Von Sommerfeld nach Valparaiso

Ein Nachruf auf und die dramatische Fluchtgeschichte des Juden Karl-Heinz Moses, der aus der Niederlausitz nach Chile floh.

Der deutsch-chilenische Jude Karl-Heinz Moses

Von Hans-Wilhelm Saure

Im Januar 1940 erreichte der damals 17-jährige Karl-Heinz Moses an Bord eines Schiffes aus Marseille den Hafen von Valparaíso. Es war das Ende einer dramatischen Flucht vor den Nazis aus Deutschland. Als erstes kaufte sich Moses damals Kirschen an einem Obststand. Für ihn war es nach all den schlimmen Erfahrungen als Jude in Nazi-Deutschland ein ganz besonderer Glücksmoment. Zur Erinnerung an die rettende Ankunft holte er sich zu jedem Jahrestag wieder Kirschen an einer Obsttheke. 80 Jahre lang. Dabei hätte Karl-Heinz Moses Chile fast nicht erreicht.

Karl-Heinz Moses mit Familie

 

Vater und Sohn in französischem Lager

Ende August 1939 bestieg er mit seinen Eltern Simon und Eva Moses sowie seiner anderthalb Jahre jüngeren Schwester Ruth in Genua das italienische Schiff „Virgilio“. Der Vater von Karl-Heinz Moses hatte in der chilenischen Botschaft in Berlin Visa für seine Familie erhalten. Als kaum ein Land mehr jüdische Flüchtlinge aus Deutschland aufnahm, vergab Chile damals 5.000 Visa an die Verfolgten. Eine rettende Maßnahme, für die Karl-Heinz Moses dem Land immer zutiefst dankbar war. 

Noch während der Überfahrt von Genua nach Valparaíso brach durch den Überfall Deutschlands auf Polen der Zweite Weltkrieg aus. In Marseille stoppten Franzosen das Flüchtlingsschiff und holten die jüdischen Männer von Bord. Obwohl sie sich auf der Flucht vor der NS-Diktatur befanden, galten sie für die Franzosen als Deutsche und somit als Feinde. Während die Mutter von Karl-Heinz Moses und seine Schwester weiter nach Valparaíso fahren durften, wurden er und sein Vater in das französische Internierungslager „Les Milles“ gebracht. In der alten Ziegelei war Moses mit jüdischen Emigranten wie dem Schriftsteller Lion Feuchtwanger in einem Trakt untergebracht und musste Steine schleppen. 

Nach drei Monaten durfte Moses das Lager in Südfrankreich verlassen und nach Chile ausreisen. „Mein Vater hatte 6.000 Dollar als wir in Chile ankamen. Die Hälfte davon gaben wir für eine Krebsoperation meiner Mutter aus. Von der anderen Hälfte kauften wir uns etwas zu essen, bis wir eine Arbeit gefunden hatten“, erzählte Karl-Heinz Moses vor vier Jahren in einem Interview für eine Filmdokumentation über jüdische Flüchtlinge in Chile, die bald veröffentlicht werden soll. Der 2.580 Kilo schwere Transport mit dem Umzugsgut der Familie wurde von der Gestapo in Hamburg beschlagnahmt und versteigert. Das Handgepäck von Karl-Heinz Moses und seinem Vater konfiszierten die Franzosen. Nur die Koffer seiner Mutter und der Schwester kamen in Chile an. Ein Aschenbecher war der einzige Gegenstand aus der Fünfeinhalb-Zimmer-Wohnung in Berlin-Charlottenburg, der übrig blieb. Den Großteil ihrer Wohnungseinrichtung musste die Familie vor der Flucht aus Berlin verschleudern, Konten und Aktien wurde von den Nazis beschlagnahmt.

 

Bis 95 Jahren als Buchhalter tätig

Karl-Heinz Moses, der in Deutschland unter der Nazi-Herrschaft weder Abitur noch eine Lehre machen durfte, arbeitete in Valparaíso zuerst als Hilfskraft in einer Reifenwerkstatt.  Dann jobbte er bei einer Touristenagentur, danach bei einer Bank und schließlich hatte Moses viele Jahre eine eigene Firma für Buchhaltung und Steuerberatung. Bis zu seinem 95. Lebensjahr arbeitete der stolze Vater einer Tochter und eines Sohnes und fünffache Großvater als Chefbuchhalter in der Export-Firma eines Freundes in Valparaíso. Deutschland verweigerte dem NS-Verfolgten, der seine deutsche Staatsbürgerschaft nie aufgab, eine Rente. Die Linkspartei bemühte sich 2012 im Bundestag vergeblich durch eine Härtefallregelung eine kleine Ehrenpension für Karl-Heinz Moses und die anderen jüdischen Flüchtlinge in Chile zu erreichen.

Vier Jahre lang leitete Moses außerdem als Präsident die Comunidad Israelita de Valparaíso - Viña del Mar.

Danach engagierte er sich viele Jahre im Kultusbeirat und war der Geschichtsschreiber der Gemeinde. Zu jeder der 120 Familien der jüdischen Gemeinde konnte er eine Geschichte erzählen. Karl-Heinz Moses besaß ein phänomenales Gedächtnis, konnte sich nach Jahrzehnten an Namen und Einzelheiten erinnern. Auch Erlebnisse aus seiner Kindheit in Brandenburg und Berlin erzählte er mit umwerfender Detailgenauigkeit, viel Charme und Witz. Ihm zuzuhören war ein Vergnügen und ein Erlebnis. Er interessierte sich mit großer Leidenschaft für Politik und Geschichte, las unzählige Bücher.

 

„Ich werde sterben und nie verstehen, wie so etwas damals in Deutschland passieren konnte“

Geboren wurde Karl-Heinz Moses am 19. Juni 1922 in Sommerfeld (Kreis Crossen) in der Niederlausitz. Heute heißt die Stadt Lubsko und gehört zu Polen. Sein Vater betrieb dort ein Schuhgeschäft und ein Konfektionsgeschäft. Die Familie lebte in einem stattlichen Haus mit Kindermädchen und war in der jüdischen Gemeinde aktiv.

Mit der Machtergreifung Hitlers war die glückliche Kindheit von Karl-Heinz Moses vorbei. Einige Schulkameraden durften nicht mehr mit ihm spielen. Die Familie musste die Läden wegen der Nazis aufgeben und zog in die Mommsenstraße nach Berlin. Auf eine öffentliche Schule durfte Moses als jüdisches Kind bald nicht mehr gehen. Eine Zeitlang besuchte er ein privates Schul-Institut, das jüdische Ingenieure betrieben, die ihre Arbeit verloren hatten.

Bis zur Reichspogromnacht am 9. November 1938 arbeitete er als Verkäufer in dem jüdischen Lederwarengeschäft G. Strumpf in der Kantstraße 116 in Berlin-Charlottenburg. SA-Horden und andere Nazis verwüsteten das Geschäft und steckten es in Brand. Das Ehepaar, das den Laden betrieb, wurde später von den Nazis ermordet.

„Ich werde sterben und nie verstehen, wie so etwas damals in Deutschland passieren konnte“, sagte Karl-Heinz Moses in dem Filminterview. Als Bundespräsident Joachim Gauck im Sommer 2016 Chile besuchte, wurde er als Holocaust-Überlebender zu einem Empfang in die Botschaft nach Santiago de Chile eingeladen. „Ich bin einer der letzten Mohikaner“, sagte er Gauck, der sich mit ihm unterhielt. Dass ihm der Bundespräsident in Chile die Hand drückte, nachdem er in Deutschland als Mensch Zweiter Klasse verfolgt wurde, war ein ganz besonderer Moment für ihn.

Vor Schülern der Deutschen Schule Valparaíso hielt der gebürtige Brandenburger regelmäßig Vorträge über seine Erlebnisse in Nazi-Deutschland und diskutierte mit den jungen Leuten. Das war ihm ein besonderes Anliegen.

Im Oktober feierte der Familienmensch Goldene Hochzeit mit seiner geliebten Ehefrau Lucia Garay de Moses. Wegen Corona ging das nur im ganz kleinen Familienkreis. Sein Stamm-Café in Viña del Mar und seine Freunde konnte er seit Februar nicht mehr besuchen, Kinder und Enkel nur selten sehen. Die Einschränkungen durch die Epidemie schmerzten ihn, aber er nahm sie mit Verständnis und Gelassenheit und verlor nie seinen Humor. Karl-Heinz Moses starb im Alter von 98 Jahren am 3. November im Schlaf an einem Herzinfarkt in seiner Wohnung in Viña del Mar.

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