Picassos Juden

Vor 120 Jahren fand die erste Ausstellung des Künstlers in Paris statt. Zahlreiche Juden kreuzten künstlerisch den Weg des weltberühmten Malers.

„Alter Jude mit einem Knaben“, 1903© WIKIPEDIA

Von Alexander Kumbarg

Eines Tages bemerkte Pablo Picasso: „‚Wenn du dich entscheidest, Soldat zu werden, dann wirst du bestimmt General werden, solltest du dich für das Mönchsein entscheiden, dann wirst du sicher auch Papst werden‘, sagte meine Mutter. Aber ich wählte den Weg der Kunst und wurde Picasso.“

Er kam in Spanien zur Welt, aber sein Leben wie auch sein Schaffen sind größtenteils mit Frankreich, mit Paris verbunden. Im Juni 1901 wurde in der französischen Hauptstadt die erste Aufstellung seiner Werke eröffnet. Die Kunstkritiker und -sammler begannen über den jungen Künstler zu reden, etwas später kam die Anerkennung des breiten Publikums.

Auf den Bildern und auch im Leben des herausragenden Künstlers gab es immer wieder die jüdischen Menschen.

 

„Alter Jude mit einem Knaben“

Das Bild „Alter Jude mit einem Knaben (Der blinde Bettler mit einem Knaben)“ entstand 1903 in Barcelona. Hier werden wir Zeugen einer atemberaubenden Kraft der Kunst. Ein berührendes Werk von tiefster Traurigkeit, das den Zuschauer nicht gleichgültig lassen kann. Die darauf abgebildeten Bettler – ein knochiger, entkräfteter blinder Greis – und ein magerer Junge mit ernsthaftem, unkindlichem Blick, der sich an ihn schmiegt, sind überflüssige Menschen, entbehrlich für die Gesellschaft, die es nicht eilig hat, ihnen zu helfen. Die dunkelblaue Farbe der Leinwand verstärkt in unserer Wahrnehmung den Kummer und die Hoffnungslosigkeit der Protagonisten. Wir wissen nicht, wer sie füreinander sind, aber es ist die gegenseitige Unterstützung, die ihnen hilft zu überleben. In dieser Arbeit sehen wir viele Bedeutungen, sie bietet viel Raum für die Interpretation. Es ist die Hellsichtigkeit eines Blinden, der die Welt aus seiner inneren Sicht wahrnimmt, eine Verbindung zweier Unglücklichen, die versuchen, zusammen ein Ganzes zu sein. Es ist ein stiller und dennoch eindringlicher Vorwurf an die moralische Blindheit der Welt: er geht von einem blinden Greis und einem sehenden Kind mit bewegungslosen Augen aus.

Das Bild befindet sich im Puschkin-Museum der bildenden Künste in Moskau; es kam nach Russland dank dem Moskauer Sammler Sergej Schtschukin, der es zu Beginn des 20. Jahrhunderts kaufte.

 

Warum ein Jude?

Warum zeigt das Bild einen Juden? Saul Jay Singer (The Jewish Press) bietet mögliche Antworten an. Es liegt auf der Hand, dass dem in Barcelona lebenden Spanier Picasso in den armen Bezirken der Stadt nicht selten bettelnde Juden begegnen konnten. Seit der Vertreibung der Juden aus Spanien gab es sie in Barcelona für 400 Jahre lang kaum noch, und diejenigen, die Ende des 19. Jh. zurückkamen, waren Bettler aus Nordafrika und Osteuropa. Das Schicksal der verfolgten, diskriminierten Menschen entsprach den damaligen Empfindungen des Künstlers selbst: „Wahrscheinlich fühlte er sich mit diesem leidenden Volk verbunden, denn er lebte damals selbst in Armut, fühlte sich abgelehnt und verachtet“, schreibt Singer.

Eine andere Erklärung, meint Singer, könnte in Picassos Wertschätzung für die jüdischen Familienwerte begründet liegen: der Greis auf dem Bild hat nur ein Hemd und eine zerrissene Hose, die seine abgemagerten, dürren Beine kaum bedeckt; der Junge hingegen ist liebevoll in eine Decke gehüllt. Das Kind isst ein Stück Brot, und „man hat den Eindruck, dass der alte Mann sich opferte, um den Jungen zu retten“, – dass er jede Nahrung, die ihm in die Hände fällt, dem Kind überlässt. Seit jeher ist und bleibt eins der grundlegenden Prinzipien jüdischer Familien sich aufopfernd um das Wohlergehen der Kinder zu kümmern.

„Guernica” im Königin-Sofia-Museum in Madrid© CRISTINA QUICLER / AFPr

Ein dritter möglicher Grund war die Vermutung, dass Picassos Großmutter mütterlicherseits Jüdin war. Hier beruft sich Saul Singer auf den Biografen des Malers, John Richardson. Der andere Biograf Picassos, Roland Penrose, bestätigt dies in seinem Buch „Pablo Picasso. Sein Leben – sein Werk“ allerdings nicht. Er schreibt: „Weit mehr als nur einer der zahlreichen Biografen Picassos versuchte auf die eine oder andere Art, Beweise dafür zu bringen, dass Picasso mütterlicherseits eine Beimischung von fremdem Blut hatte, sei es nordafrikanisches oder jüdisches.“ Penrose meint, über die Herkunft von Picassos Großmutter gebe es keine sicheren Informationen.

 

Gertrude Stein

Eine der engen Freunde von Picasso war die amerikanische Schriftstellerin und Jüdin Gertrude Stein. Sie und ihr Bruder Leo Stein gehörten zu den ersten Kunstsammlern, die die Werke des jungen Malers schätzten und zu erwerben begannen, was für ihn eine wichtige Unterstützung darstellte. Regelmäßig besuchte er, zusammen mit den anderen Künstlern – Malern, Schriftstellern, Dichtern – Gertrude Stein in ihrer Pariser Wohnung, wo sie große Dinner veranstaltete. In den schwierigen Zeiten seines Schaffens war Stein einer der wenigen, die Picasso verstanden und sein Recht erkannten, seinen eigenen Weg zu gehen.

Eines Tages schlug Picasso vor, ein Porträt von Gertrude zu malen. Diese originelle Geschichte hat sie später so beschrieben: „Den ganzen Winter stand ich für ihn Modell – 80 Sitzungen; schließlich übermalte er den Kopf [mit Farbe], verkündete, er könne mich nicht mehr ansehen, und […] reiste nach Spanien ab. […] Zurück in Paris, malte er meinen Kopf aus dem Gedächtnis, ohne mich auch nur ein einziges Mal angeschaut zu haben, gab mir das Bild […] ich war zufrieden; ich finde, das bin in der Tat ich und das ist das einzige Bild, wo ich immer ich bin… so sehe ich das.“

Picasso war ebenfalls mit dem jüdischen Kunsthändler und Galeristen Paul Rosenberg befreundet. Rosenberg vertrat seine Interessen und richtete Ausstellungen seiner Werke aus.

Gertrude Stein, 1905-1906© WIKIPEDIAr

 

Ehrenburg

Ilja Ehrenburg, der berühmte russische Schriftsteller und Journalist jüdischer Herkunft erinnerte sich: „Zu Beginn des Jahres 1915, an einem kalten Wintertag, nahm Picasso mich mit in sein Atelier. Überall lagen bemalte Leinwände... Er arbeitete mit einer nie dagewesenen Leidenschaft. Für andere wurden die Monate der Kreativität durch [eine] Leere ersetzt […], Picasso hat sein ganzes Leben lang mit der gleichen Wut weiterarbeitet.“ 1948 porträtierte Picasso Ehrenburg mit Bleistift. „Als Pablo mit dem Zeichnen fertig war, fragte ich: „Schon?“ – die Sitzung kam mir sehr kurz vor. Picasso lachte: „Aber ich kenne dich seit 40 Jahren…“ [...] Das Porträt von Picasso kommt mir nicht nur sehr ähnlich (besser gesagt - ich sehe der Zeichnung ähnlich) vor, sondern auch zutiefst psychologisch. Alle Porträts von Picasso offenbaren (manchmal enthüllen) die Innenwelt des Modells.“

Max Jacob

Zu den Picassos besten Freunden zählte außerdem Max Jacob – Jude, französischer Dichter, Maler und Kunstkritiker. Sie lernten sich auf Picassos erster Ausstellung in Paris kennen; das beidseitige Interesse war prompt da und sie wurden Freunde. Eine Zeit lang teilten sie sogar das bescheidene Zimmer von Jacob auf dem Boulevard Voltaire. Sie hatten zu ihrer Verfügung einen Hut, der abwechselnd benutzt wurde, und ein Bett. Nachts, während Max schlief, malte Picasso; tagsüber arbeitete Jacob und Picasso war an der Reihe, zu schlafen.

Picasso porträtierte den Dichter mehrmals: 1907 ist das Portrait im Stil alter afrikanischer Kunst entstanden; eine realistische Bleistiftzeichnung machte Picasso 1915, und 1921 kam Jacob auf Picassos kubistisches Bild „Drei Musikanten“ als ein Mönch mit Notenblatt in den Händen. Zwei andere Figuren sollen Picasso selbst darstellen (als Harlekin mit Gitarre) und der Klarinette spielende Pierrot links auf dem Bild.

Im Februar 1944 wurde Max Jacob, der sich in ein französisches Kloster zurückgezogen hatte, von der Gestapo verhaftet und in das Sammellager Drancy geschickt. Die nächste Station wäre Auschwitz, aber schon in Drancy erkrankte Jacob an einer Lungenentzündung und starb. 2006 verfilmte der französische Regisseur Gabriel Aghion das Leben von Max Jacob. In diesem Film „Monsieur Max“ sowie im Interview der israelischen Zeitung Ynet brachte Aghion zum Ausdruck, dass Jacobs Freunde auf die eine oder andere Weise mit den Nazis kooperiert haben und ihn hätten retten können, dies jedoch nicht getan haben. Seinen Hauptvorwurf adressierte Aghion an Picasso: „Seine Beziehung zu Jacob war so, wie die zu seinen Frauen und Kindern. Er war ein Mensch, dessen Genie seinem Ego entsprach. Er benutzte Jacob – und warf ihn weg wie eine schmutzige Socke.“

Dennoch gibt es Beweise, die Picassos Kollaboration mit den Nazis und seine angebliche Gleichgültigkeit gegenüber Jacobs Schicksal widerlegen. Der Dichter Paul Eluard beispielsweise, ein Kämpfer der Résistance, schrieb über Picasso: „[Er] …erwies sich als einer der wenigen Künstler, die standhaft waren und standhaft bleiben.“

Der Biograf R. Penrose schreibt, dass Picasso, im Gegensatz zu einigen anderen Kulturschaffenden, alle Angebote, die die Besatzer an ihn richteten, ablehnte, sei es eine zusätzliche Ration von Lebensmitteln und Heizkohle oder Reisen nach Deutschland. Es ist außerdem bekannt, dass er Kämpfer der Résistance bei sich versteckte. Des Weiteren bemerkt Penrose, dass Max Jacob jahrelang im Benediktinerkloster Saint-Benoît lebte (1915 konvertierte Jacob vom Judentum zum Katholizismus, - Anm. d. Übers.) und „Picasso seit geraumer Zeit kaum Kontakt zu ihm pflegte. Lediglich gemeinsame Erinnerungen blieben den Beiden und der Respekt, den Picasso seinem einst engen Freund entgegenbrachte und der sich in den seltenen Besuchen des Künstlers bei diesem Einsiedler in seinem Kloster äußerte. Aber der Tod des Freundes, besonders unter solch unmenschlichen Bedingungen, erschütterte Picasso. Mit Jacob war der Faden gerissen, der ihn mit der Vergangenheit verband... Obwohl Picasso seine Ansichten nie öffentlich kundtat, zögerte er nicht, im Frühjahr 1944 bei der Beerdigung von Max Jacob zu erscheinen.“

 

Guernica

Während des Spanischen Bürgerkriegs waren Picassos Sympathien eindeutig auf der Seite der gegen Franco und seine Verbündeten kämpfenden Republikaner. Den Diktator zeichnete er als eine scheußliche, groteske Figur. Als die Stadt Guernica im Frühjahr 1937 von deutschen und italienischen Bombern zerstört wurde, schuf Picasso ein monumentales gleichnamiges Gemälde, das das durch den Krieg verursachte Elend verurteilt.

Als Frankreich von den Deutschen besetzt wurde, konnte Picasso in die USA oder nach Mexiko gehen, zog es aber vor, zu bleiben. Für die Nazis war seine Kunst „entartete Kunst“, die es auszurotten galt. Dennoch trauten sie sich nicht Picasso anzugreifen – aus Angst vor der Reaktion der internationalen Gemeinschaft und der französischen Gesellschaft.

„Indem er sich kopfüber in die Arbeit stürzte, demonstrierte er damit seine Verachtung für diejenigen, für die seine Kunst dekadent war“, betont Penrose. Die verzerrten Körper nackter Frauen, ein Haufen Schädel, verzogene Gesichter, Gewaltszenen in seinen Werken dieser Zeit drückten erkennbar den Schmerz des Künstlers aus. Während der Besatzungszeit war es Picasso verboten seine Bilder auszustellen. Er wurde von Kunstkritiker-Kollaborateuren angegriffen. Die Gestapo durchsuchte seine Wohnung. Einmal bemerkte ein deutscher Offizier auf dem Schreibtisch des Künstlers ein Foto von „Guernica“ und fragte: „Ist das Ihr Werk?“ – „Nein, das ist ihr Werk“, erwiderte der tapfere Picasso.

 

Übersetzung aus dem Russischen von Irina Korotkina

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