105 Jahre russische Februarrevolution
Nach der bürgerlichen Februarrevolution und der jahrhundertelangen Entrechtung im Zarenreich, bekamen die Juden endlich die gleichen Rechten wie die übrige Bevölkerung Russlands. Zumindest dem staatlichen Antisemitismus war damit ein Ende gesetzt worden. Doch dann obsiegte der Bolschewismus mit seiner diktatorischen Willkür und seinem militanten Atheismus und erschwerte den Juden nicht nur die Religionsausübung, sondern machte sie auch wieder zum Sündenbock.
Farbige Lithografie aus dem Jahr 1904 zur Situation der Juden im Russischen Reich © WIKIPEDIA
Wir wählen die Freiheit! Die russische Februarrevolution gilt als eines der bedeutendsten Ereignisse in der Geschichte Russlands. Das Land stand direkt an der Schwelle zu Freiheit und Demokratie. Das Riesenreich war kurz davor, Teil einer Gemeinschaft von zivilisierten Ländern zu werden. Doch diesen Schritt zu wagen, das gelang letzten Endes nicht. Und die Folgen dieses Versagens prägten schließlich die Zukunft und die Geschichte des einstigen zaristisch-russischen und sowjetischen Imperiums. Auch wirkte es sich spürbar auf das Schicksal der in dem Reich lebenden Juden aus.
Raus aus der Finsternis
Die Autokratie der Zaren als Machtkonstrukt entsprach immer weniger dem Zeitgeist, den Erfordernissen der Zeit, sie behinderte die notwendigen wirtschaftlichen und politischen Veränderungen. Und natürlich hat zusätzlich der Erste Weltkrieg dem Land und dem Volk hart zugesetzt. Die Februarrevolution, die der Autokratie ein Ende bescherte, löste bei einem Großteil der Bevölkerung Russlands Freudensprünge aus, nicht zuletzt bei den Juden, denn hatten gerade sie im Zarenreich unter Diskriminierung zu leiden.
Die Revolution fiel mit dem Purimfest zusammen, was viele natürlich für ein übernatürliches Zeichen hielten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die fast sechs Millionen starke jüdische Bevölkerung des Russischen Reiches einer Welle von Pogromen und Schikanen ausgesetzt gewesen. Hinter diesem Terror standen religiös und nationalistisch motivierte Fremdenfeindlichkeit, Zweifel am Patriotismus der Juden Russland gegenüber, Konkurrenzangst und Ähnliches. Hinzu kommt noch die wirtschaftliche Not, in der viele Russen damals steckten.
Der 1925 gedrehte sowjetische Stummfilm „Jüdisches Glück“, basierend auf Schriften des jiddischsprachigen Autors Scholem Alejchem, zeigt hervorragend die miserablen Verhältnisse, in denen arme Juden in den sogenannten Ansiedlungsrayons des Russischen Zarenreichs lebten.
Angesichts der völlig abnormalen „Lösungsansätze“ bezüglich der „Judenfrage“, erkannten gewisse pragmatische Köpfe des Landes die Notwendigkeit den Konflikt nicht weiter ausarten zu lassen und die Beziehungen mit den Juden im Westen nicht zu zerstören. Solche Persönlichkeiten wie die Premierminister Pjotr Stolypin, Wladimir Kokowzew u.a. unterbreiteten Vorschläge zur Liberalisierung und Verbesserung der Situation der russischen Juden. Zar Nikolaus II. lehnte jedoch die meisten Ideen ab. Und hegte Sympathien für die rechtsextreme Organisation „Schwarze Hundertschaften“.
Typische Auswege für die Juden aus der Misere waren der Übertritt zum christlichen Glauben oder die Auswanderung. Viele entschieden sich für das Verlassen des Landes.
Am 21. März 1917 hob die Provisorische Regierung Russlands eine Vielzahl von Einschränkungen für jüdische Mitbürger auf. Bekannte Antisemiten wie der Justizminister Iwan Stscheglowitow, der ehemalige Vorsitzende des rechtsradikalen „Bundes des russischen Volkes“, Alexander Dubrowin, die Herausgeber antijüdischer Hetzblätter usw. wurden festgenommen. Natürlich wurden auch die „Schwarzen Hundertschaften“ verboten. Eine Reihe von Personen, die an der „Beilis-Affäre“ beteiligt waren, bei der es um einen mutmaßlich jüdischen Ritualmord ging, wurden suspendiert.
Trotz alldem blieb ein konservativer Teil der jüdischen Bevölkerung dem so plötzlich aufgekommenen Regime Change misstrauisch.
Juden an vorderster Front
Die der zaristischen Autokratie entgegengesetzten sozialistischen und liberalen Parteien nahmen bereitwillig Juden in ihre Reihe auf. So stoßen wir unter den Führern der Menschewiki auf in Russland bekannte Namen wie Julius Martow, Michail Liber, Pawel Axelrod oder Fjodor Dan, im Spitzenkader der Sozialrevolutionäre auf Abram Gotz, Michail Gendelman, Mark Natanson, Salomon Anski, Ilja Fondaminski und andere. Der renommierte Anwalt Maxim Winawer war einer der führenden Persönlichkeiten der „Kadettenpartei“ (eigentlich: Konstitutionell-Demokratische Partei), und ein Josef Gessen – Mitherausgeber der Parteizeitung.
Juden waren auch Mitglieder von Parteien der Volkssozialisten, der Oktobristen (Bund des 17. Oktober) und vieler anderer. Auch echte jüdische Parteien gab es. Die sozialdemokratische Partei „Der Bund“ und die Jüdische Volkspartei setzten sich für eine jüdische national-kulturelle Autonomie in Russland ein. Gleichzeitig schloss sich der Bund in allgemeinen politischen Fragen den Menschewiki an, und die Volkspartei stand auf Seiten der Kadettenpartei. Die zionistische sozialdemokratische Partei „Poale Zion“ trat für die Auswanderung nach Eretz Israel ein, um dort den Sozialismus aufzubauen.
Der jüdisch-russische Historiker Felix Kandel erinnert sich an Joseph Trumpeldor, - Soldat im Russisch-Japanischen Krieg -, als dieser im Sommer 1917 aus England nach Petrograd (heutiges St. Petersburg) reiste. Trumpeldor schlug der Provisorischen Regierung vor, eine hunderttausend Mann starke jüdische Armee zu bilden, die nach einem Feldzug durch Armenien, Mesopotamien und Transjordanien Palästina erobern würde. Eine Reihe von Ministern, mit denen er im Kontakt stand, befürworteten sein Vorhaben. Dann aber kamen die Bolschewiki an die Macht, und der Plan blieb unverwirklicht. Ebenfalls im Jahr 1917 wurde der „Allrussische Verband jüdischer Kämpfer zur Selbstverteidigung gegen Antisemiten“ ins Leben gerufen. Trumpeldor wurde zum Repräsentanten des Verbandes.
Sowohl der Schriftsteller Alexander Solschenizyn wie auch der Historiker Felix Kandel erwähnen in ihren Schriften Juden, die wichtige Positionen im neuen Regime innehatten. Maxim Winawer, Oskar Grusenberg, Herman Blumenfeld und I. Gurewitsch wurden Senatoren. Die Menschewiki A. Ginsburg-Naumow und S. Schwarz – stellvertretende Arbeitsminister, Kadett S. Lourie wurde stellvertretender Minister für Handel und Industrie, W. Gurewitsch – stellvertretender Innenminister.
Abram Gotz, Maxim Winawer, Leon Bramson, Fjodor Dan, Michail Liber bekamen alle den Vorschlag, Ministerposten in der Übergangsregierung einzunehmen, aber sie lehnten ab, weil sie dachten, dass ein solcher Akt ein schlechtes Licht auf die russischen Juden werfen könnte; ein Bärendienst in ihren Augen.
Grigori Schreider, Mitglied der Partei der Sozialrevolutionäre, wurde zum Oberbürgermeister von Petrograd gewählt, und der Sozialrevolutionär Pinchas Ruthenberg wurde stellvertretender Gouvernement-Kommissar.
Leo Trotzki, dessen eigentlicher Familienname Bronstein war, reiste nach Petrograd um dort eine Stelle als Vorsitzender des Stadtsowjets anzunehmen. In der Stadtverwaltung saßen Juden der verschiedensten Parteien, darunter: Juri Steklow, Michail Liber, Henrich Ehrlich, Leon Bramson u.a.
Gleichzeitig aber beteiligte sich die Mehrheit der russischen Juden nicht an der Politik, und gehörte auch keiner Partei an.
Die jüdische Kultur begann aufzuatmen, Dutzende Zeitungen in jiddischer und hebräischer Sprache, jüdische Verlage, Schulen und Kindergärten, Theater, Sportvereine etc. erschienen. Und einige Christen jüdischer Herkunft konvertierten zum Judentum.
Hassgefühle
Vielen Berichten zufolge war die aktive Beteiligung der Juden an der Revolution in den ersten Tagen nicht zu übersehen. Die Begeisterung der Leute, diese Aufbruchstimmung, war nicht zu leugnen. Aber lange nicht alle kamen mit der Vorstellung klar, dass eine Minderheit, die gestern noch als minderwertig gegolten hatte, urplötzlich wichtige Posten im Land einnahm. Der Judenhass verschwand nie ganz. Schon bald munkelte man über einen „Jüdischen Einfluss“, über die Beteiligung der Juden an politischen Umbrüchen im Land, ihre angebliche Schuld am Sturz des Zaren, am Scheitern russischer Streitkräfte, an der Lebensmittelknappheit usw.
Solschenizyn stellte keinen einzigen Pogrom wegen der Gleichberechtigung der Juden nach 1917 fest. Wenn sich irgendwo mal wieder besoffene Soldaten daneben benahmen und randalierten, so waren von ihrem Terror nicht nur jüdische Einrichtungen betroffen. Ein russischer Historiker namens Boris Chavkin stellt aber fest, dass die Fahnenflucht in der Armee erheblich zunahm und diejenigen, die von der Front wiederkamen, jüdische Ortschaften im Gouvernement Kiew, Wolhynien und Podolien ausplünderten. Ein Schutz dagegen war selten gegeben, die Männer der jüdischen Bevölkerung befanden sich an der Front. Die israelische Historikerin V. Lebedeva-Kaplan merkte an, dass ein randalierender Mob in Soldatenuniformen, die Worte „Hau die Judensau!“ grölend, im Juni in der Nähe der Hauptstadt über jüdische Läden herfiel.
In den damaligen jüdischen Zeitungen gab es die Rubrik „Pogrome“, die Fälle von Raub, Körperverletzung und Mord dokumentierte. Aber es muss auch gesagt werden, dass das Petrograder Exekutivkomitee des Rates der Arbeiter- und Soldaten zur Verhinderung von Pogromen eine Sonderkommission ins Leben rief, die die heikle Situation in den betroffenen Gebieten kontrollierte.
Russische Vorherrschaft
Heute noch gibt es viele Anhänger von Verschwörungstheorien über einen jüdisch-freimaurerischen Hintergrund der Revolution, über den „jüdischen“ Revolutionär Kerenski zum Beispiel. Obwohl zwei Jahre vor der Revolution der Vorsitzende der Kadettenpartei, Pawel Miljukow, offen verkündet hatte: „Es wird an einer antijüdischen Legende gefeilt, an einer Legende vom Juden als Erfinder der russischen Revolution … Aber zu behaupten, dass der Jude allein dem russischen Volk seine Freiheit gebracht hat, bedeutet zu glauben, dass der Russe ohne ihn überhaupt nicht im Stande gewesen wäre, sein Land zu befreien. Nein, ganz gleich wie sehr ich auch die außergewöhnliche Begabung des jüdischen Volkes respektiere, ich werde dem russischen Volk nicht die Fähigkeit absprechen, mit eigener Kraft die Befreiung herbeigeführt zu haben.“
Und sogar Solschenizyn, der das Zarenreich bekanntlich liebte, gab zu: „Nein, nicht die Juden brachten uns die Februarrevolution, zweifellos waren es die Russen. Wir selbst haben den Zusammenbruch verursacht. Der verehrte Zar, der Hofstaat, Top-Generäle, hartgesottene Administratoren, zusammen mit ihren Gegnern, der Intelligenzija, den Oktobristen, der liberalen Semzy-Bewegung, den Kadetten, den revolutionären Demokraten, Sozialisten u.a. Und so kam das Leid über uns. Ja, es gab Juden in diesen Kreisen, doch das ist noch lange kein Grund, die Revolution als jüdisch zu bezeichnen … Es waren russische Hände, der russische Dummkopf, der sie uns beschert hat.“
Der unnötige Oktober
Auch für Revolution im Oktober versucht man die Juden verantwortlich zu machen. Nach der Februarrevolution bekamen die Juden endlich die gleichen Rechten wie die übrige Bevölkerung Russlands, dem staatlichen Antisemitismus war endlich ein Ende gesetzt worden. Und da tauchte der Bolschewismus auf mit seinen Parolen „Land für die Bauern“ und „Freiheit für die Völker“. Natürlich wollten auch die Juden Frieden und Freiheit, allerdings hatten sie wenig mit den Bauern oder den Fabrikarbeitern gemein. Historisch bedingt, gab es unter den russischen Juden wenig Proletariat. Ein Großteil von ihnen war im Handel und Handwerk tätig, und der Februar hatte bereits viele ihrer Wünsche erfüllt. Der Bolschewismus mit seinem militanten Atheismus, seiner Diktatur, der Ablehnung des Privateigentums, war den meisten Juden fremd. So einen Oktober brauchten sie nicht. Die Mehrheit der Juden und ihre klugen Köpfe jener Zeit (Dubnow, Pasmanik, Winawer, Sliosberg u.a.) verurteilten den bolschewistischen Umsturz. Die Mitglieder der Partei der Bund etwa protestierten lautstark auf dem Zweiten Allrussischen Sowjetkongress.
Juden schützen den Winterpalast
Bekannterweise stießen die Bolschewiki in Petrograd kaum auf Widerstand, und der Winterpalast wurde allein von dem Frauenbataillon und dem Bataillon der Fähnrichschüler verteidigt.
Unter den Militärschulabsolventen stoßen wir auf viele aschkenasische Familiennamen: Goldman, Epstein, Schwarzman, Schapiro u.a. Denn nach der Revolution gingen etwa 2500 Juden auf Militärschulen.
Alexander Sinegub, Lehrkraft an einer Fähnrichschule, der den Palast verteidigte, schrieb in seinen Memoiren, wie die sonst so mutigen Kosaken vor den Angriffen flohen. Sinegub versuchte sie zum Bleiben zu überreden, doch ein Kosaken-Fähnrich erwiderte ihm: „Bevor wir ankamen, erzählte man uns Märchen, von wegen das ganze Militär habe sich in der Stadt versammelt usw., aber in Wirklichkeit sind hier nur Weiber und Juden, und auch die Regierung besteht zu Hälfte aus diesen Judensäuen.“
Ende Oktober erhoben sich die Petrograder Militärschulabsolventen, genannt „die Junker“, gegen die Bolschewiki. Anführer des Aufstands war der rechte Sozialrevolutionär Abram Gotz, der Leiter des Komitees zur Rettung des Vaterlandes und der Revolution. Der Aufstand wurde von den zahlenmäßig überlegenen Bolschewiki niedergerungen. Die jüdische Gemeinde von Petrograd hatte 50 Opfer durch Kämpfe auf den Straßen zu beklagen. Im Gegensatz zu den Geschichten in sowjetischen Lehrbüchern war der Oktober keineswegs unblutig.
Juden kämpften als Freiwillige auf Seiten der Weißen Garde. Juden – besonders die Sozialrevolutionäre und Mitglieder der Menschewiki – unterstützen antibolschewistische Untergrundorganisationen. Doch in der Freiwilligenarmee der Weißen machte sich ein ungeheurer Antisemitismus breit. Die Weiße Garde nutzte aktiv die „Protokolle der Weisen von Zion“ und andere judenfeindliche Märchen für ihre Zwecke. Vom Hass auf Trotzki und andere Bolschewiki-Führer jüdischer Herkunft geblendet, übertrugen ihn viele Offiziere der Weißgardisten auf die gesamte jüdische Bevölkerungsgruppe, sogar auf solche Juden, die entschieden gegen die Bolschewiki gekämpft hatten. Schon bald wurden jüdische Offiziere aus der Armee ausgeschlossen. Nicht verwunderlich also, weshalb sich viele Juden von den Weißgardisten distanzierten.
Ein Hoffnungsschimmer im Februar
Die Juden befürchteten, dass mit dem Sieg der Weißen Garde die Monarchie zurückkommen würde und dass dann die jüdische Minderheit sich für die Bolschewiki mit jüdischen Wurzeln verantworten müsste.
Der Antisemitismus der Weißen ist einer der Hauptgründe für die Entscheidung vieler Juden, sich in das rote Lager zu begeben.
Einen weiteren Ausweg aus dem Dilemma stellte die Auswanderung dar. Der Historiker Alexander Lokschin stellte fest, dass von den 2 Millionen russischen Emigranten im Jahr 1920, ca. 10 % Juden waren, sprich 200.000 Personen.
Der vielversprechende Februar, blieb der kleine Hoffnungsschimmer in einem finsteren Königreich. Eine Vielzahl bekannter Juden aus Russland bezeichneten diese revolutionären Tage im Februar als die glücklichsten in ihrem Leben. Ein ähnlicher Februar erwachte erst wieder Mitte der 1980er Jahre. Weltweit bekannt als «Perestroika», ein vom letzten Sowjetführer Michail Gorbatschow geprägter Leitbegriff für die Umstrukturierung von Politik und Gesellschaft.
Übersetzung aus dem Russischen: Edgar Seibel
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