Die Operation „Wächter der Mauern“ – ein Beispiel für lernfähige Präzision

Israels Sicherheitskräfte arbeiten seit Jahren auf allen möglichen Ebenen daran, die Aktivitäten der Hamas und anderer Terrorgruppen in Gaza zu überwachen. Alle Beobachtungen fließen in ein System der künstlichen Intelligenz, das nicht nur Daten sammelt, sondern auch in Echtzeit lernt. Dabei ist die Komplexität der Aufgabe nicht zu unterschätzen.

Raketen der israelischen „Eisernen Kuppel” (links) steigen auf, um die Raketen der Hamas (rechts) abzufangen.© Ahmad GHARABLI / AFP

Von Elisabeth Lahusen

In den 16 Jahren, seit Israel sich einseitig aus dem Gazastreifen zurückgezogen hat, gab es sechs große Einsätze der IDF, durchschnittlich alle zweieinhalb Jahre. In früheren Kriegen flogen die Raketen ungefähr bis Ashdod, jetzt kommen sie bis Tel Aviv. Aber auch wenn die Hamas ihre Fähigkeiten immer wieder aufrüstete und erweiterte, sorgte doch ihre bloße Anwesenheit dafür, dass der Gazastreifen insgesamt sich kaum entwickeln konnte. Die Radikalislamisten bewegen sich zudem nicht isoliert, sondern wie Fische im Wasser innerhalb der Zivilbevölkerung. Das bedeutet, dass ein militärisches Eingreifen Israels immer beides im Blick haben muss: Die modernen Raketen der Hamas und die primitiven Möglichkeiten der Zivilbevölkerung in Gaza, die noch nicht einmal über bombensichere Räume verfügt.

In den elf Tagen der Kämpfe zwischen dem 10. und 21. Mai 2021 führte das israelische Militär intensive Angriffe gegen wichtige Infrastrukturen und Personal der Hamas und des „Palästinensischen Islamischen Dschihad“ im Gazastreifen. Dabei richtete die IDF eine fortschrittliche KI-Technologieplattform ein, die alle Daten über terroristische Gruppen im Gazastreifen auf ein System zentralisierte, das die Analyse und Extraktion der Geheimdienste ermöglichte. Anders als beim autonomen Autofahren, wo das Warnsystem im Wesentlichen mit Gefahrenquellen aus der Fläche umgehen muss, hat man es in Gaza auch noch mit einem weitverzweigten Tunnelsystem zu tun, das teilweise über viele Stockwerke in die Tiefe reicht. Hinzu kommen die Gewohnheiten und Eigenheiten bestimmter Hamasführer, die ebenfalls eine Art Netzwerk bilden. In einem langsamen Prozess wurde jedes Ziel eingekreist – oft über Jahre beobachtet und gründlich studiert. Soldaten der Einheit 8200, einer Eliteeinheit des Geheimdienstes, entwickelten dafür Algorithmen und Codes, die zu mehreren neuen Programmen führten, die während der Kämpfe entwickelt und verwendet wurden.

 

Die Einheit 8200

Unit 8200 ist die Geheimdienst-Einheit der IDF und fast so alt wie Israel selbst. Sie wurde 1952 unter Verwendung von überschüssiger amerikanischer Militärausrüstung gegründet und seitdem ununterbrochen weiterentwickelt. Ein hochrangiger Beamter der Einheit sagt über die Notwendigkeit des Einsatzes künstlicher Intelligenz: „Es gibt keine Möglichkeit, dass nur Menschen das gesamte Potenzial von Informationen aus den riesigen Datenbanken (ob die visuellen oder schriftlichen Informationen) von allen militärischen Einheiten ausschöpfen. Die größte Herausforderung besteht darin, eine Situation zu erreichen, in der die Menschen weniger Fehler machen, und unser Ziel ist es, die gesamte Datenschrift des Staates Israel auszuschöpfen und in Betreibersoftware umzuwandeln.“

Dabei muss man sich die Einheit nicht als unbewegliche Nerd-Truppe in einem Computer-Bunker vorstellen, sondern als höchst bewegliches System. Schon 2020 wurde berichtet, dass „etwa die Hälfte der Einheit 8200 in operativen Aktivitäten über die Grenzen Israels hinaus tätig ist“.

Dieses System trennt denn auch nicht die verschiedenen Arten von Informationsquellen, sondern führt sie ständig zusammen. Dadurch ist die Zielbank der IDF nicht einfach nur ein wachsender Sammelpool von Informationen, sondern entwickelt sich kontinuierlich weiter. Sie umfasst dabei eine Liste mit Tausenden von verschiedenen Zielen. Dabei muss jedes künstlich errechnete Ziel von menschlichen Quellen bestätigt werden und auch deren Beobachtungen fließen in die Berechnungen ein. Außerdem wird die Software ständig überprüft und so vereinfacht, dass während der Operation quasi jeder das System bedienen könnte. Genau wie der Iron Dome so ausgelegt wurde, dass eine 50 Kilogramm leichte junge Soldatin damit umgehen kann, darf auch der Einsatz der KI nicht nur für Eingeweihte möglich sein.

Der Teamleiter, Lt. P., erklärte das mit einem drastischen Bild: „Ein 100-Jähriger, der nicht in der Zielwelt aufgewachsen ist, soll dies in Echtzeit tun können, ohne Programmiersprachen kennen zu müssen oder riesige Mengen an Informationen selbst zu überprüfen. Dies ermöglicht eine sehr signifikante Verkürzung der Zeiten und erhöht die Fähigkeit, eine größere Anzahl von Zielen in Echtzeit zu verfolgen. Dies ist ein langer Prozess, in dem Sie jeden Tag mehr über die Entwicklung und Veränderungen in diesem Bereich lernen. Zum Beispiel werden die Sicherheitskräfte in einem scheinbar unschuldigen Schuppen, der im Gazastreifen errichtet wurde, die Zahlen der Menschen genau registrieren, die hinein- und hinausgehen. Und selbst wenn ein Ziel mehrfach überprüft wurde, muss jeder Einsatz vom Staatsanwalt genehmigt werden. Bei allen Überlegungen zur Genehmigung jedes Ziels besteht immer die Rechenschaftspflicht, die Israel in Zukunft in Den Haag übernehmen muss.“

 

Wer wurde neutralisiert?

Es ging dabei gegen Raketenwerfer, Raketenproduktions-, Lagerstätten, Militärgeheimdienste, Drohnen, Kommandeursresidenzen und die Marinekommandoeinheit der Hamas. Israel hat dabei den größten Teil der Infrastruktur und Waffen der Marinekommandoeinheit zerstört, darunter mehrere autonome GPS-geführte U-Boote, die 30 Kilogramm an Explosivstoffen tragen können. Die Satelliten der IDF-Einheit 9900 waren in der Lage, Veränderungen des Geländes automatisch in Echtzeit zu erkennen, so dass das Militär während der Operation in der Lage war, sich bewegende Abschusspositionen zu erkennen und sie nach dem Abfeuern zu treffen. So konnten beispielsweise Truppen der Einheit 9900 mit Satellitenbildern 14 Raketenwerfer erkennen, die sich neben einer Schule befanden. Die IDF tötete auch mehr als 150 Terroristen des „Palästinensischen Islamischen Dschihad“ und der Hamas, von denen viele als ranghohe Kommandeure oder unersetzlich in ihren Rollen betrachtet wurden, insbesondere diejenigen, die die Forschung und Entwicklung der Raketenprojekte leiteten. Der Angriff gegen den hochrangigen Hamas-Aktivisten Bassem Issa wurde ohne zivile Opfer durchgeführt, obwohl er sich in einem Tunnel unter einem Hochhaus befand, das von sechs Schulen und einer medizinischen Klinik umgeben war. Issa war ein Brigadekommandeur für Gaza-Stadt und die ranghöchste militärische Figur in der Hamas, die von Israel seit der Operation „Fels in der Brandung“ im Jahr 2014 getötet wurde. Er wurde zusammen mit dem Hamas-Chef für Cyber- und Raketentechnologie, Jomaa Tahla, dem Leiter der Abteilung für Entwicklung und Projekte, Jemal Zebda, und 13 Mitgliedern der Waffenfertigungseinheit der Fraktion neutralisiert. Auch das unterirdische Tunnelnetz „Metro“ der Hamas wurde durch mehrere Nächte der Luftangriffe schwer beschädigt. Das Untergrundnetzwerk verläuft über Hunderte von Kilometern unter Wohngebieten. Auf ihren Karten hat die IDF ein vollständiges Bild des Netzes sowohl über als auch unter der Erde mit Details wie der Tiefe der Tunnel, ihre Dicke und der Art der Routen gesammelt und dann gezielt wichtige Teile des Netzwerks getroffen. Die IDF verwendete auch ein System namens „Alchemist“, das von der Einheit 8200 entwickelt wurde und KI und maschinelles Lernen nutzte, um Truppen vor Ort vor möglichen Angriffen der Hamas oder des „Palästinensischen Islamischen Dschihad“ zu warnen. Das dynamische und aktualisierende System wurde von jedem Kommandanten im Feld verwendet, der das System auf einem benutzerfreundlichen Tablet hatte.

Das Militär berichtete, dass der Angriff, der St.-Sgt. Omer Tabib getötet hat, noch untersucht wird. Truppen waren auf die Möglichkeit eines Panzerabwehrfeuers aufmerksam gemacht worden, das auf ihre Jeeps außerhalb der Gemeinde Netiv Ha'asara abzielte. Tabib war der einzige Soldat, der bei den Kämpfen getötet wurde.

Dabei hört es mit der genauen Ortung eines Zieles noch lange nicht auf. Auch die Wahl der Waffen muss präzise vorbereitet sein. Ein Hamas-Büro, das oberirdisch liegt, muss mit einer anderen Art von Munition neutralisiert werden, als ein Zentrum, das unterirdisch ist. Man muss vorher wissen, wie tief eine Sprengladung einschlagen muss, um die Auswahl der Bombe für die Anti-Terror-Mission präzise zu bestimmen und es soll dabei so wenig wie möglich Schaden im Umfeld entstehen.

 

Tod durch „eigene“ Raketen?

Die IDF bombardierte mehr als 1.000 Ziele in Gaza, viele davon Häuser, Gebäude, Tunnel und Hamas-Stellungen. Dabei blieb die Anzahl der getöteten Zivilisten vergleichsweise gering. Nach Angaben des von der Hamas geführten Gesundheitsministeriums in Gaza wurden bei den Kämpfen mindestens 243 „Palästinenser“ getötet, darunter 66 Kinder und Jugendliche, wobei 1.910 Menschen verletzt wurden. Die IDF erklärte ihrerseits, dass mehr als 100 Aktivisten der Terrorgruppen getötet wurden und dass einige der zivilen Opfer durch Hamas-Raketen verursacht wurden, die nach einem Luftangriff auf das Tunnelnetz der Hamas in die Nähe fielen oder Wohnhäuser zum Einsturz brachten. Wobei der Begriff Jugend auf der „palästinensischen“ Seite an dieser Stelle auch nicht genau präzisiert werden kann, da es sich bei den Terrorkämpfern an den Raketenstellungen auch zum Teil um 15 – 17-jährige Kindersoldaten handelt.

Es kann nach solchen Kämpfen keinen Frieden geben, sondern höchstens eine kurze oder längere Pause bis zum nächsten Einsatz, solange es nicht möglich ist, organisierte militante Islamisten wirksam an Terroreinsätzen zu hindern. Deshalb war dies vermutlich nicht der letzte Schlagabtausch. Und dennoch kann Israel optimistisch bleiben, denn die Einheit 8200 spiegelt die Qualitäten wider, die auf vielen Ebenen das Erfolgsrezept des Landes sind: Ein Leben im Spannungsfeld zwischen Disziplin und Kreativität, der Wille, ständig Risiken einzugehen und Fehler zu akzeptieren, es auch als Vorgesetzter nicht nur auszuhalten, dass ein Untergebener vielleicht klüger ist, sondern sogar gezielt auf der Suche nach Menschen zu sein, die mehr können und sich dabei jederzeit der ständigen Ungewissheit in einem feindlichen Umfeld zu stellen.

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