„Rahel Varnhagen – Lebensbild einer Salonière“

Der Eulenspiegel-Verlag hat die Porträts von Dorothee Nolte über Persönlichkeiten der Goethezeit mit einem Bändchen über Rahel Varnhagen fortgesetzt. Es bietet faszinierende und inspirierende Einblicke in die Geschichte Berlins.

Rahel Varnhagen aus Berlin (1771-1833)

Von Vera Lengsfeld

Wenn man heute in der verkehrsumtosten Brache der ehemaligen Mitte Berlins steht, etwa am Neptunbrunnen, mit dem Rücken zum Fernsehturm, braucht man sehr viel Phantasie, um sich vorzustellen, dass hier einmal ein Zentrum geistig-kulturellen Lebens war, ein Treffpunkt für die besten Köpfe, die Deutschland je hervorgebracht hat. In Sichtweite stand das Haus Spandauer Straße 68, der Wohnort von Moses Mendelssohn, der als mittelloser Jude in der Stadt ankam und als hochgeehrter Philosoph und Gelehrter hier starb. Seine Tochter Brendel, spätere Dorothea Schlegel, verdiente als eine der ersten Frauen ihren und den Lebensunterhalt ihres Mannes Friedrich als Schriftstellerin und Literaturkritikerin.

Wenige hundert Meter entfernt stand das Haus, in dem Henriette Hertz geboren wurde, die später mit ihrem Salon Furore und Rahel Varnhagen Konkurrenz machte. Sie sprach ein halbes Dutzend Sprachen, darunter Hebräisch, Griechisch und Sanskrit, und widmete sich in der zweiten Hälfte ihres Lebens der Unterrichtung von mittellosen Kindern. Schräg gegenüber dem Roten Rathaus, wo sich heute Spandauer und Rathausstraße kreuzen, stand das Eckhaus Nummer 26, in dem Rahel Levin geboren wurde, die von keinem Geringeren als Heinrich Heine „die geistreichste Frau des Universums“ genannt wurde.

 

Ein Hort geistiger Freiheit und vorurteilslosen Austauschs

Rahel selbst war nie literarisch tätig. Von ihr sind nur tausende Briefe überliefert und ihre Statements in Gesprächen mit den Größen ihrer Zeit, die von ihrem Mann, Karl August Varnhagen, sorgfältig aufgeschrieben, redigiert und veröffentlicht wurden. Die drei Frauen, die eine entscheidende Rolle im geistigen Leben der Goethezeit spielten, kannten sich, seit sie Kinder waren und blieben einander als Freund-Feindinnen lebenslang verbunden.

Rahel, die sich selbst für unendlich hässlich hielt – ob sie es tatsächlich war, lässt sich heute nicht mehr feststellen – übte sich früh in der Kunst, Menschen, besonders Männer, mit ihrem Geist und Esprit zu verzaubern. Darin wurde sie zur Meisterin. Höhere Bildung, wie sie Henriette Hertz genoss, blieb Rahel verwehrt. Ihre Brüder besuchten Schulen, sie nicht.

Sie leidet unter den Grenzen, die ihr als Frau und Jüdin gesetzt sind und versucht, ihnen durch Heirat zu entfliehen. Aber Graf Finck von Finckenstein löst nach jahrelanger Beziehung sein Eheversprechen nicht ein. Rahel bleibt lange ledig.

Als ihre Familie in die vornehme Friedrichstadt zieht, eröffnet sie in ihrer Dachstube einen Salon, der damals noch nicht so hieß. Sie bittet zum Tee. Und alle kommen. Teils ist es die Anziehungskraft von Rahels geistreichen Reden und Repliken, teils ist es das einzigartige Publikum, das man bei Rahel treffen kann. Schriftsteller, Künstler, Schauspieler, Gelehrte, Naturforscher, sogar Prinz Louis Ferdinand, Juden und Christen beider Konfessionen geben sich die Klinke in die Hand. Rahels Dachstube wird zum Hort geistiger Freiheit und vorurteilslosen Austauschs.

 

Sie bevorzugt sehr viel jüngere Männer

Aber wer war die Frau, die es schaffte, die größten Geister ihrer Zeit bei sich zu vereinen? Dorothee Nolte versucht in ihrem Buch „Rahel Varnhagen – Lebensbild einer Salonière“, den Menschen hinter dem Mythos zu entdecken. Sie bedient sich dabei eines Stils, den Rahel ihr diktiert haben könnte. Das Buch ist wie ein Gespräch aufgebaut, das von Gegenstand zu Gegenstand springt und schlaglichtartig charakteristische Szenen erhellt.

Rahel und ihre Männer. Sie bevorzugt große, schöne, vorzugsweise blonde, später auch sehr viel jüngere Männer, mit denen sie innige, wenn auch manchmal nur platonische Verhältnisse pflegt. Ihre letzte große Liebe ist der fast zwanzig Jahre jüngere Alexander von der Marwitz, der jung in einer Schlacht gegen Napoleon fällt, sodass er seine hervorragenden Anlagen – auch er spricht mehr als ein halbes Dutzend Sprachen – nicht mehr zur Entfaltung bringen kann.

Während sie von der Marwitz liebt, ist sie schon mit Varnhagen liiert, den sie mit Ende 30 eher aus Vernunftgründen als aus übergroßer Neigung heiratet. Er betet sie seit frühester Jugend an, ohne ihn gäbe es die Rahel, die wir kennen, nicht. Zum Beispiel den Schlagabtausch zwischen Rahel und dem Historiker Friedrich von Raumer. Auf dessen Frage, was er noch werden könnte, um sich zu vervollkommnen, antwortet sie: „Werden Sie ein Denker“. Ohne Varnhagen wüssten wir nichts von Szenen wie dieser: Als mal eine Freundin versucht, Varnhagen in Paris zu verführen, reagiert Rahel gelassen: Pölle wollte Ralles Mann kosten. Das konnte sie verstehen.

 

Ambivalentes Verhältnis zu Frauen

So charmant sie zu Männern war, so ambivalent war ihr Verhältnis zu Frauen. Sie beneidete Henriette Hertz um ihre Schönheit und wünschte ihr deshalb den Tod. Sie überwarf sich mit fast allen ihren Freundinnen, die sie erst mit Schmeicheleien, später mit Gehässigkeiten überschüttete. Besonders erfolgreiche Frauen, die ihr Konkurrenz machen konnten, hat ihr Bannstrahl getroffen. Aber gerade diese menschlichen Schwächen, die Nolte zwar nennt, aber nicht beurteilt, bringen Rahel dem Leser näher, als es jede Lobhudelei vermag.

Rahels Faszination ist über die Jahrhunderte ungebrochen. Sie hat herausragende Denkerinnen wie Hannah Arendt und Carola Stern inspiriert. Dank Rahels Briefen und Gesprächen haben wir ein faszinierendes Bild eines freien, toleranten, innovativen Berlin, wie es vorher und nachher nicht existiert hat.

Wem die Gesammelten Werke (10 Bände) zu umfangreich sind, der sollte zu Noltes Buch greifen. Der Autorin ist es gelungen, Rahels Gedanken in komprimierter Form nahezubringen. Am Ende wird man feststellen, dass der kleine Band nicht nur vergnüglich zu lesen war, sondern die Lektüre den Leser gebildet hat, ohne ihn zu belehren. Ganz im Sinne Rahels.

 

„Rahel Varnhagen – Lebensbild einer Salonière“ von Dorothee Nolte, 2021, Berlin: Eulenspiegel-Verlag.

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