Waldemar Haffkine: der vergessene jüdische Impf-Pionier
Der im zaristischen Russland geborene Waldemar Haffkine rettete die Welt vor der Pest und der Cholera und hat die Entwicklung neuer Impfstoffe revolutioniert. Die verdiente große Anerkennung wurde ihm jedoch vorenthalten. Er starb 1930 im Alter von 70 Jahren im schweizerischen Lausanne.
Waldemar Haffkine © WIKIPEDIA
1860 in der Ukraine geboren, schloss Waldemar Haffkine 1884 am Institut für Zoologie der Universität Odessa sein Studium mit Auszeichnung ab. Eine akademische Karriere wurde ihm damals als Jude verwehrt. Sein Professor erkannte jedoch das besondere Talent, verschaffte ihm eine Stelle in der Bibliothek und gewährte ihm Zutritt zu den Labors, wo er mit den ersten Experimenten begann.
1888 bewarb er sich am Pasteur-Institut in Paris, wurde auch dort in die Bibliothek verbannt, beschäftigte sich jedoch in seiner Freizeit mit Forschungen auf dem Gebiet der Mikrobiologie und Immunität, bis Pasteur persönlich auf ihn aufmerksam wurde und ihm einen Platz im Forschungslabor anbot. Haffkine experimentierte mit Typhus- und Cholerabakterien bis ihm gelang, Cholerabakterien im Labor zu kultivieren und Präparate herzustellen, die eine Immunität gegen Cholera zeigten.
Er infizierte Nagetiere und konnte mit seinem Serum eine hohe Abwehrkraft nachweisen. Pasteur war so beeindruckt von seiner Arbeit, dass er beschloss, mit der Immunisierung von Menschen zu beginnen, und bat 1892 die russische Regierung, in den von Cholera versuchten Gebieten die Impfungen zu testen. Die russische Regierung lehnte ab. Haffkine sei kein Arzt, sondern Zoologe, wie könne man ihm eine medizinische Neuentwicklung zutrauen – eines der Vorurteile, die den Wissenschaftler ein Leben lang verfolgten.
Doch Haffkine gab nicht auf, arbeitete weiter an der Isolierung der Cholerabakterien, bis ihm eine totale Immunisierung in Tierversuchen gelang. Am 18. Juli 1892 injizierte er sich selbst eine hohe Dosis des neu entwickelten Impfstoffes, um die gute Verträglichkeit zu zeigen. Leichtes Fieber und Kopfschmerzen waren die einzig negativen Reaktionen.
Zum Test nur einige Familienmitglieder in Indien geimpft
Auf der Grundlage dieser wissenschaftlichen Sensation ersuchte Pasteur die britischen Behörden, das Serum in Indien zu testen. Sie stimmten zu, und zu Beginn 1894 fuhr der erst 33 Jahre alte Haffkine nach Kalkutta, der Hauptstadt von Britisch-Indien. Das Frühjahr war die jährliche Cholera-Saison mit tausenden Toten und einer hilflosen Administration, die für dieses Problem keine Lösung kannte. Haffkine fand sehr schnell den Grund der Verseuchung. Er wies in Wassertanks das Cholerabakterium nach, aus denen die Bevölkerung der Slums sich versorgte, verbrachte Wochen in den Vierteln der Armen, impfte manche Familienangehörige und andere nicht, und konnte nach kurzer Zeit nachweisen, dass die Geimpften trotz Verunreinigung des Wassers nicht erkrankten.
Das Ergebnis verbreitete sich schnell, doch die Behörden boykottierten die Impfungen, schworen auf traditionelle Methoden wie Desinfizieren und die Isolation ganzer Straßenzüge. Nur die Bewohner der Slums vertrauten ihm, und nach wenigen Wochen bildeten sich Warteschlangen vor seinem Büro, und manche standen dort bis zu 12 Stunden, um geimpft zu werden. Ein Durchbruch gelang ihm nach der Einladung mehrerer Eigentümer von Teeplantagen in Assam, die er begeistert annahm. Die Konzentration von Tausenden Arbeitern schuf ideale Bedingungen für weitere Erfahrungen mit den Impfungen, und ein Großteil konnte durch seine Immunisierung überleben.
Endlich Anerkennung
1895 erkrankte er an Malaria, eine von vielen Rückschlägen im Laufe seines Lebens, und er kehrte zurück nach Europa. Das Serum wurde weiter der Bevölkerung der britischen Kolonie angeboten und in Bombay entstand auf Haffkines Initiative das erste mikrobiologische Institut Indiens. Seine Leistungen wurden endlich anerkannt und einer akademischen Karriere an einer namhaften Universität in Europa stand nichts mehr im Wege. Doch eine weitere Pandemie unterbrach diese Karriere.
Ausgehend von Yunnan, China, verbreitete sich 1894 die Pest bis Hong Kong und erreichte durch den internationalen Schiffsverkehr 1896 Bombay. Die britischen Behörden versuchten, die Seuche zu bagatellisieren, reagierten mit den üblichen Methoden der Desinfektion mit Chemikalien, doch die Todeszahlen schnellten in die Höhe und übertrafen die Werte der jährlichen Choleraepidemie. Der Gouverneur von Bombay erinnerte sich an Haffkine und bat ihn, nach Indien zu kommen. Wenige Tage später erreichte er Bombay und begann sofort mit der Arbeit. In Erinnerungen seiner Mitarbeiter wurde er als fanatischer „Workaholic“ beschrieben, der Tag und Nacht im Labor verbrachte. Zwei seiner Assistenten erlitten einen Nervenzusammenbruch, andere kündigten wegen Erschöpfung. Dazu kam die Skepsis der etablierten Mediziner, die auch diesmal dem jungen, russischen Zoologen nicht trauten.
Versuch im Gefängnis
Haffkine arbeite nach dem gleichen Prinzip wie bei der Erforschung der Cholera-Impfung und konnte bereits im Dezember, wenige Wochen nach Beginn der Experimente, einen Erfolg bei infizierten Ratten mit einem neuentwickelten Serum nachweisen. Am 10. Jänner 1897 impfte er sich selbst eine überhöhte Dosis des Serums, um die geringen Nebenwirkungen zu zeigen. Beeindruckt von den Ergebnissen, bat ihn die Stadtverwaltung, das neue Serum in einem Gefängnis zu testen. Haffkine verbrachte mehrere Wochen in einer umgebauten Zelle, um die Wirkung seiner Impfung zu beobachten.
Der Erfolg unter den Häftlingen beeindruckte selbst die größten Kritiker. Agha Khan persönlich spendete ein Gebäude, in dem der neue Impfstoff in großen Mengen hergestellt werden konnte, und Millionen von Indern wurden geimpft. 1901 ehrte Königin Victoria den Wissenschaftler mit dem Ritterstand, und die britische Verwaltung in Indien übergab ihm ein neues Forschungszentrum, wo mehr als 50 Wissenschaftler an Neuentwicklungen arbeiteten.
Verleumdung
Im März 1902 starben 19 Menschen in dem Dorf Mulkowal in Punjab nach der Impfung. Einige seiner Kritiker, die den Kampf gegen ihn nie aufgegeben hatten, sahen ihre Chance gekommen und warfen Haffkine vor, zu viele Dosen des Serums hergestellt zu haben, ohne die notwendigen Sicherheitsmaßnahmen zu berücksichtigen. Haffkine wurde als Leiter des Instituts entlassen und kehrte enttäuscht und verletzt nach England zurück. Die alten Vorurteile sammelten sich in einer aggressiven Kampagne gegen ihn. Ein russischer Jude, kein Arzt, sondern Zoologe, viel zu jung und ohne Erfahrung, und selbst über sein holpriges Englisch in den Briefen an Zeitungen, Wissenschaftler und Politiker, um sich zu verteidigen, machten sich seine Gegner lustig.
Erst eine jahrelange Untersuchung ergab, dass nicht bei der Herstellung des Serums fehlerhaft gearbeitet wurde, sondern ein Assistent von Haffkine die Impfstoffe in Mulkowal nicht steril gelagert hatte. Namhafte Wissenschaftler verteidigten Haffkine, und die endgültige Rettung kam von Nobelpreisträger Ronald Ross, der den Kritikern grobe Fälschung von Tatsachen vorwarf und eine sofortige Rehabilitierung von Haffkine forderte. Ross kritisierte, dass der Entdecker des Serums persönlich diskriminiert und verleumdet und gleichzeitig sein Serum millionenfach in Indien weiter geimpft werde.
Erst 1907 boten die indischen Behörden dem russischen Entdecker eine Stelle als Direktor des „Calcutta Biological Laboratory“ an. Dort arbeitete er an der Entwicklung des „devitalized vaccine“, einer Methode, die später weltweit eingesetzt wurde. Doch das „Mulkowal-Trauma“ verfolgte Haffkine. Man verbot ihm, neue Impfstoffe an Menschen zu testen, die Propaganda der Gegner verletzte ihn persönlich und behinderte seine Arbeit. 1914, erst 55 Jahre alt, gab er auf, verließ Indien und zog sich nach Lausanne zurück. 1925 forderte eine Gruppe von Wissenschaftlern die indische Regierung auf, die Leistungen Haffkines endlich entsprechend zu würdigen. Das kleine Labor in Bombay, wo er begonnen hatte, wurde in „The Haffkine Institute“ umbenannt. Das Institut ist im Gebäude des „Grand Medical College Mumbai“, dem Zentrum der heutigen Corona-Forschung Indiens.
1930 starb Haffkine in Lausanne. Zwanzig Jahre zuvor pries ihn Joseph Lister, Begründer der antiseptischen Chirurgie, als „Retter der Menschheit“. Als er begraben wurde, brachte nur eine lokale, jüdische Zeitung einen Nachruf. Die Welt hatte ihn bereits vergessen.
Zuerst veröffentlicht in NEWS.
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