Der ranghöchste jüdische General der Sowjetunion

Der Jude Kreiser war einer der ersten Helden der Sowjetunion. Obwohl er der führende jüdische Soldat war, der zu Sowjetzeiten den Rang eines Armeegenerals erreichte, waren viele Details seiner Biografie bisher unbekannt. Unser Korrespondent sprach über ihn mit Alexander Engels, dem Autor eines neuen Buches, das dem roten Kommandeur gewidmet ist.

General Jakow Kreiser© WIKIPEDIA

Von Viktoria Katz

JÜDISCHE RUNDSCHAU: Ihr Buch trägt den einfachen Titel „General Kreiser. Historische und biographische Forschung“. Es gibt bereits zahlreich Bücher über jüdische Frontsoldaten – sowohl Soldaten der regulären Einheiten der Roten Armee als auch Partisanen. Warum haben Sie sich gerade für diese Person entschieden?

Alexander Engels: Jakow Kreiser wurde im Juli 1941 der Titel „Held der Sowjetunion“ verliehen, weil er als Kommandeur einer motorisierten Schützendivision eine Panzerdivision Guderians in Grenzschlachten vorübergehend stoppen konnte. Nach der Medaille „Goldener Stern“ folgte die Beförderung: Oberst Kreiser wurde General, führte später Armeen an, bewährte sich in vielen Schlachten. Den Höhepunkt erreichte sein Ruhm im Mai 1944 beim Angriff auf Sewastopol (eine strategisch wichtige große Stadt auf der Halbinsel Krim, direkt am Schwarzen Meer, - Anm. d. Übers.). Heute steht dort, auf dem Sapun-Berg, ein Denkmal für den Kommandeur der 51. Armee. Die Figur des Generals mit dem Säbel in der Hand ist auch in den Aufnahmen der Siegesparade zu sehen. Glücklicherweise entwickelte sich seine Nachkriegskarriere ebenfalls erfolgreich: Jakow Kreiser wurde der einzige sowjetische Militärführer jüdischer Herkunft, der den Rang eines Armeegenerals erhielt.

Vor vielen Jahren habe ich während meiner Arbeit im Museum der Gedenksynagoge auf dem Poklonnaja-Hügel in Moskau versucht, den Besuchern eine Vorstellung von der Geschichte des jüdischen Volkes während der Kriegsjahre als Ganzes zu vermitteln, in dem sowohl der Holocaust als auch das militärische Heldentum untrennbar miteinander verbunden waren. Im Blickfeld von Historikern und Politikern auf der ganzen Welt liegt jedoch nur der erste Aspekt, wobei selbst die Menschen mit einer judenfeindlichen Gesinnung bereit sind, das Thema des Opfertums der jüdischen Menschen, den Holocaust und 6 Millionen Tote zu respektieren. Aber ich habe noch nie Antisemiten getroffen, die bereit wären, Juden als Helden Achtung zu zollen. In diesem Sinne kann argumentiert werden, dass die Erforschung des jüdischen Heldentums im Kampf gegen Antisemitismus an vorderster Front steht.

JÜDISCHE RUNDSCHAU: Was war Kreiser für ein Mensch?

Alexander Engels: Als Kommandeur verband er eine hohe Kultur im Umgang mit Untergebenen mit hoher Genauigkeit im Fordern. Einer der schwierig zu diskutierenden Aspekte sind die unvermeidlichen Exzesse, die bei der Befreiung der feindlichen Territorien entstehen. Aber wir wissen, dass Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung dort vermieden wurden, wo die Kommandeure der Truppen militärische Disziplin zu wahren wussten und den Titel des „Befreiers“ hochhalten wollten. Der Befehl von Heereskommandant Kreiser lautete daher schwarz auf weiß: „Plünderer an Ort und Stelle erschießen.“

JÜDISCHE RUNDSCHAU: Wie würden Sie die wichtigste Botschaft Ihrer Forschung formulieren?

Alexander Engels: Die Schlachten, für die Jakow Kreiser mit höchsten militärischen Preisen ausgezeichnet wurde, sind gut beschrieben. Aber die Episoden, die mit den härtesten Belastungsproben verbunden waren, sollten neu erzählt werden. Eine von ihnen geschah im Herbst 1941, als seine Armee zusammen mit der gesamten Brjansker Front umzingelt wurde (es handelt sich um die sog. Kesselschlacht – eine blutige Schlacht von Brjansk, die der deutschen Wehrmacht zunächst einen Sieg und die Aussicht auf Erfolg beim geplanten Angriff auf Moskau bescherte; bald darauf wurde jedoch der Mythos von der Unbesiegbarkeit deutscher Truppen zerstört, - Anm. d. Übers.). Noch schrecklichere Ereignisse fanden im Mai 1942 statt, als die falschen Handlungen der Militärführung der Roten Armee der südwestlichen Richtung zur Einkesselung und Niederlage der Gruppierung südlich von Charkow führten. Jede dieser Einkesselungen überstieg in Bezug auf das Ausmaß der Verluste den Schaden der deutschen Armee in Stalingrad, obwohl für sie keine Trauer angekündigt wurde. Und in beiden Fällen gelang es Kreiser mit ungeheuren Anstrengungen, die Überreste seiner Armeen aus dem Ring des Todes zu ziehen.

Die Tatsache, dass Historiker die Rolle dieser Schlachten herabsetzen und vermeiden, sie zu beschreiben, führt dazu, dass die Dramatik des Krieges und die Leistung der Menschen, die Schreckliches durchgemacht haben, nicht angemessen eingeschätzt werden kann.

Das Konzept meines Buches ist umgekehrt aufgebaut. Die Beschreibung der Kämpfe, als sich nicht mehr als 10 % der Truppen aus der Einkesselung zurückziehen konnten, lässt den Preis für den Parademarsch auf dem Roten Platz ganz anders aussehen.

JÜDISCHE RUNDSCHAU: Kreiser war Mitglied des Jüdischen Antifaschistischen Komitees (JAK). Was war seine Rolle?

Alexander Engels: Materialien zu diesem Thema zu sammeln, war nicht einfach. Dass Kreiser in das JAK-Präsidium gewählt wurde, ist bekannt, aber die Einzelheiten seiner Tätigkeit oder zumindest seine Kontakte zu Kollegen im Komitee werden nirgendwo beschrieben. Nur ein Beweis für Kreisers Teilnahme am JAK-Treffen ist überliefert – in einem Artikel von David Bergelson, dem größten sowjetischen Jiddisch-Schriftsteller (David Bergelson 1884-1952 zählte zu jenen – den meisten – Mitglieder des JAK, die bei Stalins „Säuberungsaktion“, im Volksmund „Die Nacht der ermordeten Dichters“ genannt, exekutiert wurden. Die Anklage, wie so oft bei den Prozessen der Stalinzeit, lautete „Spionage“ und „Planung eines Staatsstreiches“. Insgesamt wurden in der Nacht von 12. auf den 13. August 1952 – knapp sieben Monate vor Stalins Tod – 13 Personen hingerichtet. Unter ihnen befanden sich auch der Dichter Leib Kwitko, s. Jüdische Rundschau vom August 2019 sowie Perez Markisch, s. JR vom Februar 2021, - Anm. d. Übers.). Die Suche nach diesem Exemplar der Zeitung „Ejnikajt“ von 1944 war mühsam: Es befand sich nicht im Besitz der Russischen Staatsbibliothek in Moskau, aber Kollegen in St. Petersburg konnten helfen.

Das Kapitel „Rot und Schwarz“ schildert alle Stationen dieser Geschichte, beginnend mit der ersten Erwähnung des JAK in einem Brief Kreisers an seine Frau im Sommer 1942. Ich erwähne in diesem Kapitel Kontakte mit den Juden des Mandatsgebiets Palästina und den Juden der Vereinigten Staaten.

Das traurige Schicksal seiner Kollegen, die unter erfundenen Anschuldigungen hingerichtet wurden, ist bekannt. Wie ist es dem General gelungen, Repressalien zu vermeiden?

Alexander Engels: Nach dem Krieg waren Leben und Schicksal meines Protagonisten dreimal bedroht. Eine dieser Episoden ist die Ermittlung des sogenanntes „Falls des Jüdischen Antifaschistischen Komitees“. Eigentlich hätte das Wort „Ermittlung“ in Anführungszeichen stehen sollen, da es sich um Verhöre handelte, die vier endlose Jahre dauerten, oft unter Anwendung von Folter. Das Buch enthält ein Beispiel dessen, wie die Zeugenaussage gegen Kreiser im Rahmen der sensibelsten und seit der Wiedereinführung der Todesstrafe – der stärksten, zur Hinrichtung führenden Anklage gegen das JAK – fabriziert wurde. Angeblich soll versucht worden sein, die Halbinsel Krim durch die Juden zu besetzen, mit dem Ziel einer gewaltsamen Abtrennung. Jakow Kreiser könnte von den Ermittlern als Schlüsselfigur dieser Verschwörungstheorie bezeichnet worden sein. Im Protokoll der Vernehmung eines der verhafteten Schriftsteller ist festgehalten, dass Michoels im Frühjahr 1944 seinen Mitstreitern gesagt haben soll: „Kreiser ist schon auf der Krim.“ (der anerkannte, verehrte Regisseur Solomon Michoels, der das JAK leitete, war viel zu berühmt, um „einfach“ erschossen zu werden: Er kam 1948 bei einem Autounfall ums Leben, der ganz offensichtlich mit Stalins Wissen vom Geheimdienst organisiert worden war, - Anm. d. Übers.).

Glücklicherweise fand die Festnahme des Generals nicht statt. Ich vermute, dass nur eine Person in dieser Angelegenheit eine Entscheidung treffen konnte – dieselbe Person, die den gesamten gefälschten Prozess angeordnet hat.

JÜDISCHE RUNDSCHAU: Stalin.

Alexander Engels: In jeder Phase entschied dieser Strippenzieher über das Schicksal von Tausenden und Hunderttausenden von Menschen, abhängig von den sich ändernden politischen Interessen.

JÜDISCHE RUNDSCHAU: Der Titel des Kapitels über die Tätigkeit von General Kreiser im JAK heißt „Rot und Schwarz“. Ist er in Anlehnung an den Stendhals Roman gewählt? Als eine Redewendung oder ein Hinweis?

Alexander Engels: Das Kapitel basiert auf einer realen Tatsache aus der Geschichte des „Jüdischen Antifaschistischen Komitees“, der wichtigste Teil dessen Arbeit die Materialsammlung für „Das Schwarze Buch“ war. Neben den Beweisen für die Schrecken des Holocaust sollte es mehrere Essays über jüdische Soldaten enthalten, aber im Allgemeinen ist das Thema des Buches eine Beschreibung der Tragödie. In dieser Form und unter diesem Namen hat „Das Schwarze Buch“ das Stadium des typografischen Satzes erreicht. Gleichzeitig konzipierte das JAK „Das Rote Buch“ – eine ausführliche Geschichte über das Heldentum jüdischer Krieger, eine Geschichte über Menschen wie Jakow Kreiser. Aber das JAK, das vollständig von den Behörden kontrolliert wurde, konnte mit diesem Buch nicht einmal beginnen. Tatsache ist, dass die sowjetische Führung zunächst ein Interesse daran hatte, Beweise für Nazi-Verbrechen gegen Juden zu sammeln. Dieses Material war sowohl für die Beziehungen zu den jüdischen Kreisen des Westens, als die Hilfe der Alliierten kam, als auch für die Vorbereitung der Nürnberger Prozesse wichtig. Später verschwand dieses Interesse, und auf den Denkmälern der Opfer durften nur „zivile Sowjetbürger“ erwähnt werden. Die sowjetische Führung bemühte sich also um die Erschaffung des Bildes „Juden als Opfer“, dabei war es unzulässig, das Thema des jüdischen Heldentums zu propagieren. Und auch der Satz des „Schwarzen Buches“ wurde nach Abschluss vernichtet.

JÜDISCHE RUNDSCHAU: Auf welches Material haben Sie sich bei Ihrer Recherche gestützt?

Alexander Engels: Jakow Grigoriewitsch Kreiser hat keine Memoiren hinterlassen, sein Schicksal muss nach Notizen, Memoiren von Waffenkameraden, mündlichen Interviews von Veteranen, nach fragmentarischen Daten, die in den Archiven aufbewahrt sind, wiederhergestellt werden. Ich habe Gespräche mit drei Veteranen der Streitkräfte genutzt, die General Kreiser persönlich kannten: Vladimir Kriwulin, David Selvenski und Grigori Kroschner. Im Vorwort ist vermerkt, dass sie unsere wahren Co-Autoren wurden. Die Kollegen aus den Archiven „Holocaust“, Mitarbeiter des Museums „Schlacht von Stalingrad“, des Museums für Verteidigung und Befreiung von Sewastopol haben bei der Suche nach Materialien sehr geholfen.

JÜDISCHE RUNDSCHAU: Seit mehreren Jahren beschäftigen Sie sich mit dem Thema des Heldentums der sowjetischen Juden. Was ging der Entstehung des Buches über General Kreiser voraus?

Alexander Engels: Vor zwei Jahren hatte ich die Gelegenheit, eine Wanderausstellung vorzubereiten: Damals wurde im Zentralen Kriegsmarinemuseum eine Reihe von Plakaten mit Biographien von 35 Juden – Helden der Sowjetunion – gezeigt, herausgegeben mit Unterstützung des Verbandes der jüdischen Gemeinden Russlands. Die Frage, ob wir genug tun, um die Erinnerung an die jüdischen Krieger aufrechtzuerhalten, kann ich vermutlich mit „nein“ beantworten. Es gibt keine auf diesen Bereich spezialisierten Museen, keine wissenschaftlichen Konferenzen. In Israel entsteht das Museum des jüdischen Kriegers. Die Konferenz zur Geschichte der Kriegsbeteiligung der Juden wird von einer internationalen Organisation vorbereitet, die ich vertrete: „Die vierte Generation“. Es gibt weitere sichtbare Ergebnisse: Dank der Bemühungen unserer Kollegen aus der israelischen Organisation „Ma‘alot“ konnte beschlossen werden, den Namen General Kreiser an zwei Straßen – in Aschdod und in Lod – zu vergeben. Diese Organisation plant die Vorbereitung und Durchführung einer Online-Konferenz zum Gedenken an den General Jakow Kreiser. Ich lade Historiker und alle, die sich für das Thema Jüdische Krieger interessieren, ein diese Initiative zu unterstützen. Es wäre richtig, diese Konferenz „Kreisersche Lesungen“ zu nennen.

 

Das Interview mit dem Autor Alexander Engels führte Viktoria Katz

 

Alexander Engels ist Historiker und Pädagoge, geboren in Moskau, dort verbrachte er sein gesamtes Berufsleben, dessen wichtiger Teil die Arbeit im Museum der Gedenksynagoge auf Poklonnaja-Hügel in Moskau war. In den 1990ern Jahren leitete er die jüdische Schule „Migdal Or“. In den letzten Jahren lebt er in Frankreich.

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