ich sodann die Schwingtür des Office und begab mich (…) in den Frühstückssaal.“

Autobiographische Linien

Filip versucht das beste aus seiner Situation zu machen und ein sicheres und angenehmes Leben in Frankfurt zu verbringen. Dabei soll das Vergnügen nicht hintenanstehen. Dabei behilflich sind ihm sein blendendes Aussehen und natürlich, dass er fließend Deutsch und Französisch spricht. Ein besonderer Glücksfall ist es, dass Piet sein Bargeld mit ihm teilt, womit er die besten und angesagtesten Wirtschaften in Frankfurt aufsuchen kann. Und mit einem angeblichen Franzosen teilen die deutschen Frauen gerne ihr Bett, während der Ehemann an der Verwirklichung des 1.000 Jahre andauernden Reiches an der Front sein Leben riskiert. Er schafft es immer wieder in brenzlige und teils lebensgefährliche Situationen zu geraten, doch auch immer wieder seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen.

Tyrmand beschreibt diese Geschehnisse mit viel Witz und Ironie. Die Biografien von Leopold und seinem Alter Ego Filip sind in vielen Punkten ähnlich und das von beiden Erlebte ebenfalls. Bloß dass es bei Tyrmand noch um etliches schlimmer abgelaufen ist. Das Ende des zweiten Weltkriegs „erlebte“ er im Konzentrationslager Grini in der norwegischen Gemeinde Bærum. Doch er hatte noch so einiges auf dem Kerbholz. Nachgewiesene Kontakte zum polnischen Widerstand, dass schließlich das NKWD (Innenministerium der UdSSR) auf den Plan rief, das ihn verhaften und in ein Gulag werfen ließ. Der Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion 1941 ermöglichte ihm die Flucht. Auch Tyrmand schlug sich mit gefälschten Dokumenten nach Deutschland durch, lebte von der Tätigkeit als Kellner und Übersetzer und mit der ständigen Angst, als Jude entlarvt zu werden. Man merkt dem Buch anhand der Fülle von sehr detaillierten Beschreibungen der politischen und gesellschaftlichen Details den autobiografischen Hintergrund an.

Doch zurück zu Filip. Dessen Alltagstrott im Frankfurt zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs gerät aus den Fugen als er am Strand die junge Deutsche Hella trifft, die natürlich – wie sollte es auch anders sein – so ganz anders ist als alle Mädchen, die er jemals getroffen hat. Die aus Selbstschutz angelegte kalte Distanz seinen Mitmenschen gegenüber, zeigt jetzt immer öfters Filips wahres Wesen, nämlich das eines verletzlichen jungen Mannes, der neben der Angst um sein Leben und davor, dass der Krieg ihn bricht, sich nichts weiter als nach menschlicher Geborgenheit sehnt.

Nach einer anfänglichen Schwärmerei verliebt sich Filip Hals über Kopf in Hella und wenn es nicht schon kompliziert genug wäre, dass er ein Jude und sie eine Deutsche ist, ist Hellas Vater auch noch ein hoher Reichswehroffizier. Er glaubt, um Hellas Herz erobern zu können, muss er das Parkhotel verlassen. Doch damit beginnen die Probleme erst richtig und spülen weitere, mindestens als kurios zu bezeichnende, Gestalten in sein Leben. Darunter ist die Baronin von Wrangel, die aus Filip einfach Philippe de Vincel macht, um ihm damit zur Anstellung als Bibliothekar zu verhelfen. Neben dem Polen Ziutek, der ihm einen Fremdenpass besorgt wird auch der Hitler-Anhänger Janowsky eingeführt, der Filip nur widerwillig als Untermieter akzeptiert. Dazu kommen Ereignisse wie die Bombardierung von Offenbach, die ihn neben einem Verhör bei der Gestapo und der Ermordung Ziuteks, brutal in die Wirklichkeit des Krieges zurückholen. Der Leser erfährt aber nicht nur von der Frankfurter Zeit, sondern bekommt in Rückblenden auch die Vorgeschichte in Warschau und in Wilna aufgezeigt. Diese Rückblenden sind voller Reflexionen über das Vorkriegswarschau. Teilweise sind diese Passagen zu lang geraten, doch ihr Witz und Ironie machen das wieder weg.

 

Ein Dorn im Auge des Systems

Tyrmand hebt die aufkommende gesellschaftliche Bedeutung von Jazz und Kino hervor und die Überlegungen zur Kultur und Gesellschaft in den Wirren des Krieges, die er Filip anstellen lässt, sind mehr als nur lesenswert und geben ein gutes Panorama der damaligen Zeit im Dritten Reich wieder. Der schelmische Ich-Erzähler vollbringt eine lebendige Darstellung des urbanen Frankfurter im Kriegsalltag. Die vielen Gespräche zeigen das Leben auf der Straße, das Treiben auf dem Schwarzmarkt, im Parkhotel, Liebschaften mit verheirateten und unverheirateten Frauen, Verhöre bei der Gestapo oder auch bloß die Schwierigkeiten als Ausländer eine Wohnung zu bekommen. Die sich wiederholenden Bombennächte fangen mit der Zeit an, sich wie Hintergrundmusik in die Erzählung einzubinden.

Das Buch lebt von der Lebendigkeit seiner Dialoge und den in ihnen übermittelten Sichtweisen aus und auf die verschiedenen Milieus. Zum Beispiel die Begegnung von Filip zusammen mit seinem Kollegen Piotr mit zwei deutschen Soldaten auf Fronturlaub im Café Schumann. Nach anfänglicher Skepsis seitens der Deutschen und Vorsicht seitens Filips und Piotrs, dreht sich das Gespräch schnell um Jazz und Frauen.

„Was bis du für einer?“ Der Deutsche wandte sich an Piotr.

„Ich bin Holländer“, sagte Piotr, „und ich habe hier genauso ein schweres Leben wie du in Weißrussland.“

„Ich verstehe“, seufzte der Deutsche, „ihr dürft hier nicht über die Stränge schlagen. Ich gebe zu, dass mich das etwas tröstet, wenn ich mir in Minsk einen herunterhole, aber alles zusammen ist einfach Müll.“

Leopold Tyrmand hat der Literatur mit der Erschaffung seines fiktionalen Zeitzeugen „Filip“ ein echtes Geschenk gemacht. Gerade in der heutigen Zeit ist die Frage, ob sich jemand beugt oder standhaft bleibt, aktueller denn je. Tyrmand eckte mit seiner Art im Nachkriegspolen bei den Kommunisten mit seiner Lebensweise stark an. Er führte ein unangepasstes Leben, organisierte Jazz-Festivals und spielte Tennis. In den USA wurde er zum Konservativen und kritisierte stark die 68er Bewegung. Da ist es umso passender, dass sein Sohn Matthew beim neuen konservativen sozialen Netzwerk GETTR arbeitet.

 

Leopold Tyrmand: Filip.

Aus dem Polnischen von Peter Oliver Loew. Mit einem Nachwort von Andrzej Kaluza. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt 2021. 500 S., Fr. 35.80.

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