Der jüdische Rächer aus Davos
Vor 85 Jahren erschoss der aus Deutschland zwangsemigrierte Jude David Frankfurter in der Schweiz den Nazi-Gruppenleiter Wilhelm Gustloff
David Frankfurter 1945 in Palästina© WIKIPEDIA
Er wollte Arzt werden - und wurde zum Mörder. Er scheute die Öffentlichkeit – und beeinflusste den Verlauf des Zweiten Weltkrieges. Alle hatten ihn verurteilt, sogar die eigene Familie – dabei rettete er 20.000 Schweizer Juden. David Frankfurter, der Mörder des Nazi-„Märtyrers“ Wilhelm Gustloff.
Wilhelm Gustloff kam am 30. Januar 1895 in Schwerin zur Welt. Hochgewachsen war er, seine Gesundheit jedoch etwas schwach, sein Geist womöglich ebenfalls. So arbeitete er während des Ersten Weltkrieges in einer Bank. 1917 ging er in die Schweiz und dort der Tätigkeit eines Versicherungskaufmanns nach. Sein Stern stieg 1929: Gustloff trat der NSDAP bei und wurde politisch sehr aktiv. 1931 leitete er den von ihm gegründeten Schweizer NSDAP-Ableger in Davos. Zwei Jahre später ernannte ihn Hitler, zu dem Zeitpunkt bereits Reichskanzler, zum Landesgruppenleiter der Schweiz.
Gustloffs propagandistisches Wirken in Davos beruhte auf einer gelingsicheren, effektiven wie auch bewährten Strategie: Er brachte die antisemitischen Gesinnungssaiten der Gesellschaft zum Klingen. So war er derjenige, der die von der Polizei im Zarenreich konstruierte, berühmt-berüchtigte Schrift „Die Protokolle der Weisen von Zion“ in die Schweiz brachte und für deren Verbreitung sorgte. Bald darauf legten mehr als 5.000 Schweizer einen Treueschwur auf das Dritte Reich ab im Bestreben, unter der Leitung Gustloffs den Anschluss des eidgenössischen Landes an Deutschland zu erreichen. Es ist nicht auszuschließen, dass aufgrund dieser Umtriebe die Schweiz den gleichen Weg wie Österreich oder das Sudetenland genommen hätte.
Der 4. Februar 1936 änderte jedoch alles.
Seinen 42. und, wie es sich herausstellte, letzten Geburtstag verbrachte Gustloff in Berlin. Am selben Tag, an dem Gustloff die Gratulationen seiner Freunde und Weggefährten entgegennahm, machte sich der 27-jährige Medizinstudent David Frankfurter aus Bern auf den Weg nach Davos. Schnell ermittelte er im Telefonbuch die Gustloff-Adresse, musste sich aber noch fünf Tage gedulden, bis der Gesuchte wieder zurück in der Schweiz war.
Der Täter stellte sich sofort der Polizei
Die Tür öffnete Hedwig, Gustloffs Ehefrau. Sie geleitete den unangemeldeten Besucher ins Zimmer und bat zu warten, da ihr Mann noch telefoniere. Durch die halbgeöffnete Tür sah David Frankfurter den Hausherrn, wie er unter einem großen Führer-Porträt saß, und hörte etwas von „jüdischen Schweinen“. Dann kam Gustloff ins Zimmer und bat, die Verzögerung zu entschuldigen.
„Ich bin Jude“, sagte Frankfurter, und drückte ab: Er schoss Gustloff in Kopf, Hals und Brust, insgesamt fünfmal. Von Hedwigs Schreien begleitet, verließ Frankfurter das Haus, klopfte bei Nachbarn an und bat um Erlaubnis zu telefonieren. Er rief bei der Polizei an, gestand den Mord und ging anschließend zu einer Polizeistation, wo er sachlich und detailliert den Hergang des Verbrechens schilderte.
David Frankfurter kam in einem kleinen Städtchen im Süden der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, im heutigen Kroatien, zur Welt. Sein Vater war Rabbiner. Seit seiner Kindheit litt David an einem Knochentumor, musste mit starken Schmerzen kämpfen und wurde bis zu seinem 24. Lebensjahr siebenmal operiert. Dennoch absolvierte er die Schule mit Auszeichnung und begann das Studium der Stomatologie an der Leipziger Universität, um es danach in Frankfurt fortzusetzen, in der Stadt also, aus der seine Familie stammte.
1931 gewannen die Nationalsozialisten bei den Wählern immer mehr an Boden und rückten näher und näher an die Macht. Es mehrten sich antisemitische Angriffe. David Frankfurter, über diese politische Entwicklung sehr bestürzt, versuchte dem entgegenzuwirken durch eine jüdische Anti-NS-Studentenorganisation. Doch zwei Jahre später, als die Nazis die Macht ergriffen hatten, wurden alle jüdischen Studenten aus den Universitäten ausgeschlossen.
In der Schweiz vom Nationalsozialismus eingeholt
Daher ging David in die Schweiz, nach Bern, um dort sein Studium fortzuführen. Seine Krankheit quälte ihn erneut, raubte ihm die Kraft, trieb ihn in die Verzweiflung.
Zu dieser Zeit hörte er von Gustloff und dessen vielfältiger Agitation. Der Plan reifte schnell. Möglicherweise halfen die Vorbereitung des Attentats und die präzise Ausarbeitung der Details David seine Depressionsschübe zu bewältigen. Schließlich erfuhr er von der Aufwiegelungsarbeit Gustloffs durch die „Protokolle der Weisen von Zion“. Dies war der Auslöser, den Plan umzusetzen. Am 30. Januar 1936, mit einer Pistole und einem One-Way-Ticket, fuhr David von Bern aus nach Davos.
Die Goebbels‘sche Propagandamaschine machte „das Beste“ aus dem Attentat: Der Mord am Schweizer Nazi-Führer, verübt vom „jüdischen Halunken“.
Der Mord wurde ins Rampenlicht gerückt als Beweis einer weltweiten jüdischen Verschwörung gegen das deutsche Volk. Wilhelm Gustloff wurde zum Märtyrer und einem „Symbol des Leidens“. In Deutschland ordnete man eine Staatstrauer an; dem anberaumten Staatsbegräbnis Gustloffs wohnten Goebbels und der Führer persönlich bei. Zahlreiche Straßen und Plätzen bezeichnete man mit dem Namen Gustloffs, in seiner Heimatstadt Schwerin wurde gar eine Gedenkstätte für ihn eingerichtet. Ein Jahr später erhielt ein in Hamburg fertiggestelltes 10-Deck-Kreuzfahrtschiff den Namen „Wilhelm Gustloff“. Die Schiffstaufe fand in Hitlers Anwesenheit statt; Gustloffs Witwe Hedwig zerschmetterte „aufs Glück!“ eine Flasche Champagner an der Bordwand des riesigen Schiffs.
Hitler mahnte zur Zurückhaltung wegen der Olympischen Spiele
Die Rufe nach Vergeltung ließen nicht lange auf sich warten: Goebbels Helfer soufflierten sie vorsorglich der Gesellschaft. Hitler bat jedoch zu warten, da im Sommer in Berlin die Olympischen Spiele stattfinden sollten und der Führer zusätzliche Probleme vermeiden wollte.
Drei Jahre später sollte das Attentat des Herschel Grynszpan, eines polnischen Juden, der am 7. November 1938 den deutschen Diplomaten Ernst von Rath in Paris erschoss, alles wieder in Erinnerung rufen. So diente dieses Attentat als Vorwand und Anlass für das Pogromgeschehen in der sogenannten Kristallnacht. Es steht allerdings außer Zweifel, dass Pogrome an der jüdischen Bevölkerung auch ohnedies stattgefunden hätten.
Zurück zu David Frankfurter. Die Mehrheit der europäischen Juden verurteilte seine Tat. So auch Davids Vater, der ihn beim Besuch im Gefängnis, von Bitterkeit erfüllt, fragte: „Wer brauchte das alles?“ Der israelische Holocaustforscher Meir Schwarz meinte allerdings, dass der Mord an Gustloff Hitler die Möglichkeit entzog, den Reichsanschluss der Schweiz zu erreichen, was 20.000 Schweizer Juden das Leben gerettet haben dürfte.
Die Behörden des Alpenlandes versuchten, das Attentat als eine rein kriminelle Straftat hinzustellen; der politisch-ideologische Kontext wurde totgeschwiegen. David Frankfurter wurde zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt. Die Schweizer Staatsbürgerschaft wurde ihm entzogen, und nach der Verbüßung der Strafe sollte er nie mehr Schweizer Boden betreten dürfen.
Davids Vater verurteilt den Sohn – und wird später von den Faschisten ermordet
1941 besetzten die Nazis in Kroatien das Städtchen Vinkovci, wo der Vater von David Frankfurter Rabbiner war. Die Soldaten zogen den Rabbiner am Bart, spuckten ihm ins Gesicht und schlugen ihn mit Gewehrkolben. Er wurde später von den Ustascha (zu Deutsch – „Aufständische“ – kroatische nationalistische, später faschistische Bewegung, der während des Zweiten Weltkrieges über 30.000 Juden zu Opfer fielen, - Anm. d. Übers.) im Konzentrationslager Yasenovac getötet. Ob sie wussten, dass er der Vater von Gustloffs Mörder war, ist unklar.
Das Schiff „Wilhelm Gustloff“ wurde am 30. Januar 1945 von einem sowjetischen U-Boot in der Ostsee versenkt – genau zum 50. Geburtstag des gescheiterten Schweizer Gauleiters und genau 12 Jahre nach Hitlers Machtübernahme. Zusammen mit dem Schiff sanken alle Passagiere – etwa 9.000 Flüchtlinge, die vor der sowjetischen Offensive in Ostpreußen geflohen waren. Was die Anzahl der Opfer anbelangt, war es das wahrscheinlich tragischste, wenn auch relativ unbekannte Ereignis seiner Art in der Geschichte der Seefahrt. Der Untergang des Schiffes „Wilhelm Gustloff“ wurde zum zentralen Gegenstand des Romans „Im Krebsgang“, der von einem ehemaligen Kämpfer der 10. SS-Panzerdivision geschrieben und 2002 veröffentlicht wurde, nämlich von Günter Grass, der 1999 den Nobelpreis für Literatur erhielt. 2012 veröffentlichte Grass ein Prosagedicht „Was gesagt werden muss“, in der er Israel als „Besatzungsland“ und „ein Land, das eine Bedrohung für den Frieden darstellt“, bezeichnete. In der Folge wurde Grass vom jüdischen Staat zur Persona non grata erklärt.
Auswanderung: Aus dem Schweizer Gefängnis nach Palästina
David Frankfurter verbrachte den gesamten Krieg in einem Schweizer Gefängnis. Nach etwa der Hälfte seiner Haftzeit reichte er im Februar 1945 ein Gnadengesuch ein, dem zum Sommer entsprochen wurde. Frankfurter wurde aus dem Gefängnis entlassen mit der Auflage, die Schweiz zu verlassen und alle Gerichtskosten zu bezahlen. 1969 hob das Parlament des Kantons Graubünden die Ausweisung von Frankfurter auf.
David hatte jedoch von dieser Großzügigkeit des Kantons keinen Nutzen, da er unmittelbar nach seiner Freilassung zusammen mit anderen illegalen Einwanderern nach Palästina ausreiste. Er heiratete ein Mädchen, das er in einem Transitlager kennengelernt hatte, und ließ sich in Tel Aviv nieder. Danach schloss sich David Frankfurter der Hagana (paramilitärische zionistische Untergrundorganisation im britischen Mandatsgebiet, - Anm. d. Übers.) an, nahm am Unabhängigkeitskrieg teil und diente anschließend im Verteidigungsministerium. Er widersetzte sich der Glorifizierung seiner Tat, veröffentlichte jedoch zwei Memoirenbücher – „Vergeltung“ auf Deutsch und „The first fighter against National Socialism“ auf Englisch. Als er ein Kind war, glaubten die Ärzte, dass er mit seiner Krankheit noch während seiner Kindheit sterben würde, gleichwohl lebte David Frankfurter mehr als sieben Jahrzehnte, bevor er 1982 in Ramat Gan verstarb. In Israel sind Straßen und Parks nach ihm benannt.
Übersetzung aus dem Russischen von Irina Korotkina
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