Die Judenmadonna

Zum neuen Roman von Antje Sievers über eine im mittelalterlichen Straßburg als Christin versteckt lebende und liebende Jüdin

Von Hein Tiede

Vergeblich ist der Rat Bertolt Brechts in seinem Gedicht über die Lust des Beginnens:

„O erste Seite des Buchs, des erwarteten, sehr überraschende! Lies langsam, allzuschnell wird der ungelesene Teil dir dünn!“ Antje Sievers Roman „Die Judenmadonna“ legt man nicht so schnell aus der Hand. Das liegt nicht nur an den dramatischen Handlungssträngen, einer wunderbaren Lesbarkeit, kenntnisreichem Detailwissen zur Mal- und Kochkunst und den Sitten und Gebräuchen im 15. Jahrhundert, sondern auch an der zu Herzen gehenden Liebesgeschichte, die den ganzen Roman durchwebt.

Außerordentlich detailliert und sachkundig beschreibt die Autorin den jüdischen Alltag im mittelalterlichen Bergheim: das koschere Essen, das Kaddisch-Sprechen oder die Feiertage im jüdischen Jahr. Eingebettet ist dieser historische Roman durch einen Prolog, in dem ein Professor Michael Behnrath vergeblich versucht, seine Studentinnen an die mittelalterliche Kunst heranzuführen und einen Epilog, in dem derselbe Professor auf völliges Desinteresse einer Besucherin an dem bekanntesten Bild Schongauers – der „Madonna im Rosenhag“ – stößt. Zu viele wollen von der Vergangenheit nichts mehr wissen und sind „zu dumm“ – so der Professor –, um über ihren zeitlichen Tellerrand blicken zu können. Umso wichtiger, dass wir – die Leser der Jüdischen Rundschau – uns immer wieder mit Geschichte vertraut machen.

 

Ein Bild entsteht erst im Auge des Betrachters

Geschichte ist nicht nur das Vergangene. Geschichte entsteht immer neu, mit uns als Augenzeugen. Und es kommt darauf an, die Zeugnisse der Zeit einzuordnen, richtig einzuordnen. Antje Sievers lässt Martin Schongauer seiner geliebten Gertrud, von deren wahrer jüdischen Herkunft er nichts weiß und nichts wissen darf, sagen: „…denn ein Bild, musst du wissen, entsteht immer erst so recht im Auge des Betrachters. Erst dort und in dessen Seele und Gemüt erfährt es seine Vollendung.“ Ich denke, dass diese Aussage auch analog für einen Roman gilt. Was löst er in mir aus, welche Schichten meines Inneren werden angesprochen, was sagt mir dieser wunderbare Roman?

Wer Ralph Giordanos „Die Bertinis“ gelesen hat, weiß um die bedrückenden, angstmachenden, so oft tödlich endenden politisch-gemachten Lebensumstände der deutschen Juden in den schlimmen Jahren des Nationalsozialismus. Dass aber ein halbes Jahrtausend vorher ganz ähnlich zuging, lässt – obwohl im Geschichtsunterricht nicht gänzlich unerwähnt – die Hoffnung fahren, dass dieser Wahn ein für alle Mal vorbei ist.

Besonders anschaulich schildert die Autorin diesen Wahn am Beispiel des Heinrich Kramers, dem Verfasser des „Hexenhammers“, Malleus maleficarum. In dieser Schrift gibt der Mönch, der selbst Bischöfen gefährlich werden konnte, genaue Anweisungen, wie Hexen zu überführen und zu bestrafen seien. Mit gleicher Intensität arbeitet er daran, die Juden aus den Städten zu vertreiben, in denen er Einfluss gewinnen kann. Henricus Institoris, wie er sich nennen lässt, fasst seine Schriften in Latein ab und lässt sich den Wahrheitsgehalt seiner Ausführungen durch theologische Fakultäten bestätigen. Wir kennen das: Umstrittenes wird durch angebliche Zustimmung von Wissenschaftlern der Diskussionsbedürftigkeit entzogen.

 

Verkleidet in Straßburg, wo sie ihre Liebe trifft

Wir lernen die spätere Judenmadonna als junges Mädchen kennen, die in der Judengasse Bergheims großgeworden ist. Sie hat seit Geburt ganz blonde Haare, deretwegen sie Golda oder Goldele genannt wird. Ihren Vater Jakob, der sich so sehnlich einen Sohn wünscht, darf sie auf seiner Reise von Bergheim nach Straßburg begleiten. Jakob ist Pferdehändler, jähzornig gegenüber seiner Tochter, muss aber die Demütigungen der christlichen Torwächter widerspruchslos ertragen, wenn ihm sein Leben lieb ist. Trotzdem erlaubt er seiner Tochter, sich die Stadt anzuschauen. Sie hatte vorsorglich, ohne Wissen des Vaters, Kleidung mitgenommen, die ihre jüdische Herkunft verbirgt. Heimlich und voller Angst zieht sie sich in einer kleinen Gasse um und trifft wenig später das erste Mal auf Martin Schongauer. Martin spricht sie an, als sie ganz in der Betrachtung der Liebfrauenkirche versunken ist. Sie wechseln nur wenige Worte, gehen einander aber nie mehr aus dem Sinn.

Auch wenn der Leser vom Klappentext weiß, dass sich die beiden wiedertreffen werden – er bleibt ahnungslos, was den Protagonisten bis dahin alles widerfährt.

Orte des Geschehens sind Freiburg und Breisach am Rhein, sowie die elsässischen Städte Bergheim, Kolmar, Mühlhausen und Straßburg. Mir hat es gutgetan, den Atlas herauszunehmen und zu schauen, wo sich die handelnden Personen des Romans aufhalten und wohin sie sich auf den Weg machen.

 

Das Untertauchen als Christin und die damalige politische Korrektheit

Alles hat seinen Preis. Auch Golda muss einen hohen Preis zahlen dafür, dass es ihr, als sie in Martin Schongauers Haus aufgenommen wird, in vielerlei Hinsicht so gut geht. Sie wird geachtet und geliebt. Wirtschaftlich gibt es keinen Mangel. Martin verwöhnt sie mit teuren Kleidern und Schmuck. Aber sie muss ihre jüdische Identität verbergen, darf ihr Fremdeln mit christlichen Bräuchen und Essgewohnheiten nicht zeigen.

Besonders leidet Golda, wenn sie sich Lügen über Juden anhören muss, die von Gästen am Essenstisch verbreitet werden. Auch der von ihr von ganzem Herzen geliebte Martin stimmt in herzhaftes Gelächter ein, wenn Geschichten von drangsalierten Juden erzählt werden. Tapfer versucht sie, die hartnäckige Lüge zu kontern, dass Juden das Blut von Christen nähmen, um es zu Brot zu verbacken. Die besten Argumente nützen jedoch nichts, wenn der Kontrahent den Vorwurf der Ketzerei erhebt. Gegen diese Beschuldigung, die allzu deutlich auf die Inquisition und die mit ihr verbundene „peinliche Befragung“ abzielt, kann es zur damaligen Zeit nur den verbalen Rückzug geben.

Viele Jahre später lässt die Autorin den nachdenklichen Martin Schongauer fragen:

„Wenn die Juden über solche ungeheure Macht verfügen, warum hätten sie es dann nicht längst schon getan (die Christen getötet und sich die Welt untertan gemacht)? Warum fristen sie stattdessen ihr Leben in den engen Judengassen und Höfen und sind beinahe vogelfrei und jedem Angriff schutzlos ausgeliefert?“

Erst ein halbes Jahrtausend später bekennt Papst Johannes XXIII., nach Abwehr zahlreicher Interventionen seitens arabischer und traditionalistischer Bischöfe, unter anderem Marcel Lefebvre:

„Wir erkennen an, dass viele Jahrhunderte der Blindheit unsere Augen bedeckt haben, dass wir die Schönheit Deines auserwählten Volkes nicht mehr sahen und in seinem Gesicht nicht mehr die Züge unseres erstgeborenen Bruders wiedererkannten. Wir erkennen, dass das Kainszeichen auf unserer Stirne steht. Im Laufe der Jahrhunderte hat unser Bruder Abel in dem Blute gelegen, das wir vergossen, und er hat Tränen geweint, die wir verursacht haben, weil wir Deine Liebe vergaßen. Vergib uns die Verfluchung, die wir zu Unrecht aussprachen über dem Namen der Juden. Vergib uns, dass wir Dich in ihrem Fluche zum zweiten Male kreuzigten, denn wir wussten nicht, was wir taten.“

Können wir jetzt beruhigt sein, weil die Quelle des christlichen Antisemitismus anscheinend versiegelt wurde? Oder droht ein neuer religiöser Antisemitismus, der laut fordernd auf feige Politiker trifft, die ohne Geschichtsbewusstsein sind und nicht die notwendige Stärke aufbringen, um die Juden im eigenen Land zu schützen? Dafür fallen sie Israel immer wieder in den Rücken, versuchen seine Verteidigungsmöglichkeit zu unterminieren und wollen seine Soldaten vor den Internationalen Gerichtshof zerren.

„Die Judenmadonna“ bestärkt uns in unserer Wachsamkeit. Sie bietet uns aber auch wunderschöne Stunden der Unterhaltung, der Horizonterweiterung und des Genusses.

Auch als Geschenk an Menschen, die uns lieb sind, eignet es sich vortrefflich.

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