Fantastischer Stanislaw Lem

Zum 100. Geburtstag des großen jüdischen Denkers und Science-Fiction-Autors

Stanislaw Lem© LUKASZ TRZCINSKI / FOTORZEPA / AFP

Von Alexander Kumbarg

„Fremd, schwer verständlich, spöttisch und ernst zugleich ist die Welt, in der ich lebe und schreibe“, sagte Stanisław Lem, polnischer Science-Fiction-Autor, Philosoph, Futurologe, Publizist, Literaturkritiker, Literaturtheoretiker... Es gibt viele Arten der Kreativität, aber es wäre richtiger, diesen raffinierten, enzyklopädisch gebildeten Intellektuellen mit einem Wort zu beschreiben: Denker. Ein seltener Begriff in unserer Zeit.

Das schöpferische Erbe von Stanislav Lem ist gigantisch: „Gast im Weltraum“, „Robotermärchen“, „Solaris“, „Also sprach Golem“, „Inspektion vor Ort“, „Die Maske“, „Das Rätsel“, „Frieden auf Erden“ – diese und andere Bücher Lems, übersetzt in mehr als 50 Sprachen, wurden von Dutzenden Millionen Menschen gelesen und in Aphorismen zerlegt. Lems thematische Bandbreite ist beeindruckend. Er schrieb über die Probleme der menschlichen Existenz in der zukünftigen Welt der Technik und über utopische Gesellschaften, über andere Welten und Kollisionen der Menschheit mit außerirdischen Geheimnissen, über Kybernetik und Logik, Geschichte und Ethik; stellte neue Hypothesen und Konzepte auf.

Ebenfalls beeindruckend ist die Genrevielfalt: fantastische Münchhausiaden, realistische Erzählungen, philosophische Essays, Krimis mit philosophischen Elementen, Literaturtheorie, subjektive Buchkritiken. Lem betonte, dass er „versucht, Feuer und Wasser, Fantasie und Realismus zu vereinen“. Und das alles mit einem charakteristischen grotesken Humor, Ironie, vielen Anspielungen und ausgeklügelten Wortschöpfungen. Gleichzeitig ging er das Schreiben von Büchern äußerst seriös an, nachdem er zuvor die notwendigen Bereiche vieler Wissenschaften studierte. „Die Welt eilt in die Zukunft… Wer Bücher in einer solchen Welt schreibt, muss stets umfassende Veränderungen berücksichtigen“, sagte der Autor. Vieles von dem, was er in der Zukunft der Menschheit gezeichnet hat, ist bereits wahr geworden: künstliche Intelligenz, virtuelle Realität, Nanoroboter, das Klonen, Verdrängung des Menschen durch Automatisierung der Herstellung, ein Gerät namens Eye-Phone usw. Es gab jedoch Prognosen, die nicht realisiert wurden, beispielsweise gesellschaftlich-politischer Natur. Lem war der Meinung, dass er den Zerfall der Sowjetunion nicht mehr erleben würde, fürchtete lange Zeit einen Atomkrieg zwischen den USA und der UdSSR und vermutete einen globalen Konflikt, verursacht durch Untergang des Kommunismus. Generell betrachtete er die Zukunftsforschung seit einiger Zeit mit gewisser Skepsis und hielt sie vor allem in der Politik für „völlig unmöglich“.

 

Lem aus Lemberg. Der Holocaust

Lem berührte in seinen Werken selten jüdische Themen direkt, aber in einer Reihe von Büchern verschlüsselte er seine eigene Vergangenheit als Holocaust-Überlebender. Zu diesem Schluss kommt die polnische Forscherin Agnieszka Gajewska in ihrem Buch „Der Holocaust und die Sterne“. Er wäre während des Lemberger Judenpogroms 1941 fast gestorben und vermied es später, über das, was er während des Krieges erlebte, zu reden, sprach jedoch in seinen Werken darüber.

Lem wurde 1921 als Sohn einer jüdischen Familie in Lemberg, das damals zu Polen gehörte, geboren. Er hatte eine glückliche Kindheit, aber die Jugend verging in einer bedrückenden Atmosphäre der Besatzung – zuerst der sowjetischen, dann der deutschen. Laut Gajewska gehörte Lem beim Einmarsch der Nazis in Lemberg zu denen, die die Leichen von Gefangenen, die von der sowjetischen Geheimpolizei erschossen wurden, aus dem Brigidki-Gefängnis trugen, und er wäre danach zusammen mit vielen anderen Juden beinahe selbst zum Opfer werden. Doch dann kam ein deutsches Filmteam ins Gefängnis, um den kommunistischen Terror zu filmen, und einige der Menschen, darunter Lem, entgingen der Hinrichtung. Wahrscheinlich verbrachte der junge Mann einige Zeit im Ghetto von Lemberg. Mit gefälschten polnischen Dokumenten gelang ihm die Flucht, er bekam sogar einen Job bei einer deutschen Firma. Gajewska meint, dass Lems realistischer Roman „Krankenhaus der Verklärung“ nicht nur von der Ermordung psychisch Kranker im von den Nazis besetzten Polen handelt, sondern auch von der Tragödie der Juden von Lemberg. Das Thema des Holocausts ist außerdem in der Science-Fiction-Prosa des Schriftstellers verborgen.

Versteckte Anspielungen auf den Völkermord an den Juden findet Gajewska in „Pilot Pirx“, in den „Sternentagebüchern des Weltraumfahrers Iyon dem Stillen“, in „Rückkehr von den Sternen“ und anderen Werken. Und in dem Roman „Die Stimme des Herrn“, wo Professor Rappoport die Geschichte erzählt, wie die Nazis ihn während der Kriegsjahre beinahe getötet hätten, offenbarte Lem die Ereignisse seiner eigenen Biografie. Dass Lem in „Die Stimme des Herrn“ „die Natur seines Traumas“ zeigte, teilt der russische Schriftsteller und Literaturkritiker Dmitri Bykow, der in seinem Artikel über den Science-Fiction-Autor Rappoports Geschichte zitiert. Lem selbst hat in seiner Autobiographie und in einem Interview nichts über das Pogrom von Lemberg und seinen möglichen Tod gesagt. Er äußerte sich lediglich darüber, dass es ihm und seinen Eltern gelungen sei, aus dem Ghetto zu fliehen und die Nazi-Besatzung dank seines Vaters, dem Arzt Samuel Lem, zu überleben, der es schaffte gefälschte Dokumente zu organisieren. Zur gleichen Zeit starben fast alle Verwandten von Lem im Feuer des Holocaust.

Stanislaw betonte, dass es ihm „damals in der ‚Schule des Lebens‘ mehr als deutlich wurde“, kein „Arier“ zu sein. „Meine Vorfahren waren Juden. Ich wusste nichts über die jüdische Religion; leider auch nichts über die jüdische Kultur; tatsächlich haben mich nur die Nazi-Gesetze darüber aufgeklärt, welches Blut in meinen Adern fließt.“ Laut Gajewska legte die Familie Lem jedoch, obwohl sie assimiliert wurde, nicht vollständig ihre jüdischen Wurzeln ab. Finanziell unterstützte sie die jüdische Gemeinde von Lemberg, und Stanislaw studierte Judentum. Während der Besatzung arbeitete der zukünftige Schriftsteller als Automechaniker, half der polnischen Anti-Nazi-Gruppe. Er hielt es jedoch bescheiden für übertrieben, diese seine Tätigkeit als „Teilnahme an der Widerstandsbewegung“ zu bezeichnen: „Der ganze Beitrag bestand darin, dass ich Sprengstoff, Bajonette, Funkgeräte, die aus zerstörten russischen Panzern entfernt wurden, an die Untergrundorganisation lieferte... Ich hatte ein angenehmes Gefühl, wenigstens auf diese Weise einer patriotischen Bewegung Hilfe zu leisten. Dabei war es nicht einmal Patriotismus - ich habe es mehr aus Neugier getan... Ich war kein Held.“

Eine Zeit lang hat er einen Juden, einen flüchtigen Bekannten, bei sich versteckt – auf dem Dachboden in der Garage, in der er arbeitete: „Wir kannten uns kaum. Ich erinnere mich nicht, haben wir schon mal zusammen Fußball gespielt? Er lief auf der Straße auf mich zu... Ich konnte ihm nicht sagen: ‚Hau ab!‘ Ich wusste, dass ich ihm nicht helfen konnte, aber ich konnte auch solche Worte nicht sagen. Manchmal reagieren wir richtig aus Scham oder aus Schüchternheit und nicht aus edlen Motiven. Ich war jedenfalls nicht so edel...“

Nach Kriegsende stellte die sowjetische Regierung der Familie Lem ein Ultimatum: entweder im sowjetisch gewordenen Lwow zu bleiben und die sowjetische Staatsbürgerschaft anzunehmen – oder auf polnisches Gebiet umzusiedeln. Sie entschieden sich für Letzteres – so landete die Familie, die fast ihr gesamtes Vermögen verloren hatte, in Krakau. Der Vater war über 70, musste aber trotzdem in einem Krankenhaus arbeiten. Sie lebten arm wie Kirchenmäuse. Stanislaw studierte Medizin an der Jagiellonen-Universität. 1949 sollte er sein Studium beenden, entschied sich aber dafür, die letzten Prüfungen nicht zu bestehen, da es zu dieser Zeit akuten Ärztemangel in der Armee gab und die Absolventen zum lebenslangen Militärdienst gehen mussten. Er hat also nie einen medizinischen Abschluss gemacht. Er begann nun Geschichten zu schreiben, um Geld zu verdienen. Allmählich wurde ihm klar, dass Literatur seine Berufung ist.

 

„Das Krankenhaus der Verklärung“

Lems Weg zum Ruhm war zunächst nicht mit Rosen übersät. Sein erster Roman, „Das Krankenhaus der Verklärung“, den er 1948 noch als Medizinstudent schrieb, bereitete ihm massive Probleme. Das Werk wurde als nicht in die Schemata des sozialistischen Realismus passend eingeschätzt (sozialistischer Realismus, auch Sozrealismus genannt, war die von der Kommunistischen Partei in der UdSSR beschlossene Stilrichtung, allumfassend für jede Art der Kunst: es sollte der sozialistische Alltag des Arbeiter- und Bauerstaates präsentiert werden. Diese Richtlinien galten auch in den osteuropäischen – sozialistischen – Ländern, wo ebenfalls eine entsprechende Zensur herrschte. Die Linientreuen genossen zahlreiche Privilegien; nicht wenige frei denkende Künstler, deren Werke nicht anerkannt wurden, mussten hingegen um ihre Existenz kämpfen, - Anm. d. Übers.).

Ein-, zweimal im Monat reiste Lem von Krakau nach Warschau zu endlosen Konferenzen im Verlag, wo man ihm erklärte, der Roman sei reaktionär und ideologisch fehlerhaft. In der Hoffnung, das Buch zu retten, schrieb Stanislaw es endlos um, änderte es und fügte eine Fortsetzung hinzu. Später begriff er, dass dies die sogenannte „Salami-Taktik“ war – schrittweise Sowjetisierung, Erzwingung von Zugeständnissen mit Hilfe kleiner Schritte: wenn der Autor den zweiten Band geschrieben hat, wird er auch den dritten schreiben; wenn er es ein wenig in die „richtige“ Richtung gelenkt hat, wird er das auch weiterhin tun. „Das Krankenhaus“ wurde erst 1955 und nur als Teil einer größeren Erzähltrilogie veröffentlicht.

 

Zufall und Gesetzmäßigkeit

In seiner Autobiografie „Mein Leben“ setzte sich Lem mit zwei gegensätzlichen Polen auseinander. Das eine ist ein Zufall, das zweite ist eine Gesetzmäßigkeit, die unser Leben organisiert. „Was war das alles, wodurch ich geboren wurde und, obwohl mehrmals vom Tode bedroht, überlebte und Schriftsteller wurde“, fragt Lem, „ist es wirklich nur das Ergebnis einer langen Reihe von Zufällen? Oder gab es doch eine Art Vorherbestimmung, nicht in Gestalt einer übernatürlichen Moira, die mein Schicksal schon in der Wiege vorhersagte, sondern irgendwo in mir selbst versteckt – sagen wir, wie es sich für einen Agnostiker und Empiriker gehört, in der Heredität.“ Die Rolle des Zufalls in seinem Leben kann Lem nicht unterschätzen. Lems Vater diente als Arzt in der österreichisch-ungarischen Armee und geriet während des Ersten Weltkriegs in russische Gefangenschaft. Und nach dem Oktober 1917 (die Revolution in Russland und die Machtergreifung der Bolschewiki, - Anm. d. Übers.) wollte man ihn als Offizier – und damit als Klassenfeind – an die Wand stellen; er wurde schon in Begleitung von Soldaten in einer ukrainischen Stadt zu seiner Hinrichtung geführt. Aber dann bemerkte und erkannte ihn ein jüdischer Friseur aus Lemberg, der den Stadtkommandanten rasierte und bei ihm ein- und ausging. Dank seiner Hilfe wurde der Vater freigelassen und kehrte zu seiner Braut nach Lemberg zurück – sonst wäre Stanislaw nie geboren worden. In den Kriegsjahren begriff Lem instinktiv die Bedeutung der Kategorien „Zufälligkeit“ und „Gesetzmäßigkeit“ im menschlichen Leben mit seiner eigenen Haut, wie ein verfolgtes, getriebenes Tier. Die Praxis lehrte ihn: „Leben und Tod hängen von den kleinsten, unbedeutenden Umständen ab: auf dieser oder jener Straße ging man zur Arbeit, kam man eine Stunde oder zwanzig Minuten später zu einem Freund, waren bei einer Straßenrazzia die Haustüren geschlossen oder geöffnet…“ Er begab sich nicht selten in Gefahr. Manchmal hielt er es für notwendig, manchmal war es nachlässig und töricht: „Und jetzt, wenn ich mich an solch verzweifelte und idiotische Handlungen erinnere, verspüre ich Angst, gemischt mit Fragen, warum und mit welchem Zweck ich mich so verhalten habe.“

 

Außerirdische erreicht man nicht so leicht

Lem meinte, dass das Universum noch von anderen Wesen bewohnt ist. Allerdings in einer solchen Entfernung, die während eines Menschenlebens nicht zu überwinden wäre: „In unserer Galaxie gibt es, denke ich, zu 99 % niemanden, aber in anderen wahrscheinlich schon, einfach der Wahrscheinlichkeitstheorie folgend. Aber erstens sind sie nicht daran interessiert, mit uns zu kommunizieren, und zweitens ist es energetisch sehr schwierig. Und selbst wenn [...] irgendwo in einer Entfernung von hundert Millionen Lichtjahren eine Art humanoider Zivilisation existiert, wie können wir sie kontaktieren? Sie mögen existieren, aber wir werden nie von ihnen erfahren. Auch wenn wir es herausfinden, wird es definitiv nie zu einem Kontakt kommen – es wird rein abstraktes Wissen sein.“

 

Das Pogrom von Jedwabne und die Schmaltsovniki

In seinen Interviews und in einer Reihe publizistischer Artikel, die in die Buchsammlung „So sprach ... Lem“ aufgenommen wurden, widmete sich der Schriftsteller dem jüdischen Thema. Er sprach über den polnischen Antisemitismus, insbesondere über das schreckliche Judenpogrom im Juli 1941 im polnischen Dorf Jedwabne. Seiner Meinung nach fühlten sich die Polen historisch gesehen nicht zu den „Völkern erster Klasse“ gehörend: sie waren von allen Seiten von Feindschaft umgeben und ließen die Teilung des Landes zu. Und, „wenn jemand ständig getreten wird“, dann sucht er nach demjenigen, der dafür büßen muss. Die Juden passten perfekt. Und während der Besatzung gossen die Deutschen großzügig Benzin in das Feuer des polnischen Antisemitismus.

In einem der Artikel schrieb Lem, dass es während der Nazi-Besatzung in Polen mehrere Tausend Schmaltsovniki gab – so hießen diejenigen, die versteckte Juden oder Polen, die Juden halfen, erpressten. Und sofort erhielt er einen anonymen Brief, in dem ihm vorgeworfen wurde, „das Familiennest zu entehren“. Später sah er eine Archivzusammenfassung der Heimatarmee, die Daten enthält, dass es allein in Kleinpolen (einer historischen Region im Südosten und Süden Polens mit dem Zentrum in Krakau) etwa 30.000 Schmalzovniki gab! Lem erinnerte sich auch an den Antisemitismus von 1968. Er hat „keine Opfer gefordert, aber es war schrecklich. […] Auch Gomulka, dessen Frau Jüdin war, nahm an dieser Schande teil“ (Wladyslaw Gomulka war der Chef der Arbeiterpartei Polens, - Anm. d. Übers.).

hielt fest, dass die polnische Kirche oft Antisemiten unterstütze. „Thesen wie ‚die Juden haben Jesus getötet‘ dienen sicherlich nicht der Versöhnung.“ Der Antisemitismus des polnischen klerikalen Milieus hat einen sehr tiefen Hintergrund. Selbst zu Beginn des 21. Jahrhunderts nahmen der Primas und andere Vertreter der Kirchenhierarchie nicht an der Zeremonie zum Gedenken an die Opfer von Jedwabne teil. Lem erinnerte sich an eine Fernsehsendung, in der die Frage gestellt wurde: „Welche Nationalität hatte Jesus?“ Die Antwort lautete: „Pole“.

Allerdings betonte Lem, dass Antisemitismus nicht in allen katholischen Kreisen in Polen vorhanden sei. Er selbst arbeitete mit der bekannten katholischen Zeitschrift „Tygodnik Powszechny“ zusammen, wo er auch Antisemitismus-Themen behandelte. Auch ist seine seit jungen Jahren bestehende Freundschaft mit Karol Wojtyla, dem zukünftigen Papst Johannes Paul II., sehr bekannt (gleichzeitig sind Lems Schriften öfters antireligiös ausgerichtet).

Der Autor erinnerte auch daran, dass während der Verfolgung der Juden im mittelalterlichen Europa Polen zu ihrer Zuflucht wurde (was allerdings im Interesse des Adels war), und an die großartige Tat von Pilsudski (Polens Staatsoberhaupt 1926 – 1935, - Anm. d. Übers.), als 6.000 Juden, die vor der bolschewistischen Revolution nach Polen geflohen waren, schnell die polnische Staatsbürgerschaft verliehen wurde. Ebenfalls schrieb Lem über die Aktivitäten der polnischen Untergrundorganisation „Zegota“ während des Zweiten Weltkriegs, die Juden Hilfe leistete. Er sprach über sein Gespräch mit Władysław Bartoszewski, einem der Zegota-Führer, der ihm sagte, dass ein Netzwerk von acht bis zehn „Ariern“ oder Polen nötig sei, um einen Juden in Polen zu retten. Man bedenke, dass zur gleichen Zeit die Nazis in Polen Menschen sogar für ein Glas Wasser, das einem Juden gereicht wurde, erschossen.

Es wird vielleicht 300 Jahre dauern

Lem hielt das Problem des polnischen Antisemitismus für „höchstwahrscheinlich absolut aussichtslos“: „Ich glaube, das ist ein Versuch, den Gletscher zu schmelzen. Damit müssen wir leben, daran kann man nichts ändern. […] Oder es wird 300 Jahre dauern, diese Mentalität auszurotten... Obwohl der Anteil der Juden in der modernen polnischen Gesellschaft verschwindend gering ist und es junge Antisemiten gibt, die noch nie in ihrem Leben einen einzigen Juden gesehen haben.“ Auf die Frage, „wie man mit der Gesellschaft umgegangen werden soll: mit Berichten über die Haltung der Polen gegenüber Juden während des Krieges einen Spiegel vor die Nase halten oder sie in Ruhe zu lassen“, sagte er: „Es gibt keinen ultimativen Weg, um die Vorurteile vollständig zu beseitigen.“

Lachend erzählte Lem die Geschichte eines sehr aktiven ONR-Mitglieds (eine rechtsextreme polnische Organisation – A.K.), der bezichtigt wurde, nicht ganz „arisch“ zu sein. Er war furchtbar empört, aber vor Gericht präsentierte man ihm Dokumente, die die jüdische Herkunft seiner Großmutter belegten, und dann wurde der Aktivist ohnmächtig.

 

Sag mir, Rabbi...

In einem der Interviews wurde Lem eine interessante Frage gestellt: „Ich sitze vor Ihnen wie vor einem weisen Rabbi und sage: ‚Rebbe, ich habe ein bisschen Zeit und Sie haben ein bisschen Zeit. Sagen Sie mir in wenigen Sätzen, was ich tun soll, um mein Leben nicht zu ruinieren und zu verschwenden?‘“ Und das war Lems Antwort: „Versuchen Sie immer, intellektuelle Unabhängigkeit zu bewahren und versuchen Sie, Ihre eigene Meinung zu absolut allen Fragen der nahen und fernen Welt zu bilden. Lesen Sie nur erstklassige Autoren und erstklassige Bücher... Folgen Sie großen wissenschaftlichen Forschungen und versuchen Sie, unter ihnen zu sein, aber nicht dafür, um Bücher mit Geschwätz zu füllen. Seien Sie ein kritischer Rationalist... Lassen Sie sich nicht so leicht von den neusten Produkten verführen, denn Mode gibt es überall, nicht nur in der Kleidung. Die Mode geht jedoch vorüber und lässt die Verblendeten zurück, die zu sehr an das Flüchtige geglaubt haben...“

 

Übersetzung aus dem Russischen von Irina Korotkina

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