Farhud – das unbekannte Pogrom
Die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs warfen auch im Nahen Osten ihre Schatten. Im Irak kam es zu einem beispiellosen Pogrom und zur Ermordung von einheimischen Juden. Die Ereignisse jähren sich Anfang Juni zum 80. Mal. Ein Rückblick.
Denkmal im israelischen Ramat Gan für die Opfer des Farhud-Pogroms
(Israelnetz) Im Juni 1941 war Jakob Ben-Sion sechs Jahre alt. In einem Interview des „Zentrums für das Erbe des Babylonischen Judentums“ (BJHC) rekapituliert er seine Erinnerungen an die Tage, in denen ein Mob wütender Muslime auf seine jüdischen Nachbarn losging:
„Weil ich die ganze Zeit Schüsse gehört habe, verstand ich, dass etwas nicht in Ordnung war. Alle um mich herum hatten Angst, haben geschrien und geweint. Als sie bei uns an die Haustür trommelten, hielt ich mich am Rockzipfel meiner Mutter fest und versteckte mich hinter ihr. Die dann bei uns eindrangen, waren die Besitzer der Eisdielen von nebenan.“ Seine Mutter habe ihnen gesagt: „Das Haus und alles, was darinnen ist, gehört euch. Nehmt alles, was ihr wollt. Aber bitte tut uns nichts.“ Die Nachbarn hätten eine Menschenkette gebildet und begonnen, das Haus leer zu räumen.
Plötzlich sei ein Polizist hereingekommen, in Uniform und mit einer Waffe in der Hand. Er sagte: „Ihr und euer Glaube sollt verflucht sein. Verflucht sei auch euer Palästina.“ Ben-Sion weiß: „Ich werde mich immer an diese Worte erinnern.“ Dann habe der Polizist seiner Mutter in den Kopf geschossen: „Ich stand immer noch hinter ihr. Sie fiel auf der Stelle um, ich rannte und versteckte mich vor dem Polizisten hinter unseren Sofas. Meine zwei Jahre ältere Schwester schrie entsetzt. Da erschoss er auch sie. Meine Großmutter kam aus dem Keller. Sie konnte nicht gut sehen und rief nach ihrer Tochter. Derselbe Polizist erschoss auch sie umgehend.“
Die Eingeweide hingen heraus
In fließendem Hebräisch erzählt der ehemalige Iraker weiter: „Auch meinen vierjährigen Bruder nahmen sie fest und wollten ihn schlachten, doch meine Cousine rief von unten: ‚Er ist doch noch ein Kind. Bringt ihn nicht um!‘ Sie wiederholte es ein paar Mal. Zum Schluss warf der Polizist meinen Bruder zu ihr herunter. Meine Cousine rannte ihm hinterher, doch die Lust des Mannes, Blut zu sehen, war noch nicht gestillt – er stieß sie die Treppe hinunter, schnitt ihren Arm ab und ihren Bauch auf, alle Eingeweide hingen heraus.“
Als Ben-Sion das Töten sah, habe er gewusst, dass das sein Ende sei. Er rannte zur Tür. „Dort stand ein Mann im Türrahmen, doch als kleiner Junge konnte ich unter seinen Armen durchschlüpfen, rannte auf die Straße und hinüber zum Haus meiner Tante. Ich wusste, dass mein Vater dort war. Ich rannte und hatte solche Angst, unterwegs lief ich an drei Leichen vorbei. Ich trommelte an die Tür. Sie öffneten verwundert und ich sagte: ‚Sie haben alle umgebracht.‘ Sie fingen an zu schreien. Ich war im Schockzustand, setzte mich auf die Schaukel im Garten und sprach kein Wort.“
Ben-Sions Erinnerung ist eine von Hunderten Schicksalen, die als „Farhud“, als „gewaltsame Enteignung“, in die Geschichte der Juden des Irak eingingen. Das BJHC hat einige von ihnen auf seinem YouTube-Kanal aufgezeichnet. Die Mitarbeiterin Lily Schor erzählt: „Die Geschichte der Juden im Irak ist im Grunde genommen die Geschichte des gesamten jüdischen Volkes. Wir haben eine so lange Zeit im Babylonischen Exil verbracht, dass wir dort unsere Identität ausgebildet haben.“ Unter anderem entstand dort der Babylonische Talmud.
Juden leben über ein Jahrtausend länger im Irak als Moslems
Unter der Herrschaft Nebukadnezars im 6. Jahrhundert vor Christus wurden Juden aus dem Königreich Juda in Babylon, dem heutigen Irak, angesiedelt. Somit waren jüdische Gemeinden in der Region lange präsent, bevor sich im 7. Jahrhundert nach Christus muslimische Gemeinden etablierten. Auch wenn Juden größtenteils nicht in die muslimische Mehrheitsgesellschaft integriert waren – mit der Gründung des irakischen Staates unter dem Britischen Mandat 1921 wurden sie zu vollwertigen Bürgern. Sie besaßen das Wahlrecht, hatten mehrere Repräsentanten im Parlament und einen im Senat.
Dies blieb auch so, als das Königreich Irak 1932 seine Unabhängigkeit erlangte. In den 1940er Jahren machten Juden mit etwa 135.000 Bewohnern etwa 3 Prozent der Bevölkerung im Irak aus. Etwa 90.000 von ihnen lebten in Bagdad, 10.000 in Basra, der Rest verteilte sich auf kleine Orte im Land.
Unter Beteiligung des deutschen Diplomaten Fritz Grobba führten arabische Nationalisten unter Premierminister Raschid Ali al-Kailani im April 1941 einen Militärputsch gegen den irakischen König Faisal II. aus. Auch durch den arabischsprachigen Radiosender aus Berlin und die arabische Übersetzung von „Mein Kampf“ hatte sich der deutsche Nationalsozialismus und Antisemitismus im Irak inzwischen verbreitet.
Infolge der Kapitulation vor den Briten am 31. Mai kam es an den beiden ersten Junitagen zum Pogrom an der jüdischen Bevölkerung: Juden wollten das Wochenfest Schawuot feiern, dabei griffen die Nationalisten Al-Kailanis die jüdische Bevölkerung in Bagdad an. Unter den Angreifern waren Polizisten, Soldaten, Zivilisten und Beduinen aus den Vororten der irakischen Hauptstadt.
Zwischen 130 und 180 Juden wurden getötet, mehrere Hundert verletzt, zahlreiche Frauen vergewaltigt. Etwa 1.500 Läden und Häuser wurden ausgeraubt, Synagogen geschändet.
Mit dem Einmarsch irakischer Truppen in Bagdad am 2. Juni um Mitternacht und der Ermordung Hunderter Aufrührer endete die Farhud – oder, wie die israelische Zeitung „Ha‘aretz“ vor einigen Jahren titelte: „das erste Pogrom an den irakischen Juden“.
Danach wurde es für Juden nicht leichter. Bis 1951, nur zehn Jahre nach dem Pogrom, waren fast 124.000 irakische Juden nach Israel emigriert. Das „Zentrum des Erbes für Babylonisches Judentum“ erzählt ihre Geschichte. Auch Schor ist mit ihren Eltern 1971 aus dem Irak eingewandert. Sie erinnert sich an eine Schulfreundin, die in den frühen 70er Jahren in Bagdad ermordet wurde.
Ein auch in Deutschland bekannter Vertreter der aus dem Irak vertriebenen Juden ist Eli Amir. Er war zwölf Jahre alt, als seine Familie 1950 nach Israel auswanderte. Die mit dieser Entwurzelung verbundenen Erlebnisse verarbeitete er in seinem Roman „Der Taubenzüchter von Bagdad“.
Farhud-Gedenken
In Tel Avivs Nachbarstadt Ramat Gan erinnert ein fünfeinhalb Meter hohes Denkmal vom jüdisch-ukrainischen Bildhauer Jascha Schapira an die Farhud: Ein Jude sitzt, in seinen Gebetsschal gehüllt, vornübergebeugt und liest in der Heiligen Schrift. Die Plastik heißt Tefilah, Gebet. 2015 setzten die Vereinten Nationen den 1. Juni als Internationalen Farhud-Gedenktag fest. 2021 lädt das BJHC zu einer Gedenkveranstaltung nach Or Jehuda. Das Jerusalemer Forschungsinstitut Jad Ben Zvi bietet ein mehrstündiges Zoom-Seminar rund um die Farhud an.
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