„Viele Juden in Deutschland haben Angst sich offen zu ihrer Identität zu bekennen“
Ein Interview mit dem ehemaligen israelischen Militärsprecher Arye Sharuz Shalicar über sein neues Buch und sein Leben als Jude in dem heute moslemisch dominierten ehemaligen Arbeiterbezirk Berlin-Wedding. Erkennbar wird die massive Bedrohung für die jüdische Bevölkerungsminderheit vor allem durch ungebremst wachsenden, und vielfach gewalttätigen islamischen Antisemitismus.
Arye Sharuz Shalicar und sein neues Buch
JÜDISCHE RUNDSCHAU: Herr Shalicar, für wen haben Sie Ihren autobiografischen Ratgeber in erster Linie geschrieben?
Arye Sharuz Shalicar: In erster Linie habe ich meine „100 Weisheiten“ für die vielen Millionen Heranwachsende geschrieben, mit und ohne Migrationshintergrund, die nicht mit dem goldenen Löffel im Mund geboren wurden, in Problembezirken aufgewachsen sind, eventuell auf die schiefe Bahn geraten sind und keine Ahnung haben, wie sie ihr Leben meistern sollten. Da ich einmal genau dort war, wo sie heute sind, möchte ich ihnen mit meinem Buch Mut, Motivation und allen voran Hoffnung geben, dass so wie ich, auch sie es schaffen können ein normales, wenn nicht sogar erfolgreiches Leben, zu führen.
Ich bin mir aber sicher, dass meine Weisheiten aus dem Leben auch sonst jeden Leser bereichern können – selbst jemanden, dem es gut geht. Vielleicht „nur“, indem ich ihm beweise, dass er richtig liegt.
JÜDISCHE RUNDSCHAU: Sie schreiben über Ihre Jugend in Berlin-Wedding der 1990er Jahre. Könnte ein jüdischer Jugendlicher im Wedding heutzutage ein ähnliches Schicksal wie Sie haben? Was hat sich geändert?
Arye Sharuz Shalicar: In meiner Autobiografie „Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude“ schließe ich mit meiner Vergangenheit in Berlin-Wedding ab. Meine gesamten Jugendjahre waren eine Achterbahnfahrt mit sehr vielen Höhen und Tiefen. Antisemitismus von Seiten gewaltbereiter junger muslimischer Männer insbesondere mit arabischem, und teilweise türkischem Migrationshintergrund begleiteten mein tägliches Leben. Anfangs hatte ich Angst um mein und das Leben meiner Geschwister. Ich wusste, dass ich im Wedding nur leben und überleben kann, wenn ich Teil der Parallelgesellschaft werde, auch Teil der kriminellen Parallelgesellschaft. So ging mein Leben den Bach runter und ich sah für meine Zukunft nur zwei Optionen: Tod oder Knast.
Die allermeisten Juden in Deutschland sind heller Natur und werden somit nicht von den Muslimen als einer von ihnen angesehen und können sich somit in der Regel nicht wirklich in ihre Gesellschaft integrieren. Ich sah aus wie sie, da meine Eltern aus dem Iran stammen und fiel deshalb nicht auf, wenn ich mich unter ihnen befand – bis eines Tages die Frage gestellt wurde „Bist du auch Muslim?“. Ich habe bis heute Freunde im Wedding. Es ist nach wie vor kein Ort, an dem Juden in der Schule, geschweige denn auf der Straße unterwegs sein sollten.
JÜDISCHE RUNDSCHAU: Was war der schwierigste Moment beim Schreiben dieses Buches?
Arye Sharuz Shalicar: In meinen Büchern versuche ich einen roten Faden zu ziehen von der ersten bis zur letzten Seite. Wie ein langer Monolog, der einer Sache gewidmet ist. Und ich versuche meinem Gegenüber diese Sache anhand meiner eigenen Erfahrungen zu erklären. So habe ich versucht, das Buch so zu gestalten, dass es von den ersten bis hin zu den letzten Weisheiten Sinn für den Leser macht. Das kann bei 15 Kapiteln eine leicht zu bewältigende Aufgabe sein, aber bei 100 Kurzkapiteln ist das ziemlich schwierig. Ich hoffe, diese Anforderung an mich selbst gut bewältigt zu haben.
JÜDISCHE RUNDSCHAU: Im Kapitel „Respekt & Würde“ schreiben Sie über einen Jugendlichen, der Sie aus einem Missverständnis heraus mit einem Messer niederstechen wollte. Woher nehmen Sie die Kraft Menschen zu verzeihen, die Sie derart in Lebensgefahr gebracht hatten?
Arye Sharuz Shalicar: Im Jahr 2001 habe ich Deutschland den Rücken gekehrt und bin nach Israel eingewandert, um ein Leben als Jude in Freiheit zu führen. Die ersten Jahre in meiner neuen Heimat war ich noch voller Frust und teilweise Hass in mir, weil der aggressive Antisemitismus meines Umfeldes nicht nur mein Leben in Berlin zerstört hatte, sondern ich durch meine Auswanderung auch alle und alles, was ich kannte und liebte, verlassen musste. Das zu vergeben brauchte Zeit. Mittlerweile sind 20 Jahre vergangen und ich habe vergeben, jedoch nicht vergessen – allem voran, um mein eigenes Leben in den Griff zu bekommen.
JÜDISCHE RUNDSCHAU: Würden Sie Juden, die mit Antisemitismus in Deutschland zu kämpfen haben, raten Alija zu machen?
Arye Sharuz Shalicar: Die meisten Juden in Deutschland wachsen glücklicherweise nicht in derartigen Verhältnissen auf wie ich. Wer jedoch so lebt, sollte so schnell wie möglich einen Weg heraus finden. Die Mehrheit der Juden jedoch wird nicht mit Gewalt konfrontiert wie ich, sondern wenn überhaupt dann mit Worten. Darauf kann man auch antworten, ohne gleich wegziehen zu müssen. Das Problem ist, dass viele jüdische Gemeinden und jüdische Bürger Angst haben sich offen und mit Stolz zu ihrer jüdischen Identität zu bekennen, um nicht in unangenehme Situationen hineinzugeraten. Also leben viele Juden in Deutschland nicht wirklich frei, und das ist bedauerlich.
JÜDISCHE RUNDSCHAU: Was war die schwierigste Lebenserkenntnis für Sie? Welche Weisheit ist am schwierigsten umzusetzen?
Arye Sharuz Shalicar: Es ist die Masse an Weisheiten, die den Unterschied macht, um sein Leben in den Griff zu bekommen und vielleicht sogar erfolgreich zu sein. Wenn man nur die eine oder andere Weisheit akzeptiert und umsetzt, dann reicht es nicht mit dem Blick in die Zukunft. Ich will mit meinem Buch eine starke Basis geben, um das gesamte Leben zu meistern und das ist nun mal voller täglicher Herausforderungen, auf die man nur adäquate Antworten hat, wenn man eine starke Basis besitzt: Wie ein Haus, das auf 100 festen Säulen steht. Je mehr Säulen instabil sind, desto wackeliger wird das Haus.
JÜDISCHE RUNDSCHAU: Was ist eine Weisheit, die eher unerwartet und überraschend erscheint?
Arye Sharuz Shalicar: In den letzten Jahren wurde ich sehr oft gefragt, wie jemand wie ich, der einmal ein Gangmitglied im Wedding war, es geschafft hat heute Schriftsteller, Sprecher der IDF und Staatsbeamter zu werden. Es sind die vielen Situationen, Herausforderungen und Erlebnisse, die aus mir den Mann gemacht haben, der ich heute bin. Ich weiß demnach nicht, auf welche eine spezielle Weisheit ich mit dem Finger zeigen sollte, denn so wie meine Entwicklung ein langer Prozess war, so ist es auch dieses Buch, und alles hängt zusammen.
JÜDISCHE RUNDSCHAU: Im Kapitel „Mit Blick in die Zukunft“ schreiben Sie, wie Ihr Streben sich im Arbeitsleben zu beweisen, Sie in einen lebensgefährlichen Burnout geführt hat. Heute sind Sie Politiker, Publizist, Schriftsteller und Politologe. Wie finden Sie Balance in Ihren Leben?
Arye Sharuz Shalicar: Balance im Leben ist eine sehr wichtige Sache. Mehrere Kapitel widme ich diesem Thema, denn Karriere allein macht nicht glücklich. Genauso wie Geld allein nicht glücklich macht. In meinen 100 Weisheiten versuche ich – hoffentlich mit Erfolg – zu veranschaulichen, dass der Mensch ein glückliches Leben nur dann führen kann, wenn er „sowohl als auch“ beachtet und umsetzt. Um „sowohl als auch“ zu verstehen, muss man das Buch von Anfang bis Ende lesen. Jedes einzelne Kapitel steht für sich und ist wichtig. Jedoch ist das Gesamtbild der Schlüssel zum Erfolg und zu einem „normalen“ Leben.
Das Gespräch führte Nataliya Indikova
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