In Memoriam Jonathan Sacks

Vor genau einem Jahr ist der britische Großrabbiner gestorben – Zeit für einen Blick in den literarischen Nachlass des allseits geachteten jüdischen Religionsgelehrten

Von Dr. Nicolas Dreyer

Jonathan Sacks, 1948 geboren und im November 2020 verstorben, war von 1991 bis 2013 britischer Oberrabbiner und Autor zahlreicher Bücher zu jüdischen und gesellschaftlichen Themen. Akademisch ausgebildet in Philosophie und jüdischer Theologie, verstand es Sacks, die jüdische theologische und philosophische Tradition mit der europäischen und amerikanischen zu verbinden und auf die Relevanz jüdischer Theologie und Geschichte nicht nur für ein jüdisches Publikum, sondern auch für nichtjüdische Gesellschaften aufmerksam und sie mit Bezug auf aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen verständlich zu machen.

Er vermochte es, in den stark säkularisierten westlichen Gesellschaften jüdische Identität zu vermitteln und zu stärken, und war global als eine der führenden moralischen Stimmen des Judentums angesehen. Ebenso engagiert rief er zum Respekt säkularer Gesellschaften gegenüber der glaubensbasierten Moral und Ethik der monotheistischen Religionen auf, und trat ein für die Idee der Würde unterschiedlicher Kulturen. Eines seiner vielen herausragenden Bücher, „Not in God’s Name: Confronting Religious Violence“ (Nicht in Gottes Namen: religiöser Gewalt begegnen), erschien 2015. Unter Bezug auf zahlreiche wissenschaftliche Ansätze behandelt es die Natur religiöser Gewalt und beschreibt die Rolle, die der Antisemitismus in der europäischen Geschichte und in konfliktgeprägten Gesellschaften spielt.

Das Buch vollzieht nach, was Menschen zur Gewaltausübung motiviert, wenn sie sich zu Gruppen und Völkern, nach Sprachen und Kulturen zusammenschließen, die ihre Identität bestimmen. Innerhalb der eigenen Gruppe, dem „wir“ gegenüber, entwickle der Mensch Altruismus und Opferbereitschaft, den „Anderen“ gegenüber Feindschaft und Gewalt. Dualistisches religiöses Gedankengut, wie es historisch aus den Sekten von Qumran und Nag Hammadi bzw. der christlichen Gnostik bekannt ist, tendiere dazu, die eigene Gruppe als „Kinder des Lichts“ und den Rest der Welt als „Kinder der Finsternis“ zu betrachten. Ein solch religiös definierter Dualismus ermögliche es dem Menschen, die Komplexität der Welt auf frühkindliche Schemata von Gut und Böse zu reduzieren. Demgegenüber stehe der Monotheismus, der anhand moralisch ambivalenter biblischer Charaktere anerkenne, dass Menschen selten ausschließlich gut oder böse seien; somit fordere der Monotheismus von den Gläubigen, mit der Komplexität der Welt umzugehen.

Wenn für eine Gesellschaft der Dualismus mit einem „kognitiven Zusammenbruch“ einhergeht und sie folglich mit der Ambivalenz des menschlichen Charakters, der Komplexität der Wirklichkeit, dem Lauf der Geschichte und der Unmöglichkeit, Gott vollkommen zu erkennen, nicht mehr zurechtkomme, entwickle sie einen „pathologischen Dualismus“. Dieser könne auch säkular sein, wie z.B. im Nationalsozialismus. Infolge eines solchen pathologischen Dualismus ergeben sich Dehumanisierung und Dämonisierung des Anderen, die Selbstverklärung als Opfer und letztlich auch „altruistisches Böses“, d.h. das Böse, das im Namen einer vermeintlich selbstlosen Sache begangen werde. Die Folgen eines solchen Dualismus können Gewalt, Mord und Völkermord sein. Von pathologischem Dualismus geprägte religiöse Menschen können „im Namen des Gottes des Lebens töten, im Namen des Gottes des Friedens Krieg führen, im Namen des Gottes der Liebe hassen, und im Namen des Gottes der Barmherzigkeit Gewalt ausüben“.

 

Christentum wollte Judentum ablösen

Der theologische Schwerpunkt des Buches liegt auf einer Diskussion der Gewalt, die von den drei monotheistischen Weltreligionen – Judentum, Christentum und Islam – im Namen Gottes gegeneinander ausgeübt wurde und teilweise gegenwärtig ausgeübt wird. Die Beziehungen dieser drei Religionen untereinander betrachtet Sacks als von Geschwisterrivalität geprägt, in dem die jeweils jüngere Religion annehme, sie habe die ältere(n) monotheistische(n) Religion(en) in ihrer Gültigkeit abgelöst. Geschwisterlicher Zwist ist aus den biblischen Narrativen von Beginn bis Ende des Buches Genesis, von Kain und Abel bis hin zu Josef und seinen Brüdern, aber auch aus ägyptischen, griechischen und römischen Mythen bekannt, sei es Set und Osiris, Atreus und Thyestes, Romulus und Remus. Abrahams Familie sei von dem mimetischen Verlangen nach der Verheißung Abrahams geprägt. Mimetisches Verlangen, definiert von dem französischen Anthropologen René Girard, beschreibe den Wunsch, etwas zu besitzen, weil jemand anderes es besitzt. Dahinter stehe jedoch der Wunsch nach der Identität des Anderen. Es sei im Falle von Abrahams Kindern und Enkeln das existentielle Verlangen nach Gottes väterlicher Liebe, das Verlangen, der erstgeborene oder „bevorzugte Sohn, das auserwählte Volk, der Wächter der Wahrheit, der Hüter der Erlösung“ zu sein. Der Sieg des Einen bedeute demnach zwangsläufig die Niederlage des Anderen und bedinge dessen Rache.

Durch eine ausführliche und unkonventionelle Exegese der biblischen Texte um die Familie Abrahams aus dem Buch Genesis, die eine zentrale Rolle im Selbstverständnis aller drei monotheistischen Religionen spielen, stellt Rabbiner Sacks diese herkömmlichen Lesarten in Frage. Sacks arbeitet Hinweise in den biblischen Texten heraus, die ihre wahre Bedeutung darin liegen lassen, dass sie tatsächlich Beispiele für Versöhnung sind und ein subtiles theologisches und moralisches Gegenprogramm zum polytheistischen Umgang mit den beschriebenen Konflikten darstellen. Innerfamiliäre Konflikte müssen nicht in Mord und Totschlag enden, denn jedes Mitglied der Familie Abrahams werde von Gott mit dem von ihm zugedachten individuellen Segen gesegnet. Ob dieser Erkenntnis entfalle jeder Grund der Rivalität: Die Erwählung des Einen, Isaaks wie Jakobs, bedeute gerade nicht die Verstoßung des Anderen, sei es Ismael oder Esau; keiner müsse mehr um den Segen Abrahams kämpfen.

 

Gewalt in Gottes Namen als Gotteslästerung?

Sacks definiert die Gewalt in Gottes Namen als nichts anderes als Gotteslästerung. Vor dem Hintergrund einer moralisch relativistischen westlichen Welt, die in Jonathan Sacks‘ Analyse dem islamischen Fundamentalismus sprachlos gegenüberstehe und die Freiheit nicht mehr in geeigneter Weise verteidigen könne, kann ein solches theologisches Verständnis dem Leser helfen, dem zunehmenden religiösen Extremismus begründet zu begegnen. Sacks fordert eine Rückbesinnung auf westliche Ideale, die über Parolen von „Freiheit und Demokratie“ hinausgehen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken können, und die historisch in diesen Gesellschaften den Altruismus ermöglichten; dazu zählt er auch den Respekt vor religiösen Werten, vor dem öffentlichen Dienst und nationaler Identität, sowie die kollektive Verantwortung für die Gesellschaft. Eine Antwort auf die Suche junger Menschen nach „Sinn, Identität und Gemeinschaft“ und nach Möglichkeiten zu altruistischem Einsatz dürfe seiner Meinung nach nicht den religiösen Fundamentalisten überlassen werden, sondern müsse von der freiheitlichen Gesellschaft angeboten werden können. Sacks sieht die Lösung in einer Rückgewinnung der absoluten Werte, mit denen der Monotheismus Abrahams der Menschheit eine neue Qualität der Menschlichkeit gebracht hatte – Werten wie der Heiligkeit des Lebens, der Würde des Individuums, dem Auftrag zu Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, zur Liebe dem Nächsten und Fremden gegenüber, wie auch zum Frieden.

 

Jonathan Sacks, Not in God’s Name: Confronting Religious Violence (London: Hodder & Stoughton, 2015). 305 Seiten.

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