Dem chinesischen Raoul Wallenberg zum 120. Jahrestag

Ho Feng Shan versteckte keine Juden im Keller, und kaufte sie auch nicht aus den Konzentrationslagern frei. Er war lediglich ein Konsul in Wien und stellte heimlich den Menschen mit dem gelben Stern auf dem Ärmel Visa aus. Und rettete damit Tausende!

Ho Feng Shan (Quelle: Wikipedia) Denkmal für Ho Feng Shan im Museum des Schanghaier Ghettos
© www.walterkaufmannfilm.de

Von Stas Riko

Als Ho Feng Shan 1997 mit 96 Jahren verstarb, gab es in der Zeitung nur eine kleine Todesanzeige. Damals wusste noch niemand von seinen Taten: der „chinesische Wallenberg“ erzählte seine Geschichte weder seiner Familie noch Freunden.

Dabei gäbe es genug zu erzählen. Von 1938 bis 1940 diente Ho am chinesischen Konsulat in Wien – und rettete Leben allein mittels seiner Unterschrift. Nie werden wir die genaue Anzahl der vom tapferen Chinesen ausgestellten Visa erfahren, jedoch steht auf dem einzigen erhaltenen Visum die Serien-Nummer 4.000. Prof. Suji Sin, Spezialist für jüdische Geschichte der Universität Nanjing, behauptet: „Heute können wir mit Sicherheit sagen, dass Ho Feng Shan 5.000 Leben gerettet hat. Mehr noch, Ho war der erste Diplomat, der begriff, welcher Gefahr die Juden ausgesetzt waren, und begann, ihnen zu helfen.“

Und während die Botschaften anderer Länder tausende Gründe fanden, um die Visumgesuche der Juden abzulehnen und diese somit dem unmenschlichen Regime überließen, riskierte Ho mindestens seine Kariere, womöglich auch sein Leben. Er tat das entgegen dem direkten Befehl seines Vorgesetzten Chen Jie: Dieser forderte die Anzahl der ausgestellten Visa zu verringern. Als die Nazis das Büro, in dem sich die chinesische Botschaft befand, beschlagnahmten, eröffnete Ho aus eigenen Mitteln ein neues Büro, mit dem einzigen Ziel, weiterhin Leben zu retten. „Das war sein Wesen“, erzählt die Tochter von Ho Feng Shan, Manli Ho, die bereits seit 10 Jahren das Leben ihren Vater erforscht. „Mein Vater war prinzipientreu, ehrlich und direkt.“

 

Unter japanischer Besatzung

Die von Ho ausgestellten Visa waren einzigartig: sie waren ausschließlich für Schanghai gültig. Zu der Zeit war die Stadt unter japanischer Besatzung, dennoch wurde dort keine Immigrationskontrolle durchgeführt. Eigentlich konnte man in die Hafenstadt Schanghai auch ohne Visum gelangen. Wozu aber ein Visum für eine Stadt, die gar nicht danach verlangt?

In der Antwort auf diese Frage liegt die ganze Raffinesse von Hos Vorhabens.

Ein von Ho Feng Shan ausgestelltes Visum


Mit dem ausgestellten Visum fuhren jüdische Flüchtlinge nicht unbedingt nach Schanghai. Mit diesem Dokument konnten sie ein Transit-Visum für die USA, Palästina oder Philippinen erlangen. Da jedoch die ersten Visa für Schanghai waren, entstand unter den Juden Österreichs ein Mythos über die ferne Stadt, den sicheren Hafen, wo man um jeden Preis hin muss.

„Die Gerüchte verbreiteten sich schnell, wie ein Lauffeuer. Plötzlich redeten alle über ein Visum nach Schanghai, und die Juden waren zu allem bereit, um es so schnell wie nur möglich zu erhalten. Bald war der Name ‚Schanghai‘ in aller Munde; alle wussten, dass man so gut wie keine Dokumente benötigt, um dorthin zu fliehen“, erzählt Manli Ho.

Laut mancher Historiker bekamen die Schanghai-Visa auch rumänische und polnische Juden, die keinen offiziellen Flüchtlingsstatus hatten, da ihre Länder zu dieser Zeit noch nicht von Nazis besetzt worden waren.

Unter denjenigen, die den ersehnten Stempel erhielten, war der 17-jährige Eric Goldstaub; die Papiere hat er zusammen mit zwanzig anderen Mitgliedern seiner Familie bekommen. Nach dem Anschluss Österreichs 1938 irrte er von einer Botschaft zur anderen und flehte die Beamten an, ein Ausreisevisum auszustellen, bekam jedoch eine Absage nach der anderen. Es ist kaum zu glauben, aber ihm wurde in 50 diplomatischen Vertretungen der verschiedenen Länder das Visum verweigert. Dann ging er zur chinesischen Botschaft, wo er von Ho Feng Shan herzlich empfangen wurde.

„Ich war konsterniert – man hatte mich sehr höflich und mit einem warmen Lächeln empfangen“, erinnerte sich später Goldstaub. „In der chinesischen Botschaft sagte man mir sofort, dass für ein Visum lediglich die Pässe benötigt werden; über alles andere würde sich die Botschaft selbst kümmern.“

Eric Goldstaub starb 2012 in Toronto im Alter von 91 Jahren. „Er war immer sportlich aktiv und fit – spielte Fußball, fuhr Ski. Auch mit 90 ging er jeden Morgen schwimmen und danach spazieren“, erzählte sein Sohn Danny. Das Schanghai-Visum rettete nicht nur diesen einen Menschen – es schenkte Leben auch seinen Nachfahren. „Stellen Sie sich einen Stammbaum vor. Ohne Hos Hilfe gäbe es einen ganzen Zweig eines solchen Baumes nicht; er gab Vielen das Leben“, sagt Goldstaub junior. Und das ist nur eine Geschichte von Tausenden, möglicherweise von Zehntausenden.

 

Ghetto in Schanghai

Unter all dem Gräuel und der Zerstörung des Krieges war das von den Japanern besetzte Schanghai eine Art Arche Noah, wo sich etwa 25.000 jüdische Flüchtlinge versteckten. 1943 jedoch errichteten die Besatzer das Schanghaier Ghetto – ein sogenannter „ausgewiesener Bezirk“ für staatenlose Flüchtlinge; alle Juden wurden schließlich gezwungen, dorthin zu ziehen.

Der Professor der Geschichte an der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften, Van Xanh, beschäftigt sich in seiner Forschung mit der zeitgenossischen Geschichte der Juden in China. Er erzählt, dass das Leben im Ghetto zunächst recht schwierig war: die Flüchtlinge mussten in überfüllten Zimmern unter unhygienischen Bedingungen hausen, unter der steten Androhung von Repressalien seitens des japanischen Militärs. Aber mit der Zeit konnten jüdische Flüchtlinge allen Schwierigkeiten zu Trotz etwas Normalität walten lassen, so dass der Bezirk allmählich österreichischen oder deutschen Städtchen ähnelte. Die größte Straße im Ghetto mit ihren Cafés und zahlreichen Geschäften nannte man sogar „Klein-Wien“. Es gab mehrere Theatertruppen, Orchester, Sportmannschaften für Fußball und Tischtennis. Unter Flüchtlingen fanden sich auch Journalisten und Redakteure, und bald erschien ein Dutzend deutschsprachiger Zeitungen.

Ho Feng Shan wurde am 10. September 1901 in eine einfache, arme Familie in der Provinz Hunan hineingeboren. Er war sieben Jahre alt, als sein Vater starb. Die Familie erhielt Unterstützung von der örtlichen norwegischen lutherischen Mission, was dem jungen Ho eine solide Bildung in westlicher Tradition, verbunden mit konfuzianischer Ethik, ermöglichte. 1926, nach dem Studium an der Yali-Privathochschule, erhielt er ein Fortbildungs-Stipendium für ein Studium an der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität und promovierte dort 1932 Wirtschaftswissenschaften.

Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte Ho seine diplomatische Tätigkeit fort und war Taiwans Botschafter in Ägypten, Mexiko, Bolivien und Kolumbien. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte Ho Feng Shan in San Francisco – inzwischen als amerikanischer Staatsbürger.

Seine Geschichte wurde nur durch Zufall bekannt. Als seine Tochter Manli, von Beruf Journalistin, einen Nachruf für Ho Feng Shan veröffentlichte, schrieb sie dort, dass Ho unter großer Gefahr Juden rettete. Diesen Nachruf sah der Kurator einer Ausstellung über die geretteten Juden, woraufhin er Kontakt mit Manli aufnahm.

 

Späte Entdeckung und Ehre

Ruhm und Anerkennung erreichten Ho Feng Shan erst Jahre später. 2000 wurde ihm von Yad Vaschem post mortem der Titel „Gerechter unter den Völkern“ verliehen. Nur noch einem chinesischen Staatsbürger außer Ho wurde diese Ehre zugeteilt – Pan Jun Shun, der während des Zweiten Weltkrieges in der besetzten Ukraine ein jüdisches Mädchen versteckte und rettete.

2008 verabschiedete der US-Senat einen Sonderbeschluss zu Ehren Ho Feng Shans; vor einigen Jahren wurde an dem Gebäude des ehemaligen chinesischen Konsulats in Wien eine Gedenktafel angebracht (heute befindet sich dort das Ritz Carlton Hotel). Ebenfalls postum, anlässlich des 70. Jahrestages des Kriegsendes in Asien, wurde Ho eine Auszeichnung von Taiwans Präsident verliehen.

In seinen Memoiren (1990) schrieb Ho Feng Shan: „Angesichts der fatalen Lage der Juden forderte meine menschliche Natur nur eins – ein tiefstes Mitgefühl. Als Zeuge einer solchen Tragödie ist es unmöglich, teilnahmslos abseitszustehen; das vollkommen Natürliche ist alles zu tun, um den Menschen in dieser Situation zu helfen.“ (Hos Memoiren sind 1990 auf Chinesisch erschienen; die englischen Ausgabe 1997 – Ho starb im September 1997 – wurde verkürzt herausgegeben, viele Passagen fehlten; das erklärt womöglich, warum die Einzelheiten über die Rettung der Juden nicht bereits früher, zu seinen Lebzeiten, bekannt wurden, - Anm. d. Übers.)

Manli erinnert sich: „Wem viel gegeben wird, von dem wird viel zurückgefordert werden – das war sein Kredo, sein wichtigstes Lebensprinzip.“

Sein Name darf nicht vergessen werden, denn er war einer von denen, die das Wesen der Menschlichkeit verkörpern.

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