„Zwischen Du und Ich“
Im neuen Roman von Mirna Funk erfährt eine Ost-Berliner Jüdin erst nach ihrer Alija von dem schrecklichen Schicksal ihrer Urgroßmutter.
Freude, Trauer, Glück, Unglück, Vergangenheit, Gegenwart, Planmäßigkeit und Spontanität finden sich allesamt in dem Roman „Zwischen Du und Ich“ von Mirna Funk wieder, der am 19. Februar dieses Jahres im dtv-Verlag veröffentlicht wurde. In dem 302 Seiten langen Roman, der in drei Teile gegliedert ist, geht es um die zwei Protagonisten Nike und Noam, die in ihrem Leben beide Opfer von sexualisierter Gewalt geworden sind. Eine der vielen Gemeinsamkeiten, die dem Leser gleich auffallen, worüber Nike und Noam aber miteinander nie direkt sprechen.
Nike, als Kind von jüdischen Eltern geboren und aufgewachsen in Ost-Berlin in der damaligen DDR, wurde schon früh in ihrer Kindheit mit dem Antisemitismus der Schulkameraden konfrontiert und hatte sowohl zu ihrer Mutter als auch zur Großmutter ein eher schwieriges Verhältnis, da weder Mutter noch Großmutter ihr je wirklich gezeigt haben, dass sie einander liebhaben. Noam hingegen wächst in Israel, als Sohn einer in Deutschland geborenen Jüdin, die nach Israel ausgewandert ist, und einem Israeli, auf, der aufgrund eines Autounfalls schon früh aus Noams Leben gerissen wird. Seine Mutter verlässt daraufhin Israel, um zurück nach Deutschland zu ziehen. Noam wird indessen von seinem Onkel großgezogen, bei dem es an einer gewissen Stabilität für das Kind fehlt. Zusammenfassend kann man erstmal sagen, dass beide eine nicht allzu unkomplizierte Kindheit hatten.
Am Anfang des Romans verlaufen die Geschichten von Nike und Noam parallel zueinander und der Leser erfährt von den Personen und persönlichen Vergangenheiten der Hauptfiguren. Erst im zweiten Teil gibt es das erste richtige Aufeinandertreffen der unabhängigen Individuen und die gemeinsame Geschichte beginnt.
Das Buch wird teils aus der Perspektive von Nike geschrieben, was aus der Ich-Perspektive geschieht. Noams Sicht wird in der personalen Erzählform aus der Sicht eines Dritten dargestellt. Die Autorin schafft es mit diesen Perspektivwechseln einen dezenten Schwerpunkt auf die Sicht von Nike zu legen, der in Bezug auf das Thema der sexualisierten Gewalt nochmal interessant wird.
Alija nach Tel Aviv
Nike reist nach Tel Aviv, weil sie endlich einen Neustart braucht, nachdem sie von ihrem Ex sexuelle Gewalt am eigenen Leib erfahren musste. Ihr wird, als sie Ihren Ex auf der Straße sieht, bewusst, dass sie noch immer nicht ganz mit ihm abschließen kann. Beruflich bietet es sich für sie an ein Jahr in Tel Aviv zu arbeiten. Sie ergreift diese Chance und entscheidet sich – für ihre Verhältnisse sehr spontan – nach Tel Aviv zu gehen und Alija zu machen.
In Israel angekommen fällt Nike Noam am gut besuchten Shuk auf, wo sie gerade ein Foto von einem Straßenmusiker macht. Daraufhin findet Noam Nike auf Instagram und die beiden beginnen einander zu schreiben. Es entwickelt sich eine für beide Beteiligten unerwartete Liebesgeschichte, welche sich in eine tiefe Verbindung entwickelt und tiefe Wunden verursachen wird, wenn sie zum Schluss zerbricht.
Mirna Funk legt einen weiteren Schwerpunkt auf das jüdische Leben in Vergangenheit und Gegenwart und darauf wie sich diese Vergangenheit, insbesondere der Holocaust, auf die heutigen aschkenasischen Juden auswirkt. Nikes Großmutter hat nie viel von ihrer eigenen Mutter Dora Waldman erzählt, abgesehen davon, dass sie von 1912 bis 1941 gelebt hat, 1941 irgendwo in Frankreich gestorben ist, Nike zufällig in ihr Geburtshaus in Berlin gezogen ist und einige Jahre nach ihrem Einzug ein Stolperstein für Dora Waldman vor ihrer Wohnung verlegt worden ist.
Tod in Toulouse
Bei einer spontanen Reise mit Noam nach Jerusalem erfährt Nike, dass ihre Urgroßmutter von mehreren Männern in ihrer Wohnung in Toulouse vergewaltigt und ermordet worden ist. All das Geschah im Beisein ihrer 3-jährigen Tochter Rosa, Nikes Großmutter, zu der sie immer ein kompliziertes Verhältnis hatte. Jetzt aber kann Nike sich erklären, warum Oma Rosa und ihre eigene Mutter eine so andere Art haben ihre Liebe zueinander und zu Nike auszudrücken. Die Geschehnisse aus der Vergangenheit prägen diese drei Generationen bis in die Gegenwart auf einer psychisch-emotionalen Ebene und beeinträchtigen die Frauen in ihrer Art zu leben.
„Ohne die Nazis kein Toulouse, ohne Toulouse keine Vergewaltigung, ohne Vergewaltigung kein Mord, ohne Mord eine andere Rosa, ohne Mord eine andere Lea, ohne Mord ein anderes Ich“, so Nike im Roman zu der Vergangenheit ihrer Mutter und Großmutter.
Noam wurde schon als kleiner Junge sexuell von einem Boxtrainer missbraucht, was der kleine Noam damals aber nicht einzuordnen wusste, da sein Onkel ihm diese Gefahren nie bewusst gemacht hat. Der Tatsache geschuldet, dass Noam gar nicht bewusst war, dass er Opfer sexuellen Missbrauchs geworden ist, verarbeitet er diese Geschehnisse ganz anders als Nike.
Mirna Funk schafft es in ihrem Roman das Thema der sexualisierten Gewalt neutral und realitätsnah darzustellen. Sie bedient keine Pauschalisierungen, weder über Frauen noch über Männer und bleibt in ihren Darstellungen beiden Geschlechtern gegenüber fair. Auch die verschiedenen Umgänge und Verarbeitungsmechanismen der Opfer von sexueller Gewalt werden berücksichtigt.
Funk setzt sich in ihrem Roman mit der Vergangenheit, Gegenwart und ihren jeweiligen Problemen auseinander, ohne den Faden zu verlieren und den Leser zu verwirren. Trotz der vielen Inhalte hat die Geschichte einen klaren Verlauf, der nicht unübersichtlich wird. Die Autorin schafft diese Klarheit teils durch die klar gekennzeichneten Perspektivwechsel und durch das Unterscheiden zwischen Gegenwart und Vergangenheit, indem sie die Geschehnisse, die sich in der Vergangenheit begeben, kursiv schreibt und die Gegenwart in der Schriftart unverändert lässt.
Der Roman thematisiert zwar traurige und ernste Themen, doch Mirna Funk schreibt in einem sehr detaillierten Stil, der die Gesamtstimmung des Buches hebt und eine positive Umgebung in der Geschichte schafft und in gewisser Weise die Schwere von den gravierenden Themen nimmt, indem der Fokus des Lesers auf kleine, aber meist feine Banalitäten der Umgebung der Protagonisten gelenkt wird. Der Leser wird in die Welt von Nike und Noam versetzt und erlebt deren Geschichten mit, als wäre er dabei.
Die Geschichte endet sehr abrupt, nachdem Noam seine Fassung gegenüber Nike verliert, gewalttätig wird und Nike daraufhin die Polizei ruft. Noam landet in der Zelle, aus der er kurze Zeit später wieder herauskommt. Das letzte, was der Leser erfährt, ist, dass Noam gelähmt in seiner Wohnung liegt, bereut und am liebsten zurück zu Nike will. Was aus Nike wird, und ob Noam für immer gelähmt bleibt oder es nur eine kurzfristige Erscheinung war, bleibt offen.
Der Roman von Mirna Funk ist insgesamt ein gelungenes Werk, wobei ich persönlich es noch besser finden würde, wenn es eine Fortsetzung der Geschichte gäbe, in der es um das weitere Leben von Noam und Nike geht und wo die am Ende offen gebliebenen Fragen beantwortet werden. „Zwischen Du und Ich“ ist eine spannende Geschichte mit Romantik und einer Tiefe, die sich aus der Komponente Geschichte und der Komponente der sexualisierten Gewalt zusammensetzt. Der Roman bietet ein mitreißendes Leseerlebnis, das ich wärmstens empfehlen kann.
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