Aleksandar Tišma: „Erinnere dich ewig.“

Was es bedeutet 1924 in Jugoslawien als Sohn einer Jüdin zur Welt zu kommen und alle Stationen der ebenso komplizierten wie schrecklichen Geschichte dieses Landes mitzuerleben, erfährt der Leser in der neu auf Deutsch erschienenen Autobiografie von Aleksandar Tišma.

Von Filip Gaspar

Deutsche Leser kennen an Schriftstellern aus dem ehemaligen Jugoslawien höchstens den Literaturnobelpreisträger Ivo Andrić – wenn überhaupt. Doch wer erfahren möchte, was es bedeutet 1924 im damaligen Königreich Jugoslawien als Sohn eines orthodoxen Serben und einer ungarischen Jüdin, und somit als Halbjude, das Licht der Welt zu erblicken, den Zweiten Weltkrieg in ständiger Lebensgefahr zu durch- und überleben, den Sieg der Tito-Partisanen und die Errichtung und den Zerfall eines kommunistischen Jugoslawiens zu erleben, dem ist die Autobiographie von Aleksandar Tišmas wärmstens zu empfehlen. Dass diese nun endlich auf Deutsch verfügbar ist, hat man den Übersetzern Mirjana und Klaus Wittmann zu verdanken.

Aleksandar Tišma kam am 16. Januar 1924 im Dorf Horgoš, im nördlichen Serbien an der Grenze zu Ungarn, zur Welt, das 120 Kilometer von der Stadt Novi Sad in der Vojvodina entfernt war, wo er die meiste Zeit seines Lebens verbringen sollte. Dort wuchs er unter Ungarn, Deutschen, Juden, Serben, Kroaten, Russen, Ruthenen und Slowaken auf. Dass jeder Einwohner der Vojvodina mehrere Sprachen beherrschte, war vollkommen normal.

Aus diesem Potpourri der Völker schöpfte Tišma zeitlebens Inspirationen für seine Werke. Sein Leben ist durchzogen von Ambivalenzen; als „Halbjude“, obwohl serbisch-orthodox getauft, fühlte er sich nie richtig einer Seite zugehörig. Der neben Serbisch auch fließend Ungarisch, Deutsch, Englisch und Französisch sprechende Tišma wollte zeitlebens nach Paris übersiedeln. Weil ihm Parteifunktionäre lange Zeit den Reisepass verwehrten, erhielt er diesen erst 1957. Doch dann sah er den Zeitpunkt für einen Wegzug aus Novi Sad als verstrichen an, und schaffte es somit nie aus der stark ungarisch geprägten Stadt in der Vojvodina heraus.

Pech für Tišma, doch ein Riesenglück für Novi Sad, dem durch Tišmas literarisches Werk ein Denkmal gesetzt worden ist. In Novi Sad war er jedoch der Willkür kommunistischer Politiker ausgeliefert. Seine Feigheit hinderte ihn schließlich daran, sein Bedürfnis nach Kosmopolitismus auszuleben, was ihn dazu zwang ins innere Exil zu gehen und somit zu einem Chronisten jener Zeit zu werden. Zwei tiefgreifende Ereignisse des Jahres 1992 veranlassten ihn, sein bisheriges Leben zu überdenken und mit der Arbeit an seiner Autobiografie zu beginnen: Der blutige Zerfall Jugoslawiens und der Tod seiner jüdischen Mutter.

Beide stehen für die Multikulturalität des Balkans, der soeben zu Grabe getragen wurde. Er kam langsam zu internationalem Ansehen für seine Werke, doch hatte 1992 bereits aufgehört Romane zu schreiben. Diese Autobiographie und seine Tagebücher sollten die letzten Ergüsse aus seiner Feder sein. Während der blutigen Auseinandersetzungen im Zuge des Auseinanderbrechens Jugoslawiens in den 1990er Jahren in Kroatien und vor allem Bosnien-Herzegowina (in Serbien selbst wurde so gut wie keine Kugel abgefeuert), galten die Romane von Tišma als mahnender Kommentar. Nach seinem Tod geriet er hierzulande schnell in Vergessenheit. Darum kann diese Autobiografie dabei helfen ihn und sein Werk wiederzuentdecken.

 

Parteifunktionäre, Prostituierte und Profiteure

Beim Lesen fühlt man sich in eine andere Zeit versetzt. Dem Leser wird die Welt der Parteifunktionäre, Prostituierten, Profiteure, Kriminellen, Halbjuden und Halbdeutschen, Dissidenten und Opportunisten gezeigt. Er kannte all die verschiedenen Milieus und gehörte doch zu keinem – was ihm den Vorteil verschaffte sie mit der Distanz eines Schriftstellers zu beschreiben und verewigen zu können. Vor allem die zwischen 1960 bis 1980 entstandenen Werke Das Buch Blam, Der Gebrauch des Menschen, Treue und Verrat, Kapo und den Erzählungsband Schule der Gottlosigkeit „bilden diese fünf Bücher das Pentateuch, den zentralen Zyklus meines literarischen Werks“, wie er selbst schreibt. Sie spielen nicht ohne Grund alle fünf während des Zweiten Weltkriegs und in den ersten Nachkriegsjahren in Jugoslawien. Das sind die Jahre, die sein Leben am stärksten geprägt haben. Von 1941 bis 1944 besetzte Ungarn Novi Sad. Im Januar von 1942 kam es zu einem Massaker an Serben und Juden, dem über 1.200 Menschenleben zum Opfer fielen. Terezija, die jüdische Großmutter von Tišma, verdankt ihr Überleben nur dem glücklichen Umstand, dass am dritten Tag von ganz oben angewiesen wurde, das Massaker zu beenden, weil „die Gerüchte über das Massaker auch den im ungarischen Parlament akkreditierten Korrespondenten ausländischer Zeitungen zu Ohren gekommen seien“. Dieses Massaker spielt auch die zentrale Rolle in seinem Roman „Das Buch Blam“. Dort schildert er in einer Szene die Razzia, die zwischen dem 21. und 23. Januar 1942 durchgeführt wurde, bei der die ungarischen Besatzer Serben und Juden an der vereisten Donau erschießen.

Seine Großmutter zieht daraufhin nach Budapest, der junge Aleksandar kommt mit und hat Glück im Unglück. Denn als er zusammen mit Hunderten von Kommilitonen in ein Arbeitslager nach Transsilvanien geschickt wird, bewahrt in das vor der Deportation nach Ausschwitz.

Die Familie von Tišma hatte großes Glück, denn keine Mitglieder fielen der Schoah zum Opfer. Dass sich diese Zeit trotzdem eingebrannt hatte, sieht man an der Reaktion seiner Mutter. Als 1991, mit der Unabhängigkeitserklärung von Slowenien und Kroatien, Jugoslawien endgültig auseinanderbrach, und auf den Fernsehbildschirmen die ersten Panzer der serbisch dominierten jugoslawischen Volksarmee Richtung Kroatien rollten, fragte ihn seine mittlerweile an starker Demenz erkrankte Mutter: „Lassen sie dich in Ruhe?“. Doch neben den Themen wie Krieg, Besatzung und einer nicht geklärten Identitätsfrage, kommt auch Tišma früh entbrannte Leidenschaft für das älteste Gewerbe der Welt nicht zu kurz. Nachdem er in einer „Kneipe am Stadtrand eine fette, kleinwüchsige Frau mit Hakennase sah“ und mit dem „Geld aus der Vase, in der Mama es aufbewahrte“ sich Liebe erkauft hatte, sollte er nie wieder von dieser Leidenschaft loskommen. Er beschreibt es selbst ganz offen: „Seitdem suchte ich nur noch käufliche Körper, immer neue, […]. Ich war von einem inneren Bedürfnis getrieben, ständig meine Gespielinnen zu wechseln, […] Dasselbe mit derselben Frau zu wiederholen hätte mich nicht mit demselbem Feuer erfüllt.“

 

Eine Frau war ihm zu wenig

So ist es nicht verwunderlich, dass seine Ehe endgültig in den 1980ern scheiterte, als er aufgrund seiner gestiegenen Popularität zu Kongressen und Auslandsreisen eingeladen wird. Die Institution der Ehe und Entscheidung für nur eine Frau war nichts für den Frauenhelden, genauso wenig wie die Zugehörigkeit zu einer Nation. Tišma macht den von ihm idealisierten Westen mitverantwortlich für den Zerfall seiner multikulturellen Heimat Jugoslawien und warf ihm Untätigkeit vor. Den Leser erwartet keine kritiklose Verherrlichung von Jugoslawien, wer jedoch mehr Kritik erwartet hatte, der möge bedenken, dass die brutalsten Verbrechen erst nach 1992 folgen sollten.

Diese Autobiografie ist lesenswert, weil Tišma es schafft, seinen privaten Erlebnissen mit politischen Geschehnissen zu verknüpfen. Es trifft sich gut, dass 2022 Novi Sad zur Europäische Kulturhauptstadt gewählt worden ist. Zum jetzigen Zeitpunkt spielt Aleksandar Tišma noch keine größere Rolle im Programm. Vielleicht wird sich das noch ändern. Doch auch, wenn nicht: Der Umstand, dass ihn seine Heimatstadt, die er mit seinem Werken berühmt gemacht hat, und die ihn jetzt möglicherweise verschmäht, hätte ihm wahrscheinlich sogar gefallen.

 

Aleksandar Tišma, „Erinnere dich ewig. Autobiographie“. Aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann. 24,70 Euro / 311 Seiten. Schoeffling & Co., Frankfurt/Main 2021

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