Indien: „Sind wir die letzten Juden der Welt?“

Im 2. Jahrhundert vor der Zeitrechnung landeten die ersten Juden in Indien. Wegen ihrer jahrhundertelangen Isolation lebten sie in dem Glauben, die letzten Juden der Welt zu sein und kannten bei ihrer „Entdeckung“ durch andere Juden nicht einmal Chanukka, weil sie Eretz Israel bereits vor der Wiedereinweihung des zweiten Tempels im Jahr 164 v. Chr. verlassen hatten.

Jüdische Kinder in der Magen-David-Synagoge in Mumbai© SAM PANTHAKY, AFP

Von Rabbiner Elischa Portnoy

Bekanntlich war die Mehrheit der Juden nach der Zerstörung des zweiten Tempels aus dem Heiligen Land vertrieben worden, und mit der Zeit sind Juden in alle Ecken der Welt gezogen. In jedem fremden Land hatte Juden ihre Erfolge, aber auch Probleme. Während in vielen westlichen und nahöstlichen Ländern jüdische Gemeinden wegen Antisemitismus, Pogromen und Vertreibungen gelitten hatten, genossen ihre Brüder und Schwestern in Fernem Osten oft Respekt und Bewunderung.

Aber sogar in diesem Kontext stellt die Geschichte der Juden im fernen Indien eine wunderbare Ausnahme dar.

Interessanterweise wird Indien schon in der Heiligen Schrift in der Esther-Rolle (1:1) erwähnt: „Und es passierte in den Tagen des Achaschwerosch, das ist der Achaschwerosch, der von Hodu bis Kusch über 127 Provinzen regierte“. Als Land „Hodu“ interpretieren die Kommentatoren einstimmig das Land Indien. Es ist nicht bekannt, ob schon zu Purim-Zeiten, also nach der Zerstörung des ersten Tempels, bereits Juden in Indien gelebt haben. Heutzutage gibt es jedoch mehrere jüdische Gemeinden in diesem exotischen Land, und jede dieser Gemeinden hat eine besondere und spannende Geschichte.

 

Die Gemeinde „Bnej Israel“

Die „Bnej Israel“-Juden, die heutzutage fast vollständig nach Israel ausgewandert sind, die jedoch noch immer etwa 5.000 Mitglieder in Indien zählen, sind eine der merkwürdigsten Gemeinden in der jüdischen Geschichte. Es gibt keine Dokumente, die die Geschichte dieser Juden bestätigen. Das jedoch, was sie selbst über sich erzählen, ist äußert spannend.

Angeblich flohen mehrere Priester-Familien (Kohanim) im zweiten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung vor den Verfolgungen der griechischen Besatzer des Antiochos Epiphanes (kurz vor den Chanukka-Ereignissen) aus Galiläa. Sie flüchteten mit einem Schiff, und dieses Schiff landete aus irgendeinem Grunde im Indischen Ozean. Während eines Sturmes kamen fast alle ums Leben, außer sieben Männern und sieben Frauen, die auf wunderbare Weise gerettet wurden. Diese 14 Menschen siedelten sich an der westlichen Küste (Division Konkan) ca. 30 km von Mumbai an. In Eretz Israel waren sie Ölerzeuger und übten den gleichen Beruf auch in Indien aus. Die Gemeinde war niemals reich und hatte auch kein großes Ansehen unter der einheimischen Bevölkerung. Die Bnej Israel hatten außerdem keinerlei Kontakte zu anderen Juden. Sie dachten, dass sie die letzten Juden der Welt sind und bewahrten sorgfältig die jüdische Tradition (so wie sie sie kannten).

 

Die letzten Juden der Welt?

Kaum zu glauben – aber während hunderter Jahre, als in Indien schon anderen jüdische Gemeinden entstanden waren, hatten die Bnej Israel keine Ahnung von der Existenz dieser Gemeinden. Erst im 18. Jahrhundert entdeckten die Bnej Israel und andere Juden einander, und es war eine sehr große Überraschung für alle. Als die Gemeinde Bnej Israel entdeckt wurde, schien es so, als ob sie in einer Zeitgrube gefangen war: sie kannten weder das Chanukka-Fest, noch das Tischa beAw-Fasten, weil sie nie von den Chanukka-Ereignissen gehört und keine Ahnung hatten, dass der zweite Tempel zerstört worden war. Als ihre Vorfahren das Land Israel verlassen hatten, stand der Tempel in Jerusalem noch… Sie gehören zu keiner großen ethnischen Gruppe wie Aschkenasim oder Sephardim und hatten ihren eigenen Dialekt.

Im 18. Jahrhundert zogen immer mehr Bnej Israel-Familien nach Mumbai, wo sie das traditionelle Judentum kennengelernt haben. Diejenigen, die zu Hause blieben, hatten erkannt, dass ihr jüdisches Leben mangelhaft ist und luden Rabbiner und Schächter von Kotschin ein, um es zu berichtigen. Während im 19. Jahrhundert die Größe dieser Gemeinde auf ca. 6.000 Menschen geschätzt wurde, zählte Bnej Israel im 20. Jahrhundert bereits fast 20.000 Juden. Damit waren „Bnej Israel“ nicht nur die älteste, sondern auch die größte jüdische Gemeinde in Indien. Mit der Gründung des jüdischen Staates wanderten die meisten „Bnej Israel“ nach Israel aus.

 

Kotschin-Juden

Auch die zweitälteste jüdische Gemeinde Indiens, die sogenannten Kotschin-Juden, hat eine lange und ergreifende Geschichte. Sie beginnt im 5. Jahrhundert, als vermutlich iranische (nach anderen Meinungen jemenitische) Juden nach Indien kamen und sich im südlichen Teil der Malabar-Küste überwiegend in der Stadt Kranganor niederließen.

Im Gegensatz zu den „Bnej Israel“ in Konkan genossen die Neuankömmlinge in Malabar unter den Indern hohen Respekt und Ansehen. Sie waren reiche Händler, besaßen eigene Häuser, Elefanten und Diener. Schon im 10. Jahrhundert gibt es die erste schriftliche Erwähnung (auf einer Kupfertafel) von Juden im Malabar: der örtliche Herrscher gab Josef Rabban großes Besitztum, erließ ihm Grund- und Wegsteuer und ernannte ihn zum Fürsten von Añjuvannam. Damit hatten die Juden von Malabar sogar eine Art von Autonomie.

Im Jahr 1341 wurde der Hafen von Kranganor durch Überschwemmung zerstört und mehrere Juden, die stark vom Handel abhängig waren, zogen nach Kotschin (heute Kochi) um. Ein paar Jahre später kam es zu einem Streit in der reichen und einflussreichen Familie Rabban, und als Konsequenz zog auch ein Teil dieser Familie nach Kotschin um. Ab dem 15. Jahrhundert kommen mehrere sephardische Juden nach Kotschin, die aus Spanien und Portugal vertrieben wurden. Damit wurde die jüdische Gemeinde in Kotschin immer größer. Als die Portugiesen dank Vasco da Gama Indien für sich entdeckt und kolonisiert haben, wurden spanische und portugiesische Juden abermals von der Inquisition überrascht. Auch sie mussten aus Malabar nach Kotschin fliehen. Jedoch waren auch die Juden von Kotschin durch die Kolonisatoren bedroht und haben nur dank der Protektion des indischen Herrschers ein normales Leben gehabt. Es kam aber auch in Kotschin zum Pogrom: im Jahre 1662 belagerte die niederländische Flotte die Portugiesen. Da die Juden ihre Sympathien für die Niederländer nicht verheimlichten, attackierten erboste Portugiesen die Stadt, massakrierten viele Juden und zerstörten Synagogen, Tora-Rollen und wichtige Ahnen-Chroniken. Viele Juden waren in die Berge geflohen und mussten dort ausharren, bis die Niederländer die Portugiesen vertrieben haben.

Im 17. Jahrhundert kamen auch noch aschkenasische Juden nach Kotschin, die vor den Verfolgungen in Deutschland und Osteuropa flohen, und sogar einige Juden aus der Türkei. Jedoch war es keine Masseneinwanderung: nur wenige Familien schafften den langen Weg aus Europa in den Fernen Osten. Die Gemeinde in Kotschin war immer eine relativ kleine Gemeinde. Während all dieser Jahren gab es in Kotschin nie mehr als 2.500 Juden. Bei der Volkszählung im 1857 wurden sogar weniger als 1.800 Juden in Kotschin und rund um die Stadt gezählt.

 

Kasten-System unter Juden

Hochinteressant ist, dass wohl unter dem Einfluss des indischen Kastensystems, unter den Kotschin-Juden drei ethnische Gruppen entstanden: „Schwarze“, „Weiße“ und „Braune“ Juden!

Die „schwarzen“ Juden waren die Nachkommen der persischen Juden, die als erste nach Indien gekommen sind, und waren die größte Gruppe. Die „weißen“ Juden („Pardeschi“) waren die Neuankömmlinge aus Spanien und Deutschland. Die „braunen“ Juden („Meschuchrarim“) waren wohl die freigelassenen Sklaven von „schwarzen“ und „weißen“ Juden. Während „schwarze“ und „weiße“ reich und angesehen waren und mehrere prächtige Synagogen hatten, hatten die „braunen“ Juden ein ziemlich hartes Leben. Die „Meschuchrarim“ hatten lange keine eigene Synagoge (das erste Bethaus für sie wurde erst 1932 gebaut!), durften in den Synagogen der anderen Juden nicht sitzen (nur stehen) und wurden zur Tora außer an Simchat Tora nie aufgerufen. Es gab sogar eine halachische Frage an Radbaz (Rabbi David ben Abi Zimra), ob die Ehen zwischen „Meschuchrarim“ und anderen Juden erlaubt sind. Darauf antwortete Radbaz, dass man die „braunen“ Juden und Jüdinnen erst dann heiraten darf, wenn sie in die Mikwe für Gijur leChumra getaucht sind.

Die Kotschin-Juden waren nicht nur Händler. Sie waren auch als Berater, Diplomaten und sogar als Offiziere in der Armee sehr wichtig. Viele europäische Reisende vermerkten in ihren Reisetagebüchern, dass jüdische Offiziere in Indien äußert mutig und klug waren, und außerdem führten sie am Schabbat keine Kämpfe aus.

Indische Juden der Bnej Israel in Bombay (1856)© WIKIPEDIAr

 

Jüdische Gemeinde in Mumbai

Als die Briten Ende 18. Jahrhunderts die Herrschaft über Indien übernahmen, verschiebt sich der Handel nach Mumbai. Das hatte zur Folge, dass auch immer mehr Juden nach Mumbai zogen. Dabei waren es nicht nur indische Juden aus Kotschin und von der Bnej Israel-Gemeinde, sondern auch aus dem Irak, dem Iran, Afghanistan und aus arabischen Ländern, die Baghdadi-Juden genannt wurden. Diese Gemeinde wuchs sehr schnell, sodass Ende 1947 schon fast 35.000 Juden im Mumbai lebten. Diese Gemeinde pflegte sehr gute Kontakte mit den beiden anderen jüdischen Gemeinden Indiens. Da jedoch unter den Neueingewanderten die strengreligiösen Juden aus Bagdad dominierten, hatten diese großen Zweifel an der „Echtheit“ der Bnej Israel-Juden und schlossen mit ihnen keine Ehen.

Als die Stadt Kalkutta Anfang 20. Jahrhundert bedeutend wurde, zogen mehrere jüdische Familien aus Mumbai dorthin. Zurzeit leben in Mumbai noch ca. 3.000 Juden.

 

Bnej Menasche – umstrittene Nachkommen vom Stamm Menasche

Es gab in Indien auch andere Gemeinschaften, die in der Neuzeit entdeckt wurden und deren Bezug zum Judentum nicht immer eindeutig war. Die bekannteste Gemeinschaft, die sich für Juden hielt, ist zweifellos „Bnej Menasche“.

Die Menschen von den Ethnien Chin, Kuki, and Mizo, die im Nordosten Indiens (Manipur und Mizoram) ansässig sind, wurden im 19. Jahrhundert mit der Idee konfrontiert, dass sie jüdischer Abstammung sein könnten. Christliche Missionare, die diese Stämme noch als Götzendiener kennengelernt haben, entdeckten bei ihnen mehrere Überlieferungen, die der Geschichten im 2. Buch der Tora „Schemot“ ähnlich waren. Daraus entstand die Idee, dass diese Menschen Nachkommen von „verlorenen“ Stämmen Israels waren, die von Sanheriv aus dem Heiligen Land vertrieben worden waren. Entsprechend dieser Vermutung kamen die Juden vorwiegend aus dem Stamm Menasche über Afghanistan nach Indien. Einige Priester dieser Ethnien haben diese Idee aufgenommen und ihre Gemeinde zurück zu den jüdischen Wurzeln bewegt. Nach der Gründung des Staates Israel beanspruchten die Bnej Menasche das Recht nach Israel auszuwandern, aber erst mehrere Jahre später wurden ihre Bitten ernstgenommen. Es gab dann eine große Diskussion, ob Bnej Menasche tatsächlich jüdischer Abstammung seien. Es gab mehrere Versuche über DNS-Proben ihre Verbindung zu den Juden nachzuweisen. Schließlich, nachdem Mitglieder dieser Gruppe Gijur gemacht hatten, wurden sie 2005 vom israelischen Oberrabbiner Schlomo Amar als Juden anerkannt und erhielten die Erlaubnis nach Israel auszuwandern.

Indien scheint also tatsächlich märchenhaft zu sein. In einem fernen Land, wo man kaum Juden vermuten würde, gab es sogar mehrere, ganz verschiedene Gemeinden. Mit Erfolg und ohne Erfolg, mit guten Kontakten zum Ausland und ohne überhaupt zu wissen, dass es noch andere Juden im Land gibt – in Indien gab es alles, was dem jüdischen Volk passieren konnte. Man kann ziemlich sicher sein, dass uns mit der Zeit noch mehrere Überraschungen bzgl. des Lebens von Juden in diesem exotischen Land erwarten.

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