„Rote Kapelle“: Juden im Spionagenetz des Zweiten Weltkrieges
Während des Zweiten Weltkrieges kämpften hunderte von Juden im sowjetischen Geheimdienst gegen die Nazis. Sogar dort begegnete ihnen tiefes Misstrauen seitens des Diktators Stalin, der zahlreiche seiner eigenen jüdischen Agenten verhaften und umbringen ließ.
Ausgerechnet der kommunistische Diktator Stalin ließ so viele Kommunisten töten wie niemand sonst in Europa. Rechts seine Geheimdienstmitarbeiter (von oben nach unten): Anatoli Gurewitsch, Sándor Raďó, Leopold Trepper© AFP, WIKIPEDIA
„Schandor Rudolfi“, oder „Dora“, der in der Schweiz die Information aus dem engsten Umfeld der Hitler-Unterstützer erhielt, war der ungarische Jude Alexander Radó. In Verbindung mit ihm standen die deutschen Juden Rachel Dubendorfer („Das Mädchen“), Rudolf Ressler und Christian Schneider. In Belgien arbeiteten die polnischen Juden Leopold Trepper und seine Frau Ljubow Broido mit der „Roten Kapelle“ hervorragend für den Kreml. Ein weiteres Mitglied der „Roten Kapelle“ war der berühmte „Kent“ – der russische Jude Anatoli Gurewitsch. Ein anderer russischer Jude, Lev Manevich, schickte entscheidende Informationen aus Italien. Die erfolgreichste Spionin in der Geschichte des Nachrichtendienstes hieß „Sonja“, die deutsche Jüdin Ruth Werner, die im Tandem mit ihrem Bruder Jürgen Kuchinsky arbeitete.
Stalin ließ seine eigenen Agenten umbringen
In den Vereinigten Staaten waren Grigory Hejfetz, Liza Gorskaja-Zarubina (Rosenzweig) und andere maßgeblich an der Gewinnung von Atomgeheimnissen beteiligt. Bedeutende Persönlichkeiten des sowjetischen Geheimdienstes waren zu dieser Zeit: Yankel Cherniak (der „Held Russlands“, der die Auszeichnung im Februar 1995 – wenige Tage vor seinem Tod im Alter von 86 Jahren – erhielt), Simon Kremer, Boruch Rybkin, Maria Fortus, Raissa Sobol (Azarch), Hillel Katz, Vera Ackerman, David Kami, Isidor und Flora Springer, Mira und Gersch Sokol, Julius und Ethel Rosenberg, Klaus Fuchs, David Greenglass, Harry Gold, Jacob Golos, Arnold Dejtsch, Peter Smollet (Smolka) und viele andere... Fast alle von ihnen wurden rekrutiert, als Meyer Trilisser, Abram Slutsky und Sergej Spiegelglas an der Spitze des sowjetischen Auslandsgeheimdienstes standen, die von Stalin bald zu Verrätern erklärt und erschossen worden waren ... Stalin beachtete auch nicht die Nachricht des Deutschen Richard Sorge, der den genauen Tag, an dem die Nazis die Sowjetunion angreifen würden, im Voraus verkündete: denn Sorge war von dem Juden Solomon Uritsky – einem „Verräter“ – angeworben worden, der nach Stalins Meinung ein englischer Spion sein musste. Das hinderte den Kreml-Diktator nicht daran, diejenigen, auf deren Arbeit er angewiesen war und daher dulden musste, in den höchsten Tönen zu loben, denn die wertvollsten Informationen konnte er von niemandem sonst bekommen.
Wegen Zionismus in den GULAG
In seinem Geheimschreiben an Präsident Roosevelt vom 7. April 1945, wenige Tage vor dessen Tod, beteuerte Stalin: „…Was meine Informanten anbelangt, so kann ich Ihnen versichern, das sind sehr ehrliche und bescheidene Menschen, die ihre Pflicht gewissenhaft ausführen. […] Wir haben sie mehrfach in der Praxis getestet und ich konnte mich immer wieder von der Sorgfalt und Sachkenntnis der sowjetischen Informanten überzeugen.“
Nach dem Krieg wurden die „ehrlichen und bescheidenen“, „sorgfältigen und sachkundigen“ Alexander Radó, Leopold Trepper, Anatoli Gurewitsch und andere Geheimdienst-Profis für ihre Erfolge in den Gulag gesteckt: sie alle wurden unter anderem des „Zionismus“ und der Unterstützung der „jüdischen Vorherrschaft“ in ihren Reihen bezichtigt.
Leopold Trepper (Leo Domb, Otto), Anatoli Gurewitsch (Kent) und Sándor Raďó (Dora) – das sind die drei legendären Namen des sowjetischen Geheimdienstes. Trepper und Radó wurden bei Komintern („Kommunistische Internationale“, gegründet 1919 von Lenin in Moskau, die weltweite Organisation kommunistischer Parteien, - Anm. d. Übers.) ausgebildet, kamen zum Militärgeheimdienst und wurden als Leiter der Residenturen nach Europa entsandt. Gurewitsch wurde als Geheimdienstoffizier nach seiner Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg Trepper zur Hilfe geschickt. Die Fehler, durch die ihre Tätigkeit unterbrochen wurde, wurden nicht von ihnen begangen, sondern waren der Unerfahrenheit derer geschuldet, die die in den 1930er Jahren hingerichteten alten Profis ersetzten.
Radó, Trepper und Gurewitsch leiteten das sowjetische Geheimdienstnetz in Europa, das unter dem Namen „Rote Kapelle“ oder „Rotes Orchester“ bekannt wurde. Während des Zweiten Weltkrieges flossen die Informationen aus hunderten von Quellen mit Sitz in Berlin, Brüssel, Marseille, Paris, Genf, Zürich und in anderen europäischen Städten planmäßig nach Moskau.
Zwecks Liquidation des sowjetischen Geheimdienstnetzes wurde bei Reichssicherheitshauptamt (RSHA) und dem Militärischen Geheimdienst Deutschlands (Abwehr) ein Sonderkommando „Rote Kapelle“ gebildet, das von Reichsführer SS Heinrich Himmler persönlich kontrolliert wurde.
Walter Schellenberg, der Leiter der vereinigten Geheimdienste von Sicherheitsdienst des Reichsführers SS und Abwehr, schrieb später über die „Rote Kapelle“: „Dank der regelmäßig einfließenden Informationen waren Russen über unsere Lage im Bereich der Rohstoffe sogar besser im Bilde als der Abteilungsleiter im Kriegsministerium… In der Tat gab es in jedem Reichsministerium unter verantwortlichen Personen Agenten des russischen Geheimdienstes, die zur Übermittlung von Informationen geheime Funksender verwenden konnten.“
Über die „Rote Kapelle“ sind in mehreren Ländern hunderte Bücher und Artikel erschienen.
Infolge der sog. Archivrevolution in Russland 1991-1993 wurden zahlreiche neue Quellen zugänglich. Eine der wichtigsten von ihnen waren Ermittlungs- und Rehabilitationsfälle der Mitglieder der „Roten Kapelle“, die in der Sowjetunion der Nachkriegszeit als ausländische Spione und Verräter diffamiert und erst viele Jahre später rehabilitiert wurden. Unter ihnen sowjetische Geheimdienstoffiziere wie Leopold Trepper, Sándor Raďó, Anatoli Gurewitsch sowie die Kämpfer des deutschen Widerstandes Johann Wenzel, Rachel Dubendorfer, Paul Böttcher u. a. Im Zentralarchiv des Inlandsgeheimdienstes der Russischen Föderation befinden sich die Verhörprotokolle hochrangiger Beamte der Gestapo und der Abwehr, darunter Heinz Pannwitz, Franz von Bentivegni und Friedrich Panzinger, die von der sowjetischen militärischen Spionageabwehr Smersch im Fall der „Roten Kapelle“ verhört wurden.
Was übermittelte die Rote Kapelle?
Worin bestehen die Verdienste der „Roten Kapelle“ für den sowjetischen Geheimdienst? Bevor sie Ende 1942 scheiterte, gelang es der „Roten Kapelle“ nach Moskau nicht nur das Datum des deutschen Angriffs auf die UdSSR, sondern auch sonstige entscheidende Informationen zu übermitteln. Das waren unter anderem die Pläne der Belagerung Leningrads, die genauen Zeitpunkte und Orte, wo Fallschirmjäger abgesetzt werden sollten, die Verluste der Luftwaffe, die Herstellung von synthetischem Kraftstoff, die technischen Eigenschaften des neuen Messerschmitt-Jägers, die außenpolitischen Maßnahmen Deutschlands und die Bewegungen von Wehrmachtseinheiten. Die Informationen flossen unaufhörlich, die Funksender der „Roten Kapelle“ gingen täglich auf Sendung.
Trepper und Gurewitsch gründeten zwei Tarn-Handelsfirmen – Simexco in Brüssel und Simex in Paris, die mit der deutschen militärischen Baufirma Todt, die für die Wehrmacht strategische Objekte errichtete, zusammenarbeiteten. So finanzierte die deutsche Wehrmacht ohne es zu wissen die Arbeit der sowjetischen Agentur.
Sehr effizient war die Tätigkeit der Schweizer Residentur von Sándor Radó. Die Quelle Lüzi (Rudolf Rössler) gab an Radó Geheiminformationen unmittelbar aus dem Kommunikationszentrum des Wehrmachtsoberkommandos (OKW) in Zossen bei Berlin weiter. Kein Funkpeiler hätte verdächtige Telegramme in der riesigen Menge von Funkchiffren identifizieren können, die vom Hauptkommunikationszentrum des OKW ununterbrochen gesendet wurden. So gab es zwischen dem OKW und dem sowjetischen Geheimdienst sozusagen eine Funkbrücke.
Informationen, die Rössler zur Verfügung standen, hatten ihren Ursprung in den Kreisen um Carl Gördeler, der zu den führenden Persönlichkeiten der deutschen konservativen Opposition und des Widerstandes zählte. Neben Gördeler waren Rösslers Hauptinformanten der Stabschef und stellvertretende Chef der Abwehr Wilhelm Canaris, Generalmajor Hans Oster, der ehemalige Kanzler der Weimarer Republik, Karl Joseph Wirth, und der Vizekonsul des deutschen Generalkonsulats in Zürich, Abwehroffizier Hans Bernd Giesevius.
Am 24. November 1942 wurde Leopold Trepper in Paris verhaftet. Am 13. September 1943 ist es ihm gelungen die Nazis auszutricksen: er wurde aus der konspirativen Wohnung zum Zahnarzt gebracht und konnte von dort aus die Flucht ergreifen; Kämpfer der französischen Resistance halfen ihm, sich zu verstecken. 1944 nahm Trepper an den Kämpfen der Franzosen gegen deutschen Truppen teil; im Januar 1945 schickte man ihn per Flugzeug nach Moskau.
Ebenfalls im November 1942 verhaftete die französische Polizei in Marseille Kent (Anatoli Gurewitsch) und übergab ihn an die Gestapo. Beim Verhör legte man ihm seine Radiogramme vor, wo die ihm erteilten Aufgaben beschrieben wurden, und seine Funkchiffren nach Moskau. Ein schwerer Schlag war für ihn, die Radiogramme zu sehen, die von der Gestapo in seinem Namen nach Moskau gegangen sind, während er bereits verhaftet war… Die Deutschen behaupteten, er sei auf freiem Fuß. In einer Funkchiffre ans Zentrum konnte Gurewitsch schließlich mitteilen, dass er unter deutscher Kontrolle arbeiten müsse; das Zentrum beschloss, dieses „Funkspiel“ aufzunehmen. Am Ende des Jahres 1943 stand für Gurewitsch fest, dass der Leiter des Sonderkommandos „Rote Kapelle“, Heinz Pannwitz, die Niederlage Deutschlands fürchtete, und Gurewitsch konnte ihn überzeugen, die Seiten zu wechseln und für die Sowjetunion tätig zu werden. 1945 ist es Gurewitsch gelungen, nicht nur Pannwitz selbst, sondern auch zwei seiner Kollegen sowie die Archive des französischen Teils des Sonderkommandos „Rote Kapelle“ nach Moskau zu bringen.
Aber in Moskau, wo der Große Sieg gefeiert wurde, hatten Trepper, Gurewitsch und Radó kein Glück. Sie kamen in die Sowjetunion mitten in der Zeit der Suche nach den Verantwortlichen für das Versagen des sowjetischen Geheimdienstes während des Krieges. Außerdem gingen der Rückkehr von Trepper, Radó und Gurevich Ereignisse voraus, die es ermöglichten, sie zu „Schuldigen“ zu machen.
1943-1944 wurde in der Sowjetunion eine Reihe interner Vorschriften herausgearbeitet, die Prozentanteile Angehöriger verschiedener Nationaliten in leitenden Positionen regelten. Im Herbst 1944 sprach Stalin auf einer geschlossenen Versammlung von „Vorsicht“ in Bezug auf den „jüdischen Kader“; der Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei, Georgi Malenkow, rief zu „verstärkter Wachsamkeit“ gegenüber jüdischen Fachkräften. Als Ergebnis dieses Treffens wurde das sogenannte „Malenkowsche Rundschreiben“ erstellt: eine Auflistung der Ämter sowie Dienstposten, zu denen Juden keinen Zugang mehr haben dürften. Ebenfalls wurden für Juden Einschränkungen bei der Zulassung für die Universitäten eingeführt. Der Apparat des Zentralkomitees, die militärische Führung und die Regierungsbehörden wurden zudem auch von Juden „gesäubert“; und aus der Hochschulbildung und Wissenschaft wurden sie vertrieben.
Juden kamen aufs Abstellgleis
Unter den ersten, die zu spüren bekamen, was „verstärkte Wachsamkeit“ bedeutet, waren Trepper, Gurewitsch und Radó. Nach einem langwierigen Ermittlungsverfahren wurden alle Unterlagen an die Sonderversammlung im Ministerium für Staatssicherheit der UdSSR übergeben. Sowjetische Geheimdienstoffiziere, die einen unschätzbaren Beitrag zum Sieg über den Faschismus leisteten, wurden „für die Zusammenarbeit mit der Gestapo“ und als „deutsche Spione“ verurteilt: Sándor Radó wurde 1946 zu 10 Jahren Haft, Anatoli Gurewisch im Juni 1947 zu 20 Jahren und Leopold Trepper im Dezemberg 1947 zu 15 Jahren Haft verurteilt.
Ein Jahr nach Stalins Tod im März 1953 – im Mai 1954 – kamen Sándor Radó und Leopold Trepper frei. Mit erheblichen Schwierigkeiten erlangten sie die Genehmigung, die Sowjetunion verlassen zu können; Radó ging nach Ungarn, Trepper nach Polen.
Das Schicksal von Anatoli Gurewitsch war tragischer: im September 1955 kam er zwar frei, das geschah jedoch im Rahmen einer Amnestie, und somit wurde er nicht rehabilitiert. 1958 beantragte er eine vollständige Rehabilitation – und wurde stattdessen am 10. September 1958 erneut verhaftet: angeblich hatte man ihn nur versehentlich freigelassen, hieß es. Zum zweiten Mal verließ Gurewitsch das Gefängnis am 20. Juni 1960, diesmal bei Verlust seiner Rechte, ohne Aufhebung der „Vorstrafen“ und einem Verbot, in seiner Heimatstadt Leningrad zu leben. Erst viele Jahre später, am 22. Juli 1991, wurde er von der Obersten Militärstaatsanwaltschaft der UdSSR vollständig rehabilitiert.
Sándor Radó starb 1981 in Budapest. Leopold Trepper starb 1982 in Israel. Anatoli Gurewitsch starb am 2. Januar 2009 in Sankt Petersburg.
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