Das blutigste antijüdische Pogrom der Nachkriegsgeschichte

Die Tragödie von Kielce jährt sich in diesem Juli zum 75. Mal

Die Beisetzung der Opfer des Pogrom von Kielce

Von Benjamin Tschernuchin

Das Pogrom von Kielce, das blutigste aller Pogrome nach 1945: Der Verlauf der Tragödie, wurde, so scheint es, minutiös rekonstruiert, die Erinnerung an die Opfer wurde verewigt, die Schuldigen sind bekannt (oder waren sie bloß festgelegt?), dennoch bleiben viele offene Fragen…

Am 1. September 1939 lebten in Polen 3,3 Millionen Juden. Im Gegensatz zu den Juden in der UdSSR hatten sie eine Vorstellung davon, was sie unter den Nazis erwartete. Und so zogen die Kolonnen jüdischer Flüchtlinge nach Osten. Die sowjetischen Behörden hinderten die polnischen Juden zunächst nicht daran, ins Land zu kommen, dann schlossen sie doch noch die Grenzen und schickten sie manchmal sogar zurück. Dennoch konnten mehr als 300.000 Juden aus Polen in die Sowjetunion gelangen. Im Juni 1940 begannen in der UdSSR großangelegte Deportationen von „sozial gefährlichen Elementen“ und Flüchtlingen, darunter mehr als 80 % Juden. So wurden etwa 100.000 jüdische Flüchtlinge in die nördlichen Regionen des Landes deportiert – was ihnen später allerdings das Leben rettete. Nach Kriegsende durften sie nach Polen zurückkehren.

Bis zum Sommer 1946 waren in Polen 250.000 Juden registriert: 25.000 überlebten in Polen selbst, 30.000 kehrten aus den Lagern zurück und der Rest waren Repatriierte aus der UdSSR. Die Rückkehr verlief nicht reibungslos; dafür gab es viele Gründe – von der mangelnden Bereitschaft der ehemaligen Nachbarn, das angeeignete Eigentum zurückzugeben, bis hin zur Identifizierung von Juden mit „fremder Macht“ (vom Triumvirat Boleslaw Bierut - Jakub Berman - Hilary Minc, das das Land bis Mitte der 1950er Jahre führte, war nur Boleslaw Bierut Pole). Von November 1944 bis Dezember 1945 wurden 351 Juden ermordet, hauptsächlich in Kleinstädten und auf den Straßen.

 

Nur ein Prozent

Das konnte jedoch nicht verglichen werden mit dem, was am 4. Juli 1946 in Kielce geschah. Vor dem Krieg waren ein Drittel der Stadtbevölkerung – 25.000 Menschen – Juden. Nach dem Holocaust kehrten etwa 250 Menschen zurück, von denen die meisten im Haus Nr. 7 in der Planty-Straße untergebracht wurden, wo sich das Jüdische Komitee der Stadt befand.

Auslöser für das Pogrom war das Verschwinden des achtjährigen Henryk Blaschik am 1. Juli 1946. Sein Vater meldete dies der Polizei, doch zwei Tage später kehrte das Kind zurück. In der gleichen Nacht tauchte erneut ein stark betrunkener Vater auf der Polizeiwache auf und behauptete, sein Sohn sei von Juden entführt und in einem Keller festgehalten worden, aus dem er geflohen sei (später stellte sich heraus, dass der Junge ins Dorf geschickt wurde, wo ihm beigebracht wurde, was er sagen soll). Am nächsten Morgen begann ein Pogrom, das 42 Menschen das Leben kostete. Die Schuld wurde den örtlichen Schlägern und dem antikommunistischen Untergrund zugeschrieben. Bereits am 9. Juli 1946 erschienen 12 Angeklagte vor den Teilnehmern der Außensitzung des Obersten Militärgerichts. Am 11. Juli wurden neun von ihnen zum Tode und jeweils einer zu lebenslanger Haft, zehn und sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Während der Beerdigung der Opfer sagte der Minister für öffentliche Sicherheit, Stanislaw Radkevich, dass das Pogrom „das Werk der Abgesandten der polnischen Regierung im Westen und General Anders mit Unterstützung der Militanten der Armia Krajowa“ war (Armia Krajowa, oder Heimatarmee, war während des Zweiten Weltkrieges eine militärische Widerstangsorganisation in Polen, die gegen die deutsche Besatzung und später gegen das sowjetische Regime kämpfte, - Anm. D. Übers).

 

Nur wegen eines Gerüchtes

Was geschah eigentlich am 4. Juli 1946 in dieser Stadt 170 km südlich von Warschau?

Am Morgen ging eine Polizeipatrouille zum Haus Nr. 7 in der Planty-Straße und informierte unterwegs interessierte Passanten, wohin sie gingen und was den jüdischen Hausbewohnern vorgeworfen wurde. Erwartungsgemäß versammelte sich bald ein mordlustiger Mob vor dem Gebäude. Gegen 10 Uhr wurde das Haus von Abteilungen der Polnischen Volksarmee und des Korps der Inneren Sicherheit umstellt, die jedoch keinen Versuch unternahmen, die aggressive Menge zu zerstreuen. Wie der Assistent des Leiters vom Jüdischen Komitee, Alpert, aussagte, eröffneten die Soldaten das Feuer auf die Fenster des Hauses, schlugen die Tür ein, verhörten die Bewohner und beschlagnahmten legale Waffen. Dann begannen sie, auf die Bewohner des Hauses zu schießen. So wurde der Leiter des Jüdischen Komitees, Kahane, getötet.

Während dieser ganzen Zeit versuchten die Behörden nicht mal, etwas zu unternehmen, um das Massaker zu stoppen. Der Leiter der Abteilung für öffentliche Sicherheit, Major Vladislav Sobczynski, ergriff keine Maßnahmen. Gegen Mittag traf Staatsanwalt Jan Wrzeszcz am Tatort ein, aber das Militär ließ ihn nicht durch und weigerte sich, die Menge zu zerstreuen. Die Soldaten ließen auch nicht zu, dass zwei Priester zu den Menschen sprechen. Erst als eine neue Armeeeinheit einige Schüsse in die Luft abgegeben hat, half das, die Lage unter Kontrolle zu bringen. Polizisten begannen, die getöteten und verwundeten Juden ins Krankenhaus zu bringen. Bis Mittag hatten sich etwa 2.000 Menschen vor dem Gebäude versammelt und riefen „Tod den Juden!“ Der Polizeisergeant Vladislav Blachut verlangte, dass die Bewohner das Haus verlassen; sie weigerten sich jedoch, auf die Straße zu gehen. Daraufhin schlug er ihnen mit dem Griff eines Revolvers auf die Köpfe und rief: „Die Deutschen haben es nicht geschafft, euch zu vernichten, aber wir werden ihre Arbeit zu Ende bringen.“ Gegen 12.30 Uhr durchbrachen etwa 200 Arbeiter des Stahlwerks Huta Ludwikow, bewaffnet mit Metallrohren und Stöcken, die Absperrung, brachen in das Haus ein und begannen, Juden zu töten. Mehr als 20 Menschen wurden getötet. Die gesamte Stadt wurde von antijüdischer Gewalt erschüttert. Auch mehrere Polen, die für Juden gehalten wurden, fielen den Pogromverbrechern zum Opfer. Drei weitere Katholiken starben beim Versuch, jüdische Nachbarn zu schützen. Erst einige Stunden später versammelte Sobczynski jüdische Familien aus verschiedenen Stadtteilen und brachte sie zum Hauptquartier der Volksmiliz. In allen Krankenhäusern, in die die Opfer des Pogroms gebracht wurden, wurden Wachen positioniert, da sich mittlerweile auch dort aggressive Menschenmengen versammelten. Am Abend trafen weitere Militäreinheiten in Kielce ein, und in der Stadt wurde eine Ausgangssperre verhängt. Mehr als 100 der an dem Pogrom Beteiligten wurden festgenommen, darunter 34 Soldaten und Offiziere der Armee sowie sechs Beamte der Abteilung für öffentliche Sicherheit. Gegen sechs Uhr abends endete das Pogrom. Alle Juden der Stadt, einschließlich der Verwundeten, wurden am nächsten Tag vom Zentralkomitee der polnischen Juden in einem gepanzerten und bewachten Zug nach Warschau evakuiert.

 

Selbst Polizisten und Soldaten waren beteiligt

Die Beteiligung von Soldaten und Polizisten am Pogrom ist eine erwiesene Tatsache. Es existiert allerdings auch eine Version, die besagt, dass die Tragödie von den zuständigen sowjetischen Behörden angezettelt wurde. Dies wird in dem autobiografischen Buch eines Häftling von Auschwitz, eines ehemaligen hochrangigen Offiziers der polnischen Spionageabwehr Michal (Moshe) Henczynski erwähnt, der nach den Ereignissen von 1968 in die USA emigrierte. Zur Begründung seiner Version schreibt er, dass „einige Tage vor dem Pogrom in Kielce Michail Alexandrowitsch Demin, ein hochrangiger sowjetischer Geheimdienstoffizier, als Berater eintraf“. Die „Judenfrage“ lag in seiner Zuständigkeit; 1964 wird er unter diplomatischem Deckmantel als Resident nach Tel Aviv geschickt. Henczynski behauptet, dass Demin der Kurator von Sobczynski war, wobei Sobczynski vor seiner Ernennung in Kielce durch einen seltsamen Zufall Leiter der Abteilung für öffentliche Sicherheit in Rzeszow war, wo im Juni 1945 ebenfalls ein jüdisches Pogrom stattfand, und ebenfalls mit der völligen Passivität der lokalen Sicherheitsbeamten.

Wer war also Vladislav Sobczynski? Kommunist mit 7 Klassen Schulbildung, politischer Gefangener, der zu Kriegsbeginn in die UdSSR flüchtete, dort die NKWD-Schule abschloss (NKWD - Volkskommissariat für innere Angelegenheiten in der UdSSR bis 1946, danach MWD – Ministerium des Inneren, - Anm. d. Übers.), Berufsoffizier wurde und im Herbst 1944 über die Front nach Lublin versetzt wurde. Der Dienst in der Staatssicherheit war durchaus mit antisemitischen Ansichten verbunden. Sobczynski kam mit der mangelnden Reaktion auf die Pogrome in Rzeszow und Kielce davon, wurde jedoch 1952 von den Behörden entlassen. Diesmal war der Grund zu ernst: der Sicherheitsbeamte wurde beschuldigt, als Offizier der Volksarmee (Armee Ludowa) Juden getötet zu haben. So musste Sobczynski, zu dieser Zeit Leiter des Büros für ausländische Pässe des Ministeriums für öffentliche Sicherheit, seinen Posten räumen. Bald fand man für ihn allerdings eine neue Anstellung - als Militärattaché der Volksrepublik Polen in Bulgarien.

Sowjetische Inszenierung?

Aber all das geschah später, und Mitte der 1940er Jahre fand Sobczynski vollauf Gefallen an der Idee von Pogromen, die den Gegnern der „Volksmacht“ zugeschrieben werden konnten. Es spielte auch seinen sowjetischen Bossen in die Hände. Henczynski legt offen dar, dass die Sowjets die Hauptprofiteure des Pogroms in Kielce waren: „Antisemitische Demonstrationen in Polen dienten als Vorwand, die Kontrolle über den polnischen Staatssicherheitsapparat zu stärken, und zeigten, dass Polen und selbst polnische Kommunisten nicht in der Lage sind, in ihrem Land die Ordnung aufrechtzuerhalten. Außerdem rechtfertigte dies jede politische Repression und ließ sie gar als notwendig erscheinen, um antisemitische Stimmungen in der Bevölkerung zu unterdrücken.“ Wir dürfen nicht vergessen, dass es 1946 war, und Stalin, so Henchinsky, versuchte, Polen als ein anarchistisches Land darzustellen, dessen Besetzung durch die Sowjets die antisemitischen Gewaltorgien gestoppt hätte.

Ein weiterer Zufall, der möglicherweise keiner war: am 1. Juli begannen bei dem Internationalen Tribunal in Nürnberg die Anhörungen zur Ermordung polnischer Kriegsgefangener in Katyn. Sowjetische Staatsanwälte versuchten dieses Verbrechen des NKWD den Nazis anzulasten. Erst 1990 bekannte sich die UdSSR zu ihrer Verantwortung. Und im Juli 1946 lenkte das Pogrom in Kielce von Nürnberg ab und kam den Sowjets sehr gelegen, da es die Polen in ein schlechtes Licht rückte.

Es gab auch innenpolitische Gründe. Am 30. Juni 1946 fand in Polen ein Referendum statt, das die zukünftige Ausrichtung des Landes festlegen sollte. Es hieß, die Kommunisten setzten sich durch, die Unregelmäßigkeiten und falsche Abstimmungen waren jedoch offensichtlich. Daher hat das der Opposition zugeschriebene blutige Pogrom einerseits die demokratischen Kräfte kompromittiert und andererseits den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit verlagert.

Zahlreiche führende Spezialisten der neusten Geschichte Polens vertreten diese These der sowjetischen Spur des Pogroms in Kielce. Bezeichnend ist, dass die erste historische Veröffentlichung zu diesem Thema erst 1981 in der Wochenzeitung „Solidarność“ veröffentlicht wurde. 1988 zerstörte ein Brand Hunderte von Dokumenten aus den Archiven des Amtes für Öffentliche Sicherheit in Kielce, was den Forschern die Arbeit erschwerte. Anfang der 1990er Jahre untersuchte das Institut für Nationales Gedenken Polens die Umstände des Pogroms; es wurden dabei keine Hinweise auf eine Beteiligung der sowjetischen Seite gefunden. Dies ändert nicht die Tatsache, dass das Pogrom für Moskau von Vorteil war; akademischer Anstand erlaubt es jedoch nicht, jemanden zu beschuldigen ohne dies durch Dokumente belegen zu können. Allerdings befindet sich eine Reihe von Unterlagen zu diesem Fall immer noch in den FSB-Archiven (FSB, Föderaler Dienst für Sicherheit der Russischen Föderation, ist Inlandgeheimdienst und Teil des früheren KGB – Komitee für Staatssicherheit, - Anm. d. Übers).

Den Juden Polens brachte das Pogrom in Kielce die letzte Klarheit. Wenn von Juli 1945 bis Juli 1946 etwa 50.000 Juden das Land verließen, wanderten allein im Juli 1946 ca. 20.000 Menschen aus, im August etwa 30.000 und im September weitere 20.000 Juden. Das vorletzte Kapitel in den Annalen der Juden Polens begann. Letzteres kommt im März 1968...

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