Gaza-Abzug 2005: Wie konnte Israel nur?
Im Sommer 2005 lebte und arbeitete die Journalistin Orit Arfa in Tel Aviv. Sie hatte bereits den starken Verdacht, dass der bevorstehende Abzug aus dem Gazastreifen am 15. August 2005 katastrophale Folgen haben würde – nicht nur sicherheitspolitisch, sondern auch humanitär. Es erschien ihr unerträglich, dass jüdische Soldaten Juden gewaltsam aus ihren Häusern herausreißen würden. Sie lebte mehrere Wochen in Gush Katif, und erlebte hautnah den (ausgerechnet vom hier als „Hardliner“ bezeichneten Ariel Scharon angeordneten) fatalen Rückzug, der den fortwährenden Hamas-Raketenbeschuss in den Folgejahren erst möglich machte.
Ein jüdischer Gaza-Bewohner und Protestler (erkennbar an der Farbe Orange) legt einem jüdischen Polizisten, der zu seiner Vertreibung gekommen ist, die Gebetsriemen an.
Ich wusste damals nicht viel über Gush Katif, eine Siedlung, die in den 70ern auf Land errichtet worden war, dass Israel im Sechstagekrieg eingenommen hatte. Ich wusste, dass um die 9.000 Juden dort in einer Enklave lebten, die von Terrornestern umgeben war. Ich wusste, dass ihre Einwohner zu jenen Menschen gehörten, die der Terror am stärksten traf: Schießereien, Bombenanschläge und Raketen. Und ich habe Leute immer jammern hören, dass „zu viele israelische Soldaten in Gaza sterben.“
Ich band aus Solidarität ein leuchtend orangenes Band an meinen Autospiegel, das Symbol für den Kampf um Gush Katif (Orange ist die Farbe der Flagge der Gemeinde), obwohl ich nie richtig sagen konnte, warum das alles falsch war – besonders weil doch so viele Israelis Premierminister Ariel Scharons Unternehmung zu befürworten schienen und Scharon selbst als ein Gründervater der Siedlungsbewegung betrachtet wurde. Die Leute dachten, dieser Kriegsheld muss wissen, was er da tut.
Ich hatte früher zu diesen „Lasst-uns-die-Palästinenser-nicht-länger-unterdrücken- Zweistaatenlösungs-Juden“ gehört. In den Medien war das einfach Mode.
Aber während ich von 2000 bis 2003 in Jerusalem lebte und sich Selbstmordattentäter überall um mich herum in Cafés, Bars und in Bussen in die Luft sprengten, erkannte ich, dass es in diesem Krieg nicht um die „Besatzung“ geht, sondern schlicht und einfach um Judenhass. Nichts, was Israel in den „Gebieten“ tat, rechtfertigte es, gezielt Kinder in die Luft zu jagen – besonders nachdem die Israelis den „Palästinensern“ bereits einen Großteil der Gebiete angeboten hatten, die sie für einen Staat einforderten.
Mit dem Tod des Terror-Königs Jassir Arafat hatte 2003 auch das Ausmaß der Terroranschläge abgenommen. Es war daher merkwürdig, dass Scharon im selben Jahr den Abzug aus dem Gazastreifen beschloss – meiner Meinung nach ein Schritt unnötigen Appeasements, aber für so viele andere ein Akt des Friedens. (Scharons wahre Beweggründe bleiben bis heute rätselhaft.) Er gab den jüdischen „Siedlern“ eineinhalb Jahre Zeit zum freiwilligen Umsiedeln – oder sie werden gegen ihren Willen umgesiedelt.
Durch Zufall traf ich einen früheren Kollegen meiner Mutter, der jetzt mit seiner amerikanisch-israelischen Familie in Beit El lebte, einer „Siedlung“ in Judäa und Samaria. Er sagte mir, dass seine Tochter ihr Jahr im „National Service“ in Gush Katif beim Notrufdienst ableistete und ich sie besuchen solle. I meldete mich sofort und sie lud mich zum Schabbat ein.
Schabbat in Gush Katif
Ayelet war so schön, dass es mich beinahe erschütterte. Sie hatte langes, wogendes dunkelblondes Haar, eindrucksvolle hellbraune Augen, die vollen Lippen eines Models und diesen klassischen ländlich-religiösen Stil von Gush Katif, ein lässiges T-Shirt und einen langen, fließenden Rock. Sie war orthodox, aber modern und absolut cool – und sie widerlegte die Klischees, die die Menschen in Gush Katif als abgedrehte, religiöse Fanatiker darstellten. Sie und ihre Freunde hielten den Schabbat und die jüdischen Speisegesetze ein, abgesehen davon waren sie „normale“ Israelis, nur beseelter.
Was sie tatsächlich von anderen Israelis unterschied, war eine klare Auffassung von ihrer jüdischen Identität und Bestimmung, weshalb sie fest davon überzeugt waren, dass der „Abkoppelungsplan“ – die Vertreibung – falsch war.
Auch Gush Katif war schön, ein landwirtschaftlich geprägter und von Palmen gesäumter Ort am Strand. Fast jedes Haus trug die unverkennbare Signatur der terracottafarbenen Dächer jüdischer Siedlungen. Ich atmete tief die heiße, feuchte Luft ein, die von der Meeresbrise erfrischt war. Der großzügig angelegte Ort war so eine willkommene Unterbrechung von der Plackerei im städtischen Leben von Tel Aviv, mit seinen Verkehrsinfarkten, der Enge und diesem Lebensstil im Hamsterrad.
Autarke Gemeinschaft
Die Einwohner von Gush Katif waren größtenteils Bauern. Ich besuchte hochmoderne Gewächshäuser, die landwirtschaftliche Erzeugnisse im Wert von fast einer Milliarde Schekel (250 Millionen Euro) im Jahr produzierten. Sie perfektionierten die Technik des Gemüseanbaus im Sand und konnten es so fertigbringen, „käferfreien“ Salat anzubauen – ein großer Renner bei den Ultraorthodoxen, die sehr streng sind, wenn es um das Verbot des Verzehrs von Käfern geht. Einige besaßen mehr, andere weniger, aber sie halfen sich alle gegenseitig dabei, ein gutes Leben führen zu können. Es war eine autarke Gemeinschaft.
Ich saß an Schabbat-Abenden mit Bauern beim Essen, die mir davon erzählten, dass sie nicht vorhätten zu packen. Sie hatten immer noch Vertragsverpflichtungen. Sie glaubten, dass ein Wunder geschehen und der Abkoppelungsplan nicht umgesetzt werden würde. Und selbst wenn doch, so hätten sie es nicht über sich bringen können, ihr Lebenswerk zu zerstören, besonders nicht für eine Sache, an die sie nicht glaubten.
Das Leben in Gush Katif war in gewisser Weise idyllisch, aber auch von viel Leid geprägt. Auf den Gemeinden hier lastete die volle Wucht des Terrors. Ich lernte ein Mädchen kennen, dessen älterer Bruder von Terroristen erschossen worden war, während er einen Schutzzaun um eine der Gemeinden errichtete. (Seine sterblichen Überreste wurden später wieder ausgegraben und – wie die aller Juden, die dort eine Ruhestätte hatten – auf dem israelischen „Festland“ begraben.) Damals war Gush Katif der größte „Grenzort“ im Gazastreifen. Nur hatten die Einwohner des Gazastreifens zu jener Zeit noch nicht so hochentwickelte Raketen, sondern nur selbstgebaute Kassams.
Die Einwohner von Gush Katif erinnerten sich auch an die Zeit, bevor die Osloer Verträge die „Palästinenser“-Behörde erschufen und bewaffneten, als Israelis und Araber im Gazastreifen freundschaftliche Beziehungen unterhielten. Araber wurden von jüdischen Bauern angestellt (um später von thailändischen Arbeitern ersetzt zu werden). Junge Israelis nahmen Fahrstunden in Deir al Ba’alach – jetzt werden von dort Raketen abgeschossen. Es war ein Vorgeschmack echter Koexistenz. Einige Araber sahen in den Juden einen Segen und haben noch immer Kontakt zu ihren früheren jüdischen Arbeitgebern, die ihnen in schwierigen Zeiten auch Geld senden.
Einige Juden machten geltend, es sei nicht fair, dass sie selbst alles in allem ein gutes Leben führten, während die „Palästinenser“ in viel größerer Armut und Ungleichheit lebten. Ich konnte das Argument nachvollziehen, aber die Araber hätten sich an den Israelis ein Beispiel nehmen sollen. Und egal welche „Ungleichheit“ sie erlebten, nichts – und besonders nicht Neid – rechtfertigt Terror, der Zivilisten ins Visier nimmt. Das ist die Taktik von Kriminellen und nicht von Menschen, die Gerechtigkeit wollen.
Nach dem Schabbat verlies ich Gush Katif sogar noch entmutigter als zuvor. Wie konnte die israelische Armee nur diese Oase der Zivilisation zerstören? Wie konnte sie das Leben dieser guten Menschen ruinieren? Wie konnte sie sich dem Terror beugen?
Vorstoß nach Gush Katif
Ich spürte, dass ich da sein musste, um alles mitzuerleben und meinen Beitrag zu leisten, damit dieser Travestie Einhalt geboten wurde. Ich konnte nicht in meinem Wohnzimmer in Tel Aviv sitzen und diese Zäsur nur in den Nachrichten mitverfolgen. Also sagte mir der mutige Redakteur des Online-Magazins „Israel Insider“, das heute nicht mehr existiert und für das ich damals schrieb, er würde mich zur Grenze fahren, die damals für Nichtanwohner gesperrt war, damit ich über die Geschehnisse schreiben konnte. Ayelet und ein paar ihrer Freunde brachten mich im Auto mit einem falschen Ausweis hinein. Ich tat so, als schliefe ich und sie ließen mich durch. Ich hatte nur für eine Nacht gepackt.
Aus der einen Nacht wurden zwei Wochen. Ich konnte einfach nicht gehen. Ich wurde in das zionistische Fest hineingesogen, in das sich Gush Katif verwandelt hatte. Ich würde für sie kämpfen und für den „Israel Insider“ in meinem „Tagebuch zum Abkoppelungsplan“ von ihrem Kampf berichten.
Es waren doppelt so viele Demonstranten vor Ort wie es Einwohner gab. Ayelets kleine Wohnung war voll von Eindringlingen, größtenteils liebe, religiöse Mädchen. Ich kaufte Kleidung und eine Zahnbürste im Einkaufszentrum. Viele T-Shirts musste ich nicht kaufen, denn ich trug mein oranges Gush-Katif-Shirt so oft wie ich in der Lage war, es zu waschen. Jeans konnte ich im Laden nicht finden, nur züchtige Röcke. Ich wurde zu einem lieben, „religiösen“ Mädchen und zählte die Tage bis zum „Erntedankfest“, wenn der Erlass des Abkoppelungsplans aufgehoben werden würde.
Israels Journalisten hetzten gegen die Juden von Gaza
Die Mehrheit der Demonstranten protestierte friedlich – trotz der Vorhersagen der israelischen Medien, dass es zu „Siedlergewalt“ kommen würde. Die Medien zeichneten Karikaturen von den Einwohnern Gush Katifs: religiöse Extremisten, die vor nichts zurückschrecken würden, um Arabern und nun israelischen Soldaten zu schaden. Im psychologischen Intensivtraining für die Soldaten, das auf emotionale Deeskalation abzielte, hatte die Armee Szenarien entwickelt, in denen sie Menschen als Siedler verkleidete, die dann in Orange kostümiert „Nazis“ und „Juden vertreiben keine Juden!“ schrien.
Ein paar junge Männer, die ich kennenlernte, schlitzten Autoreifen der Armee auf, aber das war es auch schon mit dem Ausmaß an „Gewalt“ – außer einigen Demonstranten in Kfar Darom, die planten, Farbe auf Soldaten zu gießen, die versuchen würden, sie auf dem Dach der Synagoge zu ergreifen (am Ende setzten sie das auch in die Tat um). Kfar Darom wurde auf Land errichtet, dass Juden in den 30er Jahren gekauft hatten. Sie wurden von dort während des Israelischen Unabhängigkeitskrieges im Jahr 1948 vertrieben. Die jüdische Präsenz im Gazastreifen geht also auf die Zeit vor dem Sechstagekrieg zurück, tatsächlich lebten in der Gegend schon zu biblischen und talmudischen Zeiten Juden.
Die meisten Siedler hatten vor, mit den Soldaten zu reden und sie zu umarmen, um sie zu überzeugen, den Befehl zu verweigern. Ich hatte meine eigenen Pläne. Ich würde für sie singen!
Soldaten setzten ihre Befehle um
Als der 15. August näher rückte und die Soldaten eintrafen, stand ich auf der Straße und sang jede herzerweichende jüdische Liturgie, die ich aus meinen Schultagen kannte. Meine Stimme würde sie berühren! Sie hörten mir zu und sagten: „Sie hat eine gute Stimme.“ Im Übrigen waren sie aber nicht weiter beeindruckt. Ich bekam mit, wie ein paar Soldaten weinend auf dem Bürgersteig saßen und traurig waren wegen ihres Auftrags. Die meisten führten aber einfach aus, was ihnen aufgetragen wurde, wie Roboter. Einige betrachteten das sogar als „zionistische“ Pflicht.
Zur psychologischen Kriegsführung der Armee gehörte es auch, uns zu zermürben, indem Soldaten geschickt wurden, die „sanfter“ waren, nur um Hoffnung in uns zu wecken, bis dann die resoluteren eintrafen. Schließlich lautete das Motto des Einsatzes auch „Mit Entschlossenheit und Feingefühl“. Sie trugen dunkelblaue Westen und Mützen, auf denen die Fahne des Staates Israel prangte – eine Beleidigung für die Einwohner von Gush Katif, die gegenüber dem israelischen Staat so loyal waren und deren Söhne in den Eliteeinheiten der Armee dienten.
Während sich die Tage hinzogen, sah ich zu, wie Soldaten vor den Rasenflächen der Vorgärten standen und Häuser bewachten, damit die Zwangsräumungen nicht unterbrochen wurden. Langsam, ganz langsam verflog mein Optimismus. Die israelische Armee würde das wirklich durchziehen. Sie tun es! Es passiert!
Oft wusste ich nicht einmal, was um mich herum geschah. Ohne soziale Medien und Smartphone damals konnte ich das Ganze nicht aus digitaler Perspektive von oben betrachten. Schließlich sprach ich mit meinem Redakteur, der mir dann sagte: „Geh zur Synagoge! Das ist der letzte Ort, an dem sie ausharren!“
Die meisten jungen Frauen versammelten sich jetzt in der wunderschönen Synagoge der größten Siedlung, Neve Dekalim. Sie war in Form eines Davidsterns gebaut. Ich fand Gefallen an den voll besetzen Bänken. Einige religiöse Zionistinnen begannen, dort zu beten, sie müssen um die 20 Jahre alt gewesen sein. Ich schloss mich ihnen an, so viel Leidenschaft in mir. Wir sangen und sangen aus vollem Herzen; Lieder, die von jüdischer Einigkeit und jüdischem Stolz handelten, fähig, tagelang ohne Nahrung und Wasser weiterzumachen – nur um all das zu verhindern!
Und dann passierte es. Wir wurden aufgehalten – zunächst nicht von einem Soldaten, sondern von einem Rabbi, der zum Toraschrein ging und sich sein Hemd zerschnitt, das traditionelle Zeichen der Trauer, als wollte er uns sagen: Es ist vorbei. Er sprach laut das berühmte jüdische Gebet „Shema Yisrael!“ – Höre Israel, der Ewige ist unser G-tt, der Ewige ist einzig – und die Mädchen begannen weinend zusammenzubrechen. Wenn die Rabbis nicht auf unserer Seite waren, würde es niemand sein. Es war vorbei.
Viele Frauen wurden hinausgetragen, währenddessen kamen einige Soldatinnen auf mich zu und nahmen mich beim Arm. Sie waren nur ein paar Jahre jünger als ich.
„Bitte tut das nicht!“, flehte ich. „Warum macht ihr das?“
Eine von ihnen antwortete: „Wir wollen das nicht tun, aber wir müssen.“
„Nein, das müsst ihr nicht!“, schrie ich. „Verweigert den Befehl!“
„Das können wir nicht.“
Ich verlies die Synagoge und wurde zu meiner Linken und Rechten von einer Reihe Soldaten begrüßt, die ich anschrie: „Bin ich aus diesem Grund nach Israel gekommen? Ich gehe zurück nach Amerika!“
Die Synagogen und Gewächshäuser ließ Scharon stehen
Ich konnte Gush Katif nicht in dem Bus verlassen, der die Menschen aus der Synagoge nun abschob. Ich musste so lange bleiben, wie ich konnte. Also schlich ich mich weg und nutzte meinen Presseausweis. Die Medien trieben sich immer noch vor Ort herum und wurden wie Adlige behandelt. Sie durften so lange bleiben, wie sie wollten – und über den Trümmerhaufen berichten. Bald würde die Armee beginnen, die Häuser niederzureißen, damit die Hamas nicht in den Genuss käme, etwas zu nutzen, das Juden erschaffen hatten. Nur die Gewächshäuser ließen sie als „Geschenk“ zurück, zusammen mit den Synagogen. Scharon brachte es nicht über sich, sie zu zerstören. Die Araber übernahmen diese Drecksarbeit, mit Ausnahme einiger Bauten wie der Synagoge von Neve Dekalim—jetzt ist sie eine islamische Universität.
Die Autorin Orit Arfa 2005 vor Ort im Gazastreifen.
Ich flirtete mit einem schmierigen israelischen Busfahrer, der die Soldaten beförderte, sodass ich bei der Armee bleiben und eine weitere Nacht in Gush Katif verbringen konnte. Ich schlief am Strand, umgeben von Soldaten, die das, was übrig war, jetzt vor arabischen Angriffen schützten. Ich wehrte die Annäherungsversuche ab, die einer der Busfahrer machte und konnte so noch ein letztes Mal den Sonnenaufgang über Gush Katif sehen.
Dann war es Zeit zu gehen. Vertrieben zu werden.
Die geschockte linke WG-Mitbewohnerin
Zurück in Tel Aviv fühlte ich mich fremd. Ich nahm ein paar Orangefarbene auf, was meiner linken Mitbewohnerin einen Schock versetzte. Viele von ihnen hatten aber einfach keine Bleibe. Die Wohnwagenparks für die Evakuierten waren noch nicht fertig. In Tel Aviv wurde eine Zeltstadt aufgebaut. Die Armee hatte so sorgfältig geplant, die Leute zu entfernen, dass sie das Thema Umsiedlung vernachlässigt hatte. Die meisten Gemeinden waren über Wochen und Monate in Hotels untergebracht.
In den kommenden Jahren verfolgte ich das Ungemach der Gemeinden von Gush Katif: Junge Menschen, die ihren Glauben verloren; Menschen, die Probleme hatten, eine Wohnung oder einen Arbeitsplatz zu finden; die Auswirkungen, die sich daraus ergaben, dass Soldaten verlagert wurden (oder der hieraus resultierende Mangel); und natürlich die neuen Terroranschläge, die durch die Vertreibung nun mit voller Wucht Sderot und andere Grenzorte trafen, später dann auch Tel Aviv und Jerusalem. Um all das zu verarbeiten, schrieb ich sogar einen Roman mit dem Titel The Settler über die Geschehnisse. Er handelt von einer jungen Frau, die umgesiedelt wird und schließlich ein neues Leben in der Clubszene von Tel Aviv beginnt und gegen alles aufbegehrt, was sie bisher kannte.
Wir alle mussten uns in gewisser Weise neu erschaffen. Wir würden nie wieder so sein wie früher.
Die Linken hatten Gush Katif erschaffen
Ich spürte, dass die Geschehnisse in Gush Katif große Mängel innerhalb der israelischen Gesellschaft, ihrem Denken und ihrer Strategie offengelegt hatten. Ich denke, ich war nun etwas weniger Zionistin als zuvor, denn die „zionistische Einheit“ war wichtiger geworden als das individuelle Leben einzelner Juden. Die Einwohner von Gush Katif waren Pioniere. Eine Regierung der politischen Linken hatte sie in den siebziger und achtziger Jahren nach Gush Katif geschickt, um innerhalb des Gazastreifens eine Pufferzone zu errichten, die Angriffe auf das südliche Israel abwehren sollte.
Genau hier aber liegt das Problem: Juden sind mit dem zionistischen Traum zu Schachfiguren geworden. Wenn der Staat sie zum Wohle des „Staates“ irgendwo hinschicken kann, so kann er sie zu seinem Wohle auch wieder von dort entfernen. Ich erkannte, dass Israel einen Kurs einschlagen musste, der dem individuellen Leben der Israelis mehr Bedeutung gibt.
Es dauerte lange, bis der Schmerz von Gush Katif ausheilte, aber ich weiß, dass wir seitdem gewachsen sind und ungemein viel gelernt haben. Viele der Demonstranten begannen, sich mehr auf die israelische Gesellschaft einzulassen. Gush Katif war damals wie eine Festung, in die nur wenige eindringen konnten. Die Menschen von dort engagierten sich nun im Kulturleben, den Medien und der Bildung in Israel, um die Wahrnehmung dort zu verändern.
Heute haben viele verstanden, dass es ein Fehler war
Der Diskurs über die „Siedler“ ist heute anders. Sie werden nicht länger als „Friedenshindernisse“ verleumdet – außer vom politischen linken Rand und von europäischen Regierungen wie der deutschen. Die Mehrheit der Israelis weiß, dass die Menschen, die jetzt im Hochland von Judäa und Samaria leben, an vorderster Stelle für Israels Verteidigung eintreten – sowohl körperlich als auch spirituell. Die meisten Israelis begreifen, dass die Vertreibung ein Fehler war. Wenn sie nur damals schon auf uns gehört hätten.
Stattdessen zahlt Israel leider bis heute den Preis für seine Torheit. Wir haben gerade erst den fünften Gaza-Krieg seit der Vertreibung beendet (oder war es der sechste?) und Israel ist sich immer noch nicht im Klaren darüber, wie der Terror dort ein für alle Mal beendet werden soll. Israel hat Angst, zurück in den Gazastreifen vorzudringen und zum Status quo vor dem Jahr 2005 zurückzukehren, der vielleicht sogar von noch mehr Gewalt gekennzeichnet wäre. Israel hat sich zu sehr von der Meinung der restlichen Welt abhängig gemacht.
Nach meinen zwölf Jahren in Israel und dem Leid des Abkoppelungsplans habe ich erkannt, dass in Israel erhebliche Reformen nötig sind – hinsichtlich unseres weltanschaulichen Fundaments, des Regierens und erst recht mit Blick auf unser Wahlverfahren.
Nachdem ich in Gush Katif aus der Synagoge gezerrt wurde und rief, ich würde zurück nach Amerika gehen, verbrachte ich tatsächlich den gesamten Sommer des Jahres 2006 zu Hause in Los Angeles bei meiner Familie. 2008 würde ich für fünf Jahre wieder zurück nach Israel gehen, aber diesmal kämpfte ich als Privatperson, als Journalistin und als Leiterin einer gemeinnützigen zionistischen Organisation.
Leute fragen sich oft, was eine „Zionistin“ wie ich in Berlin macht. Vielleicht reicht meine Entscheidung, mich hier niederzulassen, zurück zu dem Tag, an dem ich vor der Synagoge von Neve Dekalim stand.
Nachdem ich schrie, dass ich Israel verlassen würde, hat Gott mich letzten Endes nach Deutschland geführt, vielleicht als unumstößliche zionistische Rebellion. In Deutschland wuchs in mir immer mehr die Überzeugung heran, dass manchmal die Art, wie im Alltag mit einzelnen Bürgern umgegangen wird, wichtiger ist als großartige kollektive Erklärungen und Handlungen. Ironischerweise würde es in Deutschland niemand wagen, mich aus meiner Wohnung hinauszuwerfen, weil ich eine Jüdin bin. Es ist seltsam und tragisch zugleich, dass ich mich hier oft sicherer fühle als in Israel. Obwohl es in Deutschland viele Probleme gibt, insbesondere die Beziehung Deutschlands zu Israel, hat mir das Land viel gegeben.
Aber es gibt dennoch weiterhin einen Ort, von dem ich immer geträumt habe, ich könnte dort in Frieden leben. Und wer weiß – vielleicht wird es wahr werden: Gush Katif.
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