„Je stärker die Sowjetmacht, desto weniger gibt es jüdisches Leben.“

Zum 125. Geburtstag des sowjetischen Jiddisch-Schriftstellers Perez Markisch

David Markisch

Der Schriftsteller David Markisch, siebenfacher Träger israelischer Literaturpreise, ist weit über die Grenzen des jüdischen Staates bekannt: Seine Bücher wurden in den USA, in Frankreich, Großbritannien, Deutschland, in der Schweiz, der Ukraine und in Russland veröffentlicht. Sein Vater, der herausragende Dichter Perez Markisch, dem als Einzigen in der UdSSR der Lenin-Preis für Werke in jiddischer Sprache verliehen wurde, kam am 7. Dezember 1895 im Gouvernement Volyn zur Welt. Wir sprechen heute mit David Markisch über seinen Vater, über das jüdische Leben in der UdSSR, den Preis der Loyalität der Staatsmacht gegenüber, über das Jiddische und den Zionismus.

 

JÜDISCHE RUNDSCHAU: David, ihr Vater ist ein herausragender Lyriker, der auf Jiddisch schrieb; Sie hingegen beherrschen diese Sprache kaum, was leider typisch für die Mehrheit der Nachkommen sowjetischer Schriftsteller jüdischer Herkunft ist. Womöglich ist das die wahre Tragödie der jüdischen Kultur während der Sowjetzeit?

David Markisch: Ich bin 1938 geboren; zu dieser Zeit wurden jüdische Schulen, d. h., die jüdische Bildung, so gut wie zerstört. Meine Eltern sprachen zuhause Russisch, mit befreundeten Literaten dagegen diskutierte mein Vater ausschließlich in jiddischer Sprache. Ich verstehe Jiddisch kaum. Früher konnte ich Farsi, dann habe ich Hebräisch gelernt, wenn auch nicht perfekt, schreibe aber auf Russisch.

JÜDISCHE RUNDSCHAU: Was verbindet Perez Markisch mit der Ukraine? Seine Familie stammte aus der Ukraine, dort ist er aufgewachsen und veröffentlichte seine ersten Werke…

David Markisch: Die Antwort auf diese wichtige Frage liefert eines seiner frühen Poeme – „Volyn“, das durchtränkt ist von der Liebe zu diesem Fleckchen Erde. Er selbst ist in der Siedlung Polonnoje geboren, beherrschte Ukrainisch von Kindesbein an, auch das sagt Einiges aus.

Nach „Volyn“ kam ein anderes Poem in jiddischer Sprache aus seiner ukrainischen Zeit: „Di Kupe“ (1922); somit begann die Epoche des Konstruktivismus in der jüdischen Lyrik, und Markisch wurde zu einem der führenden jüdischen Dichter seiner Zeit.

JÜDISCHE RUNDSCHAU: Anfang der 1920er Jahre lebte Perez Markisch im Westen; was bewegte ihn dazu, zurück in die Sowjetunion zu gehen?

David Markisch: Mein Vater verließ die Ukraine 1922 und kam 1926 dorthin zurück. Dies war bezeichnend für die vielen jüdischen Literaturschaffenden dieser Generation, die seinerzeit emigrierten. Alle Exiljahre hindurch mussten sowohl mein Vater, als auch die Kiewer Dichter David Bergelsohn und David Hofstein bemerkt haben, dass die jiddische Literatur in Europa keinerlei Existenzgrundlage bildet. Zusammen mit Uri-Zwi Grinberg, Mejlach Ravitsch und Chagall, der für die Illustrationen sorgte, veröffentlichte mein Vater in Paris und Warschau 1922 zwei Ausgaben des Chaliaßtre-Almanach, und auch das war nicht einfach: Man war stets auf der Suche nach Geldquellen. Das war auch für meinen Vater und seinen Kollegen der Anlass, in die Sowjetunion zurückzukehren, denn das war damals das einzige Land, wo die jiddische Kultur staatlich gefördert wurde, vertreten durch zahlreiche Zeitungen, Zeitschriften und Bücher, Theater, Schulen, Universitäten usw. So etwas gab es nirgendwo sonst auf der Welt. Aber trotz alledem schrieb Perez Markisch 1927, ein Jahr nach seiner Rückkehr, einem Freund: „…Je stärker die Sowjetmacht ist, desto weniger gibt es jüdisches Leben. Ich habe einen Fehler begangen.“ Er versuchte noch, erneut in den Westen auszureisen, die staatlichen Behörden jedoch erteilten ihm keine Erlaubnis mehr.

JÜDISCHE RUNDSCHAU: Wie passte Perez Markisch in den sowjetischen Kontext? Schließlich leitete er die Jüdische Abteilung der Schriftstellerunion der UdSSR!

David Markisch: Allen Künstlern in der Epoche der Bolschewiken wurde für ihre künstlerische Existenz ein hoher Preis abverlangt. Selbst Anna Achmatowa schrieb einige prosowjetischen Gedichte, obwohl sie diese Staatsmacht zutiefst verachtete. Ebenfalls Pasternak; der einzige Dichter, der auf diese Weise sich nichts hat zu Schulden kommen lassen, war Mandelstam, der für seinen „Gebirgler im Kreml“ mit dem Leben bezahlt hat (Anna Achmatowa, Boris Pasternak und Ossip Mandelstam, deren Poesie in dem sog. „Silbernen Zeitalter“ erblüht ist, zählen zu den Größten in der poetischen Landschaft Russlands. Auch wenn sowohl Achmatowa, als auch Pasternak eines natürlichen Todes gestorben sind, mussten sie jahrelang sehr viele Schwierigkeiten und Schickanen der sowjetischen Macht über sich ergehen lassen. Mandelstam (1891 – 1938) wurde für ein Gedicht, wo er die fürchterliche Atmosphäre des Schreckens im Land, verbreitet von Stalin – dem „Gebirgler im Kreml“ -, beschrieb, in ein Lager nach Sibirien deportiert, wo er an Kälte und Hunger starb.

Mandelstam blieb eine Ausnahme; die Mehrheit der Künstler bekam für ihre Loyalität die Möglichkeit, zu leben… Das galt für die einzelnen Menschen wie für die verschiedenen Kulturen gleichermaßen.

Die jiddische Kultur war schwer kontrollierbar – im Gegensatz zu den anderen nationalen Kulturen, deren Vertreter ein eigenes Territorium besaßen: Diese konnte man leichter zentralisieren. Die Juden besaßen kein Territorium und dies sollte durch das „Projekt Birobidschan“ geändert werden (Ende der 1920er - Anfang der 1930er Jahren sollte im tiefsten Fernen Osten Russlands das Jüdische autonome Gebiet, später Autonome Republik, entstehen, - Anm. Der Übers.): Es ist einfacher, Macht über Juden zu ergreifen, wenn sie an einem Ort leben.

Man kann jedoch nicht sagen, dass Perez Markisch sich der sowjetischen Kultur anpasste. Genau genommen, gab es keine solche. In meinem ganzen Leben traf ich nicht einen einzigen Menschen, der die Sowjetmacht „geliebt“ hätte. Die Mehrheit hasste sie, nur eben im Verborgenen, zuhause am Küchentisch. Die jüdische Kultur war relativ autonom, das war von Vorteil. Natürlich schrieb man auch in jiddischer Sprache über das „Bezwingen des Weltalls“ und über ähnliche typisch sowjetische Themen, diese Graphomanie hatte allerdings nichts mit Kultur zu tun.

JÜDISCHE RUNDSCHAU: Es hieß immer, dass der Schriftsteller Alexander Fadejew, der „literarische General“ der damaligen Zeit, Ihrem Vater wohlgesinnt war, was ihm in den Jahren des Großen Terrors 1936-38 das Leben rettete.

David Markisch: Fadejew mochte Vater als Poet und, scharfsinnig wie er war, wusste er, dass er es mit einem hervorragenden Künstler zu tun hatte. Jedoch war Fadejew in den Jahren des Großen Terrors, trotz seines Einflusses, nicht imstande, jemanden zu retten: Man brachte ihm die Listen (mit den Namen jener, die für die Verhaftung bestimmt waren, - Anm. der Übers.) zum Unterschreiben, und er setzte sein Kürzel darunter. Allerdings gab es Gerüchte, dass 1937 in einer der Listen jüdischer Schriftsteller, die Stalin vorgelegt wurden, der Name Perez Markisch stand, und Stalin ihn durchstrich. Inwieweit das wahr ist, ist schwer zu sagen, zumindest erzählte Fadejew es so meiner Mutter. Wie dem auch sei, 1949 hat auch das nicht geholfen: In der Nacht vom 27. auf den 28. Januar 1949 wurde er als Mitglied des Präsidiums des „Jüdischen antifaschistischen Komitees“ festgenommen. Nach Folter und einem geheimen Prozess am 12. August 1952 wurde er erschossen.

JÜDISCHE RUNDSCHAU: Stimmt es, dass Perez Markisch 1943 seine Teilnahme an einer Reise in die USA und nach Kanada, zusammen mit Solomon Michoels, als Vertreter des Jüdischen Antifaschistischen Komitees absagte?

David Markisch: Ja, das stimmt; dabei wurden aus Amerika zwei persönliche Einladungen zugeschickt – an meinen Vater und Michoels (Solomon Michoels 1890 – 1948 war ein jüdischer Regisseur und Schauspieler, der Gründer und spätere Direktor des Staatlichen Jüdischen Theaters in Moskau, Mitglied des Jüdischen Antifaschistischen Komitees. Nach Schließung des Theaters im Züge der Säuberungsaktionen Stalins, die im Grunde nichts anderes als antisemitische Repressionen waren, wurde Michoels ermordet; laut offizieller Version starb er bei einem Autounfall, der nachweislich inszeniert wurde, - Anm. der Übers.). Mein Vater lehnte diese Reise kategorisch ab, er sagte wortwörtlich, er würde nicht „auf jüdischem Blut tanzen“, d.h. auf Dinners erzählen, was mit Juden in den von Nazis besetzten Gebieten geschieht. Das hat er bereits früher getan – auf seine Art: In dem Poem „Die Tänzerin aus dem Ghetto“, das er 1939, in der Zeit des Molotow-Ribbentrop-Paktes, geschrieben hatte.

JÜDISCHE RUNDSCHAU: Wie hat Ihr Vater die Geburt des Staates Israel aufgenommen?

David Markisch: Er besuchte Eretz Israel bereits 1923. Golda Meir erzählte mir, dass er damals bei ihrer Schwester in Jerusalem wohnte. Das Problem meines Vaters und seiner Kollegen bestand darin, dass sie, und in erster Linie er, auf Jiddisch schreiben wollten, dies aber im Mandatsgebiet Palästina kaum möglich war. Und mein Vater reiste wieder aus. Sein Kollege und Freund Uri Zwi Grinberg blieb – er begann auf Jiddisch zu schreiben, ging aber zum Hebräischen über. Mit der hebräischen Sprache versuchte auch David Hofstein sein Schreibglück, kam jedoch nach eineinhalb Jahren in die UdSSR zurück, um sich wieder im Jiddischen zuhause zu fühlen.

Als 1948 die Entstehung des Staates Israel verkündet wurde, sahen mein Vater und seine Freunde das als größtes Ereignis überhaupt. Er befand sich in einer zwiespältigen Lage: In die israelische Botschaft lud man ihn nicht ein. Golda Meir, die erste Botschafterin des jüdischen Staates, verstand ganz gut, was eine solche Einladung für ihn hätte bedeuten können. Und trotzdem hat ihn diese Vorsicht nicht gerettet.

JÜDISCHE RUNDSCHAU: Die Verhaftung Ihres Vaters 1949, seine Hinrichtung 1952, die Verbannung Ihrer Familie nach Qyzylorda (Kasachstan): Wie hat der Junge aus Moskauer Bildungsschicht-Familie das alles verkraftet? Wie verheerend war der Schock?

David Markisch: Ich war 10, als der Vater abgeholt wurde. So endete meine Kindheit, und die weiteren drei Jahre bis zur Verbannung lebten wir wie in einem Käfig hinter Gitter. So gesehen, gab es keinen Schock: Wir erwarteten tagtäglich nur das Böse, wenn wir auch nicht wussten, was genau auf uns zukommt – Verhaftung, Verbannung oder Lager. Wir ahnten: Dieses Leiden wird uns nicht erspart bleiben.

JÜDISCHE RUNDSCHAU: Für Ihren Vater war die jüdische Identität selbstverstäbdlich – Jiddisch war seine Welt. Zurück in Moskau, worin bestand für Sie Ihre jüdische Identität, wie haben Sie sie erlangt?

David Markisch: Als wir nach Moskau zurückgekehrt sind, war ich 16, und ich wusste genau: Ich kann nur in einem jüdischen Staat leben. Nur dorthin wollte ich. Ich lebte in Moskau, verdiente meinen Unterhalt mit Übersetzungen; ich galt als Spezialist für ein exotisches Thema: Ich veröffentlichte Artikel über die Taiga (nordliche Nadelwälder, größtenteils in Sibirien, Russland, - Anm. der Übers.), über die Berge, die Jäger –, aber nie über den „sozialistischen Aufbau“. 1958 und auch später versuchte ich, illegal auszureisen, es wurde aber erst 1972 nach einer langwierigen Prozedur möglich.

JÜDISCHE RUNDSCHAU: Waren Sie von Israel nicht enttäuscht?

David Markisch: Nein, ich habe es so angenommen, wie er war, denn zuvor hatte ich keine Phantasie-Bilder im Kopf wie ein „winziges Amerika“ oder, im Gegenteil, wie ein kleines jüdisches Schtetl.

JÜDISCHE RUNDSCHAU: Sie waren seinerzeit der Vorsitzende der Schriftstellerunion russischsprachiger Autoren Israels. Existiert russische Literatur in Israel, wie jede fremdsprachige Literatur, lediglich für eine Generation?

Perez Markisch (Mitte) unter jüdischen Dichtern und Schriftstellern, 1922

David Markisch: Ja, das ist so. Dennoch sind meine Leser überall, wo meine Bücher zu bekommen sind. Was jedoch die russisch-jüdische Literatur anbelangt, ist sie nach dem Zweiten Weltkrieg gestorben; darüber schrieb bereits mein Bruder, Professor Schimon Markisch. Stattdessen ist zeitgenössische israelische Literatur in russischer Sprache entstanden, in der auch ich mich bewege.

 

Das Gespräch führte

Michail Gold.

 

Übersetzung aus dem Russischen von Irina Korotkina

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