Ein Wiedersehen gab es nicht
Vom Abschied in Duisburg bis zum Tod in Auschwitz: Die Briefe von Johanna und Sally Kaufmann an ihren Sohn Walter Kaufmann aus den Jahren 1939 – 1943
Dr. Joseph Ludger Heid hat ein spannendes Buch zu Walter Kaufmann veröffentlicht.
Handgeschriebene, nicht immer leicht zu entziffernde Texte aus der Sütterlinschrift zu übertragen und in den Rechner einzugeben, ist eine mühselige Arbeit – und in diesem Fall eine quälende dazu, weil es um ein Schicksal dreier Personen geht, ein Schicksal, das berührt, das nicht kaltlassen kann. Dr. Joseph Heid hat sich als Herausgeber des vorliegenden Briefkonvoluts dieser Mühe unterzogen: Er hat die von dem Schriftsteller Walter Kaufmann als Jugendlicher gesammelten Briefe seiner Eltern in Berlin aufgespürt, transkribiert und nunmehr veröffentlicht. Es sind Briefe und Karten, die die Eltern Kaufmann ihrem exilierten Sohn Walter in den Jahren 1939 bis 1943 nach England und Australien schrieben. Heid hat sie Wort für Wort in die moderne Schriftform übertragen, Briefe, die allesamt eine Person betreffen, die selbst gar nicht mit auch nur einer einzigen Zeile zu Wort kommt – der Sohn Walter. Walter Kaufmanns Briefe und Karten, die er seinen Eltern schrieb, sind verloren. Ob die Eltern die Lebenszeichen ihres Sohnes mit in die Lager Theresienstadt und Auschwitz nehmen konnten?
Walter Kaufmann hatte Jahrzehnte keine Pläne, was eines Tages mit den Briefen geschehen sollte. Sie gelangten im Jahre 1956 an Bord eines DDR-Schiffes an ihren Ausgangspunkt – nach Deutschland – zurück, als Walter Kaufmann vom Olympia-Komitee der DDR als Dolmetscher berufen und sein spärlicher Besitz von Sydney nach Deutschland überführt wurde. Nachdem er sich in Berlin/DDR niedergelassen hatte, wurden sie in der Wohnung Walter Kaufmanns zunächst in Kleinmachnow bei Berlin, später am Märkischen Ufer in Berlin-Mitte aufbewahrt. Im Jahre 2008 überließ er das Briefkonvolut der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, als Vorlass. Hier fanden sie ihr endgültiges Domizil und Heid sein Thema.
Es sind insgesamt 144 Poststücke – Briefe, Karten, Päckchen –, die Johanna und Sally Kaufmann ihrem Sohn zukommen ließen, Zeugnisse von mutigen Eltern, die sich aus Liebe von ihrem Sohn trennten, um ihn in schwerster Zeit in Sicherheit zu wissen. Die Briefe und Karten atmen den Geist inniger Zuneigung, handeln auch von gütigen, anständigen Menschen, die in Großbritannien einem jungen Menschen Zuflucht und die Chance auf ein neues Leben gewährten.
Es sind aufwühlende Szenen, die sich am Morgen des 19. Januar 1939 auf dem Duisburger Hauptbahnhof abspielen. Weinende Mütter, weinende Kinder, Abschiedsschmerzen. Peinlich berührt sind die Reisenden, die mehr oder wenig zufällig Augen- und Ohrenzeugen dieses Abschiedsszenarios werden und mitbekommen, was sich auf dem Perron ereignet. Johanna Kaufmann ist glücklich, dass ihr Sohn Walter nach Großbritannien darf, und zugleich unglücklich über die Trennung.
Der 15-jährige Walter Kaufmann kann nicht erfassen, nicht einmal ahnen, dass dies ein Abschied für immer sein wird. Er würde die geliebte Mutter, den Vater nie mehr wiedersehen. In seine Heimatstadt Duisburg, in der er sein bisheriges Leben verbracht hat, würde er vorläufig nicht mehr zurückkehren. Erst als erwachsener Mann wird er die Stadt seiner Jugend und seiner Eltern wiedersehen. Und das wird ein schwieriges, schmerzliches und ernüchterndes Wiedersehen sein, eine Wiederbegegnung, die mit Trauer und Enttäuschungen verbunden ist, Wunden aufreißt, die nie wirklich geheilt werden.
Für die zurückbleibende Johanna Kaufmann bedeutet der Abschied von ihrem Sohn der Beginn einer Leidenszeit, die nie mehr enden sollte. Für den jungen Walter bedeutet England Sicherheit, Leben und das Ende der Verfolgung, gleichzeitig aber auch Abschied, Trennung, der Verlust der Heimat. Ängste aller Art treten zu Tage, das sind Ängste, die vielfach als Folgen eines traumatischen Identitätsverlustes beschriebenen Depressionen und Beziehungsstörungen, – wozu noch das Schuldgefühl der Überlebenden gehört, das in der Wissenschaft als „survivors guilt“ bekannt ist.
Die Eltern von Walter Kaufmann, das sind Johanna Kaufmann und ihr Mann Dr. Sally Kaufmann, von den NS-Behörden mit Berufsverbot belegt, gewesener Anwalt und Notar, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Duisburgs, die im Begriff war, sich aufzulösen.
Er, Sally Kaufmann, handelt im Auftrag der Nazi-Behörden, der Gestapo, auf deren Geheiß, und nicht aus eigener Machtvollkommenheit. Er selbst verfügt über keine Macht. Die Nazis haben ihn heimtückisch zu ihrem Werkzeug gemacht, ihn sozusagen als Geisel genommen. Welch eine Erniedrigung für einen unbescholtenen Mann, seinen eigenen Glaubensgenossen die Nachrichten über deren Deportation mitteilen zu müssen. Johanna und Sally Kaufmann werden ermordet, Walter Kaufmann überlebt den Holocaust in Australien in britischer Internierung und anschließendem Militärdienst und beginnt nach Kriegsende ein intensives, erfülltes Leben als anerkannter Schriftsteller.
Kindertransport ab 1938 nach Großbritannien
Es ist nach dem November-Pogrom des Jahres 1938 für die Eltern Kaufmann – Sally Kaufmann wird für einige Wochen als sog. Schutzhäftling nach Dachau deportiert – ein Gebot der Stunde, dass Sohn Walter so schnell wie möglich Deutschland verlassen soll. Mehr als 10.000 Kinder und Jugendliche werden zwischen Dezember 1938 und dem Kriegsbeginn im September 1939 mit dem sogenannten Kindertransport nach Großbritannien gerettet. Einer davon ist Walter Kaufmann, der an seinem 15. Geburtstag am 19. Januar 1939 vom Duisburger Hauptbahnhof seine Reise in das rettende Großbritannien antritt.
Es sind Nachrichten, die sie im Zeitraum vom 19. Januar 1939 bis zum 24. Juni 1943 ihrem Sohn Walter zunächst nach „Otterden near Faversham“ in der Grafschaft Kent zusenden, dann (ab Sommer 1940) in die unwirtlichen Gefangenenlager Hay und Tatura im Südwesten bzw. Nordwesten Australiens, versenden. Zwei Personen schreiben fast täglich Briefe oder Reichspostkarten: Dr. Sally Martin Kaufmann ist beinahe 53 Jahre alt, als er seine Korrespondenz beginnt, seine Ehefrau Johanna steht vor ihrem 49. Geburtstag.
Nach dem Eintritt Großbritanniens in den Krieg mit Deutschland wird der nunmehr sechzehnjährige Walter Kaufmann – wie all die anderen mit einem Kindertransport aus Nazi-Deutschland nach Großbritannien geflohenen deutsch-jüdischen Jugendlichen – zum „feindlichen Ausländer“ erklärt und unter schikanösen Umständen mit Hunderten anderen deutschen Flüchtlingen nach Australien deportiert.
Nachdem Walter Kaufmann aus britisch-australischer Gefangenschaft entlassen ist und viereinhalb Jahre Dienst in der australischen Armee getan hat, beginnt er ein aufregendes Leben, ein komplexes Schriftstellerleben, das ihn über die Jahrzehnte durch die Kontinente führt. Und dabei beobachtet er gut und verdichtet seine Beobachtungen in seinen Erzählungen. In seinen häufig autobiografischen Storys scheinen auch immer wieder die Erinnerungen an seine geliebten Eltern auf.
In Großbritannien lebt und kümmert sich zwar ein „Pflegevater“ mit Namen Hugo Daniels um ihn, doch vermag Walter Kaufmann zu ihm kein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Dieser Mann, „Onkel Hugo“ manchmal auch „Mr. D.“ genannt, ist Eigentümer einer international tätigen Spedition, dem es nicht gelingt, eine Ausreisemöglichkeit für die Eltern Kaufmann zu erreichen.
Die Briefe und Postkarten, die Johanna und Sally Kaufmann ihrem Sohn Walter in dessen Exiljahren in England und Australien schreiben, hat Walter Kaufmann, wie er einmal sagte, aus „Liebe zu den Eltern“ aufgehoben. Er hat die Briefe seiner Eltern wie den sprichwörtlichen Augapfel gehütet, hat sie bei seiner eigenen Deportation bei sich getragen, durch die Irische See, auf dem Militärtransporter „Dunera“ mit all den deutschen Gefangenen an Bord, der deutschen Torpedos trotzte, entlang der gesamten westafrikanischen Küste um das Kap der Guten Hoffnung durch den Indischen Ozean bis in das entlegene Australien. Später dann trägt er sie als angeheuerter Seemann erneut über die Weltmeere hin und her.
Bis zum Novemberpogrom des Jahres 1938 hatten Deutschlands Juden alle möglichen Erniedrigungen und Demütigungen erfahren müssen. Doch das alles war nur ein Vorspiel von dem, was noch an Horror folgen sollte. Von all dem findet sich in den Kaufmannschen Briefen kein Wort, allenfalls zwischen den Zeilen in vager Andeutung.
Etwa 100.000 deutschen Juden gelingt es noch, bis Kriegsbeginn ins Ausland zu entkommen. Doch viele können die Mittel nicht aufbringen oder erhalten keine Auswanderungspapiere. Zu diesen zählen Johanna und Sally Kaufmann, allen Bemühungen zum Trotz. Manche mögen sich trotz allen Elends immer noch nicht von ihrer Heimat trennen. Es ist für den, der das Ende kennt, bedrückend zu lesen, wie sich die Hoffnung der Eltern, ausreisen zu können, durch die Briefe zieht, eine Hoffnung, die immer aufs Neue enttäuscht wird.
Alltags-Banalitäten
Die Briefe und Karten von Johanna und Sally Kaufmann handeln von der Sorge um ihren minderjährigen Sohn. Die Eltern haben derweil die zuversichtliche Erwartung auf ein baldiges Wiedersehen mit ihm. Die Briefe handeln zugleich von der Hoffnung der Eltern, mit ihrem Sohn in einem anderen Land noch einmal neu beginnen zu können.
Inhaltlich spiegeln die postalischen Nachrichten der Eltern nicht annähernd die tatsächlichen Bedrückungen wider, denen sie als Juden ausgesetzt sind. Das mag seinen Grund in der Bemühung haben, den Sohn nicht mehr zu ängstigen, als er ohnehin besorgt ist. Es sind zumeist sachlich gehaltene Berichte, in ihrer Diktion vorsichtig formuliert, sprachlich abgewogen. Erzählt wird vom Alltag in Duisburg, und es sind Handreichungen für den Sohn, damit er sich in der Fremde besser zurechtfindet. Anrede- und Grußformeln sind über alle Maßen persönlich, intim, zärtlich, wenn von „innigst“, „allerliebst“, „herzlichst“, „tausend Küsse“ die Rede ist – sprachliche Superlative.
Dem Sohn wird so weit als möglich Normalität vorgegaukelt: Unbeschwertes „gemütliches“ Zusammensein mit Freunden und Verwandten, mit denen man Kaffee trinkt, Kartoffelsalat mit Würstchen isst, Belanglosigkeiten, Klatsch und Tratsch sind die tonangebenden Nachrichten von Haus zu Haus. Von antijüdischen Maßnahmen des Regimes, die sich auf die noch in Duisburg lebenden Juden und damit auch auf die Kaufmanns unmittelbar auswirken, ist in den Briefen wenig oder nichts zu lesen. Das eigentlich Furchtbare findet sich in den Briefen und Karten nicht wieder, scheint allenfalls zwischen den Zeilen auf – bedrückend für den heutigen Leser, der um das historische Geschehen weiß.
Die letzte Nachricht der Eltern datiert vom 24. Juni 1943 – dem Tag ihrer Deportation. Die elterlichen Briefe erstrecken sich über einen Zeitraum von viereinhalb Jahren, dies waren zugleich Jahre, in denen sich das Schicksal des deutschen Judentums und mit ihm das der Kaufmanns auf tragische Weise entschied. Über das Konzentrationslager Theresienstadt werden die Eltern kurz darauf nach Auschwitz verschleppt und wohl am Tage ihrer Ankunft ins Gas gestoßen.
Walter Kaufmann bekannte einmal, dass kein Tag vergehe, an dem er nicht an seine Eltern denke, die in Auschwitz ermordet wurden, während er, weit entfernt auf der anderen Seite der Erdkugel, in einem britischen Internierungslager in Australien ausharren musste, auf Nachrichten seiner Eltern hoffend, und erst Jahre später vom grausamen Schicksal seiner Eltern erfuhr.
Das Briefkonvolut von Johanna und Sally Kaufmann bildet ein geschlossenes Korpus, das mit dem Tag der Abreise von Sohn Walter am 19. Januar 1939 nach England beginnt und mit dem letzten Lebenszeichen der Eltern, dem Tag ihrer „Abreise“ nach Theresienstadt am 24. Juni 1943 endet.
Niemals ist auch nur von einem einzigen nichtjüdischen Nachbarn die Rede, der Empathie für die verfolgten Juden gezeigt hätte. In den Kaufmannschen Briefen spiegelt sich nicht nur eine „typische“ deutsch-jüdische Familiengeschichte, sondern die Korrespondenz erzählt en miniature die deutsch-jüdische Beziehungsgeschichte in ihren tragischen Facetten. Es ist zugleich eine Geschichte der großen jüdischen Wanderung in den 1930er und 1940er Jahren.
Die Juden, das Volk der Diaspora
Die hier vorgestellten Briefe wurden vor mehr als fünfundsiebzig Jahren geschrieben, die ältesten vor über achtzig Jahren. Es sind „einfache“ Briefe, die die Eltern an ihren heranwachsenden Sohn geschrieben haben, der gerade erst fünfzehn Jahre alt geworden war. Einfache, ungestelzte und schnörkellose, nicht für die Nachwelt geschriebene Briefe, einfach, nicht im (ab)wertenden Sinne gemeint, und ursprünglich nicht verfasst in der Absicht, diese eines fernen Tages vor einem breiteren interessierten Publikum zu veröffentlichen. Wer eine intellektuelle, literarische Tiefe in den Briefen sucht, muss zwangsläufig enttäuscht werden. Es sind Briefe des gewöhnlichen Alltags.
Die Briefe von Johanna und Sally Kaufmann erzählen eine Geschichte von Leid (und unvollendetem) Glück, von einer scheinbaren Normalität, die es so nicht gab. Indes ist es eine Geschichte, die sich tatsächlich so ereignet hat. Eine Geschichte, die von Flucht und Emigration handelt, von geglückter und misslungener. Und von Mord. Eine Geschichte, die von furchtbaren Lebensschicksalen berichtet. Nichts ist frei erfunden. Die Briefe Johanna und Sally Kaufmanns sind für die allgemeine wie für die jüdische Geschichte wichtig und bedeutsam. Eine Geschichte, die sich auch anderswo genauso oder so ähnlich abgespielt haben mag.
Die Heidsche Dokumentation zeigt überdeutlich, wie wenig Nachbarn, Kollegen, Freunde und Bekannte bereit waren, den so grausam Verfolgten zu helfen. Und später – in geschenkter Freiheit – darauf angesprochen, wollte keiner etwas von Verfolgungen und Drangsalierungen mitbekommen haben? Wie verlogen das war, war nach 1945 in vielen deutschen Familien zu erfahren. Man hat es gesehen und gewusst, wer es denn wissen wollte. Ob in Duisburg, ob in Hamburg oder Celle, ob in Berlin oder Weimar. Der Novemberpogrom fand nicht unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt und in Weimar wusste jeder, dass oben auf dem Berg, nahe an Goethes Gartenhaus, ein KZ mit Namen Buchenwald war. Und in Celle wusste auch jedermann, dass in Bergen-Belsen kein Erholungsheim stand. In Hamburg, und nicht nur hier, hat man sich nach dem Abtransport der jüdischen Nachbarn aus dem Hausrat bedienen dürfen. Ganz offiziell und mit deutscher Gründlichkeit organisiert. Aber nach dem Kriegsende waren dann alle ahnungslos.
Der Leser weiß mehr als die Schreibenden
Der Zeitgenosse von heute, der den Verlauf und das grausame Ende der Geschichte kennt, kann die Briefe nur mit großer Beklemmung und Erregung lesen. Er verfügt über ein Wissen, das die Menschen damals nicht hatten, die nicht im Entferntesten auch nur ahnen konnten, was das Schicksal für die zu wehrlosen Opfern herabgewürdigten Juden bereithielt, ein Schicksal, das jede menschliche Fantasie übersteigt.
Walter Kaufmann, hochgeehrter Schriftsteller, ist kurz vor Erscheinen der vorliegenden Edition am 15. April 2021 in Berlin gestorben. Er wurde 97 Jahre alt. Welch ein Leben!
Mit der Herausgabe der Kaufmannschen Briefe hat L. Joseph Heid der Familie Kaufmann ein beeindruckendes Denkmal gesetzt! Man kann dem Buch nur viele Leser wünschen, nicht nur Leser aus Duisburg!
L. Joseph Heid (Hg.): Johanna Kaufmann/ Sally Kaufmann: „Alles Schreiben hat ja das Ziel, daß wir drei wieder zusammenkommen“. Nachrichten an den Sohn Walter Kaufmann 1939-1943, Klartext Verlag, Essen 2021, 413 S., 24,95 Euro.
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