In den Straßen der polnischen Bronx
Der polnische Autor Szczepan Twardoch entführt den Leser in seinem Roman „Der Boxer“ in Warschaus Unterwelt der Zwischenweltkriegsjahre.
Der Anfang des Romans „Der Boxer“ des polnischen Autors Szczepan Twardoch erinnert an „Rumble in the Jungle“, den legendären Kampf zwischen Muhammed Ali und George Foreman. Nur ist es hier nicht 1974 in Kinshasa (Zaire), sondern 1937 in Warschau (Polen). Das Geschehen spielt sich im Polen zwischen den zwei Weltkriegen ab. 1935 gewinnen nach dem Tod von Józef Klemens Piłsudski, dem Marschall der zweiten polnischen Republik, die politischen Rechten noch mehr politischen Einfluss. Unter den rechtsnationalen bis rechtsradikalen Strömungen, zu der auch die faschistische Falanga-Bewegung gehört, geben viele ihrer Anhänger den Juden die Schuld an den immer schlimmer werdenden ökonomischen Verhältnissen. Die Juden Polens, die zu dieser Zeit immerhin 10 Prozent der Bevölkerung stellten und in eigenen Vierteln lebten (jedoch in keinen Ghettos), sind einer immer stärkeren Diskriminierung der Mehrheitsbevölkerung ausgesetzt und es kommt zu ersten Boykotten und gar Pogromen.
Kampf gegen den blonden Polen
Auf der einen Seite steht der Pole und Katholik Andrzej Ziembiński und auf der anderen sein Gegner, der Jude Jakub Shapiro. Zwei Kontrahenten, die nicht nur aus grundverschiedenen Milieus stammen, sondern sich auch äußerlich sehr unterscheiden. Der großgewachsene und blonde Ziembiński, Anhänger der Falanga-Bewegung, sieht aus „wie die deutschen Sportler, arische Halbgötter auf den Fotos und Zeichnungen, die man manchmal in den Illustrierten fand“, wohingegen Shapiro „eine gleichsam finstere Art von Schönheit“ ist. Doch auch „Um den Ring waren zwei Warschaus versammelt, die […] bestenfalls Gleichgültigkeit füreinander hatten, schlimmstenfalls Hass“. Shapiro entscheidet den Kampf nach einigen Runden für sich. Mit einem linken Aufwärtshaken schickt er Ziembiński auf die Matte und fährt einen Triumph ein, nicht bloß für sich selbst, sondern auch für seine jüdischen Zuschauer.
Jakub Shapiro ist die Hauptfigur und die rechte Hand des gojschen „Paten“ von Warschau, Jan Kaplica. Durch diese Position genießt Jakub Ansehen und Macht in Warschau. Dies äußert sich unter anderem darin, dass Taxifahrer und Restaurantbesitzer kein Geld von ihm annehmen wollen. Doch auch wenn er kein praktizierender, noch nicht einmal ein gläubiger Jude ist, der an einer Stelle im Buch sagt „ihm seien die vor dreitausend Jahre in der Wüste erdachten Sitten scheißegal“, übersieht er nicht, was seine ausgegrenzten Juden erleiden müssen. Darunter zum Beispiel sein Bruder Moryc, der Antisemitismus am eigenen Leib an der Universität erlebt. An der Universität werden jüdische Studenten aufgefordert an für sie ausgewiesenen Plätzen Platz zu nehmen. Verständlich, dass Shapiro das nicht auf sich sitzen lassen kann und der Vorlesung einen Besuch abstattet. Sein Bruder Moryc ist außerdem ein glühender Zionist, der Jakub für die Idee nach Palästina auszuwandern und einen jüdischen Staat zu errichten, zu gewinnen versucht.
Unter den Zuschauern im Publikum sitzt auch der 17-jährige Mojsche Bernstein. Er ist allumfassender Erzähler und wird Jahrzehnte später, nachdem er nach Israel ausgewandert ist, den Namen Aluf Mosche Inbar angenommen und in der Armee Karriere als General gemacht hat, sich in seinem Lebensabend an seine Schreibmaschine setzen und seine und Shapiros Geschichte im Warschau kurz vor dem Einmarsch der Nazis erzählen. Die Frage „Wer erzählt?“, der siebzehnjährige Bernstein oder doch der altgewordene Inbar, überlasse ich dem Leser selbst herauszufinden.
Schutzgeld-Mörder
Dies beginnt er mit dem Boxkampf und damit wie er in den Beifallssturm der Anderen mit einstimmt. Shapiro hat ihm die Eintrittskarte persönlich übergeben. Somit ist an Bernsteins Applaus nichts Verwunderliches, sollte man denken. Doch bereits auf den ersten Seiten erfährt man in detaillierter Form, dass Shapiro zwei Tage zuvor Bernsteins Vater wegen ausstehender Schutzgeld-Zahlungen an seinen Chef Kaplica von zuhause abgeholt, die Kehle durchgeschnitten hat, gewartet „bis mein Vater ausgeblutet war“, dann ließ er ihn vierteilen und von seinen Gehilfen „in dem kleinen See in Odolany, dem sowohl der Glaube als auch die Tatsache, dass der versenkte Naum Bernstein unvollständig war, völlig gleichgültig waren“ versenken.
Mojzesz Bernstein wird von Shapiro daheim bei seiner Frau und seinen Kindern aufgenommen. Shapiro führt ihn in eine Welt voller Bordelle, Drogen und Straßenkämpfe der Sozialisten gegen die Faschisten ein, lehrt ihn das Boxen und noch andere Dinge, die einen Mann aus ihm machen sollen. Die Geschichte wird detailreich erzählt und die Erzählweise erinnert stellenweise an einen Actionfilm von Quentin Tarantino, was als Kompliment aufzufassen ist. Immer wieder wechseln die Figuren ins Jiddische, was im polnischen Original einen noch stärkeren Effekt gehabt haben muss als auf deutsche Leser. Gespickt ist sie mit vielen Haupt- und Nebenfiguren, wie Ryfka, die ein Bordell betreibt, das als nächtliche Zentrale des Paten gilt. Ryfka ist Shapiros erste große Liebe, die er verlassen hat, da sie ihm keine Kinder gebären konnte. Sie wird eine überlebenswichtige Rolle in diesem und dem Nachfolgeband spielen.
König von Warschau
Im Laufe der Geschichte wird die anrollende Katastrophe immer deutlicher: Die extremen Rechten planen einen Putsch, begleitet von Straßenschlägereien und Demonstrationen. Der Alltag von Kaplica und Shapiro wird auf den Kopf gestellt als Kaplica verhaftet, und nicht wie üblich kurz darauf entlassen wird, sondern ihm ein Mord untergejubelt wird und er Isolationshaft in Bereza Kartuska, einem Lager zur Isolierung politischer Häftlinge, bekommt, gefoltert und an den Folgen stirbt. Es bricht ein Straßenkrieg aus, der viele Todesopfer fordern wird. Moryc, der es geschafft hatte, Jakub davon zu überzeugen, alles zu verkaufen, um mit ihm und seiner Familie nach Palästina auszuwandern, ist eines der Opfer. Nachdem der Flieger bereits gestartet war, wirft Jakub einen Blick aus dem Fenster auf sein Warschau und erinnert sich an die Nachricht, die Kaplica ihm auf Tonband hinterließ: „Sei König dieser Stadt. Dort ist dein Reich.“ Diese Worte veranlassen ihn dazu, den Piloten zur Umkehr zu zwingen, damit er für die nächsten zwei Jahre der König von Warschau werden kann.
Der 1979 geborene Szczepan Twardoch gehört zur schlesischen Minderheit in Polen, die ca. 300.000 Leute umfasst, setzt sich für die Erhaltung der schlesischen Sprache und Kultur ein. Vielleicht verschafft ihm seine Muttersprache, die von manchen als Mischung aus Polnisch und Deutsch bezeichnet wird, auch die nötige Distanz, um über die polnischen Verhältnisse zu schreiben und sich in die Gefühle einer Minderheit einzufinden. Twardoch wird von Kritikern vorgeworfen, dass er politisch rechts stehe, weil er die Regierungspartei nicht in allen Belangen kritisiere, sondern deren Sozialpolitik auch etwas Positives abgewinnen kann. Andere behaupten, seine Figuren seien holzschnittartig und dass vor allem die Frauen nur Klischees bedienen würden. Damit tut man nicht nur Twardoch, sondern auch seinen weiblichen Figuren Unrecht. Viel eher ist ihm zu verdanken, dass Polen mit „Der Boxer“ wieder um den Weltmeistergürtel der Literatur mitkämpfen kann.
Szczepan Twardoch: Der Boxer
Rowohlt Verlag,
Reinbek 2018
464 Seiten,
22,95 Euro
ISBN: 978-3-499-29147-0
Sehr geehrte Leser!
Die alte Website unserer Zeitung mit allen alten Abos finden Sie hier:
alte Website der Zeitung.
Und hier können Sie:
unsere Zeitung abonnieren,
die aktuelle oder alte Ausgaben bestellen
sowie eine Probeausgabe bekommen
in der Druck- oder Onlineform
Werbung