Der 8. Mai – Geschichte eines Tages

Zum Buch des Osteuropa-Historikers Alexander Rahr, der Erlebnisse aller Seiten an dem historischen Tag zusammenfasst.

Von Filip Gaspar

Alexander Rahr hat 2020 zum 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges das Buch „Der 8. Mai: Geschichte eines Tages“ veröffentlicht. Bei dem Buch handelt es sich jedoch nicht um eine Analyse des Kriegsendes, sondern Rahr hat Augenzeugenberichte zusammengestellt.

Hierfür hat er Aufzeichnungen und Memoiren der mittlerweile verstorbenen Zeitzeugen gesichtet und aufbereitet. Die emotionsgeladenen, doch nicht anklagenden Berichte, vermitteln dem Leser einen unverfälschten Blick auf den 8. Mai 1945. Rahr lässt die Zustände im zerbombten Berlin sowohl aus der Sicht von den in die Stadt vorrückenden sowjetischen Soldaten als auch von der leidenden deutschen Bevölkerung beschreiben. Als nächstes geht es nach Moskau auf den Roten Platz, wo zur Feier der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands ein Volksfest, am 9. Mai 1945 gefeiert wurde. Hier sei angemerkt, dass Deutschland die bedingungslose Kapitulation unterzeichnete, als es in Moskau bereits der 9. Mai war.

Der Leser bekommt verschiedene Orte und Protagonisten aus ganz unterschiedlichsten sozialen Schichten und militärischen Rängen aufgezeigt. Da wären der desillusionierte deutsche Feldmarschall Keitel, der die bedingungslose Kapitulation in Berlin-Karlshorst unterzeichnen durfte. Mehr Grund bzw. gleich doppelten zum Feiern, hatte der amerikanische Präsident Harry S. Truman, dessen Geburtstag auf den 8. Mai fällt. Darüber hinaus gibt es noch viele andere, mal kürzere und mal längere Geschichten. Zum Beispiel die einer jüdischen Rotarmistin, der die Zähne von Hitler in einem Schmuckkästchen überreicht werden. Da es sich um „das unwiderlegbare Beweisstück vom Tod Hitlers“ handelte, musste sie mit ihrem Leben für die Zähne haften. Oder die Geschichte einer jungen Berlinerin, die von den Sowjets beauftragt wird aus alten Stofffetzen eine amerikanische Flagge für die anstehende Siegesfeier zu schneidern und das alles innerhalb einer Nacht.

Dann ist da die Geschichte des in Erfurt geborenen Juden Moritz Mebel, der 1932 zusammen mit seiner Mutter in die Sowjetunion emigriert war, dort ein Medizinstudium aufnahm und sich beim Angriff der Wehrmacht auf die Sowjetunion freiwillig für die Rote Armee meldete. Seine Erzählung erstrecke sich weiter als bloß bis zum 8. Mai und er berichtet auch von seiner Tätigkeit in Nachkriegsdeutschland.

Das Buch enthält eine große Bandbreite der Gefühle: von Trauer, Wut, Angst aber auch vom unermesslichen Glück bei Kriegsende, gepaart mit Hoffnung, dass sich so etwas niemals wiederholen möge. Die literarische Qualität der einzelnen Erzählungen schwankt, was den Herausgebern bewusst ist. Ihre Intention war, dass „durch Unmittelbarkeit, durch Glaubwürdigkeit, überraschende Perspektiven und immer durch Fokussierung auf diesen Tag“ den Erlebnisberichte Authentizität verliehen wird. Über weite Strecken des Buches ist ihnen das auch gelungen. Eine politische Deutung des 8. Mai 1945 wird nicht angestrebt. Es ist nicht Rahrs Intention einen Diskurs über die Frage, wer Sieger und wer Besiegter ist, zu führen. Weiterhin warnt er vor dem Versuch, Geschichte als Waffe zu verwenden. Ebenso rät er von weitverbreiteten westlichen Deutungsmustern ab. Vergebens wird man im Buch nach dem „Befreier“ aus Amerika und den „Unterdrücker“ aus Russland suchen. Vielmehr wollen die Herausgeber über ein kollektives Erinnern aller beteiligten Seiten die Möglichkeit zur Annäherung schaffen.

Wie man stetig auseinanderdriftende Geschichtsnarrative zurück zu einer gemeinsamen Basis führen kann, ist eine essenzielle Frage von Rahr. Er beendet sein Schlusswort mit den hoffnungsvollen Worten: „Vielleicht hilft diese Reflexion über den 8. Mai 1945, die Konfrontation zu glätten.“ Man kann es sich nur wünschen.

 

Alexander Rahr, Wladimir Sergijenko: „Der 8. Mai: Geschichte eines Tages“. Das Neue Berlin, Berlin 2020, 221 S., 22 €

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