Eine jüdische Girlband in Mussolinis faschistischem Italien

Vor 85 Jahren kam die erste Schallplatte der drei jüdischen Lescano-Schwestern heraus, die bis 1943 Stars im Italien des Duce waren.

Das Trio Lescano, Anfang der 1940er Jahre


Von Benjamin Tschernuchin

Diese Geschichte beginnt 1877, als in Budapest Alexander Leschan zur Welt kam, ein später erfolgreicher Zirkusakrobat. 1908, während einer Tournee in Amsterdam, begegnete ihm Eva De Leeuw – ein junges Mädchen, die in Operetten und zusammen mit ihrer Schwester bei Zirkusauftritten sang, um Pausen zu füllen. Zwischen dem 31-jährigen Witwer Leschan und der noch minderjährigen Eva entwickelte sich eine gegenseitige Sympathie, die immer stärker wurde… Die Familie De Leeuw war eine in den Niederlanden bekannte Musiker-Dynastie und war gegen diese Ehe, dennoch entschloss sich Eva ihr Schicksal mit dem Akrobaten zu verbinden.

1910, in der Stadt Gouda lebend, bekam das Paar eine Tochter; drei Jahre nach der Geburt Alexandrinas kam in Den Haag die zweite Tochter – Judik – zur Welt und 1919, ebenfalls in Den Haag, die jüngste – Katharina. Die Mädchen erbten die Talente ihrer Eltern: vom Vater die Fähigkeit zur Akrobatik und plastischen Bewegungen, und von der Mutter die Musikalität. Die zwei älteren Töchter wurden Ende 1928 im die Ballett-Truppe Dixon aufgenommen, während die jüngste, Katharina, an einem Internat ihre Schulbildung absolvierte.

 

Der Durchbruch in Verona

Im Ballett Dixon war Eva als Assistentin des Choreografen tätig; Vater Alexander arbeitete trotz eines schweren Traumas weiterhin an der Manege, mittlerweile als Clown und Conférencier. Die Eltern trennten sich Mitte der 1920er Jahre; dass die Mädchen zum Teil gezwungen waren, ihre eigene Karriere zu beginnen, war nicht zuletzt der schweren wirtschaftlichen Lage der Familie geschuldet. 1930 entstand auf der Basis des Ballett Dixon eine neue Künstlertruppe namens The Sunday Girls, die 1935 nach Italien ging. Eine Aufführung in Verona brachte den Schwestern unerwartet das Glück: Im Saal war der Programmdirektor des größten italienischen Radiosenders EIAR, Carlo Prato, anwesend, bekannt auch als Komponist, Interpret und Talentenförderer. Nachdem er Alexandrina und Judik beim Vorsingen angehört hatte, wies er sie an, auch die dritte Schwester, Katharina, aus den Niederlanden zu holen.

Aber was hatte Carlo Prato mit ihnen vor? In den späten 1920er und frühen 1930er Jahren wurden in den Vereinigten Staaten weibliche Gesangstrios immer beliebter, so z.B. das Boswell-Trio, welches das bekannteste von ihnen war. Nach fast zehn Jahren erfolgreicher Aufführungen löste es sich 1935 auf. Ein Jahr darauf, 1936, zog sich auch das beliebte Trio der Pickens-Schwestern von der Bühne zurück. 1937 entstand ein großartiges Trio der Andrews-Schwestern, die das von dem aus der Ukraine stammenden Sholom Secunda Lied „Bai mir bistu shane“ berühmt gemacht haben. Dies passierte jedoch erst 1937, es gab also eine „Lücke“, in der es keine bekannten Frauengruppen gab. So beschloss Carlo Prato, die weibliche Gesangsgruppe der Leschan-Schwestern zu fördern. Und die Arbeit begann – harte Arbeit, acht bis zehn Stunden täglich, auch an Feiertagen und Wochenenden, individuell mit jeder der Schwestern und mit allen zusammen: Es sollte ein harmonischer Klang erzielt werden. Das neue Trio erhielt bald das Lob einer so anerkannten musikalischen Autorität wie dem berühmten Komponist Pietro Mascagni.

Laut einem Schreiben der Faschistischen Partei von 1924 (sie regierte seit 1922) mussten die Namen der Interpreten italienisch klingen, sodass die Schwestern kurzerhand zu Alessandra, Giuditta und Caterinetta Lescano wurden. Die Premiere fand in Triest statt. Es folgten ein Radio-Debüt und ein Vertrag mit der Plattenfirma Parlophone Records; die erste Schallplatte wurde im Februar 1936 verkauft.

 

Jüdischer Gesang nach den Reden des Duce

Die Popularität des Trios stieg im ganzen Land. Zuerst traten die Schwestern mit beliebten Sängern (in der Art des sogenannten Back Vocals) auf, aber immer öfter sangen sie auch unabhängig, begleitet von einem Orchester. Das Radio hatte in den 1930er Jahren seinen Aufstieg und spielte für den Erfolg der Sängerinnen eine besondere Rolle. Gesang von Mädchen mit den Stimmen in absoluter Harmonie, schöne Melodien – all dies wurde nach den knatternden Propagandareden des Duce mit Begeisterung aufgenommen. Den Sängerinnen wurden sogar Fehler in der Aussprache und ihr ausländischer Akzent verziehen. Die Auflage einiger Alben des Trios erreichte 300.000 Exemplare – eine für diese Zeit fast unvorstellbare Zahl. Das Einkommen der Schwestern überstieg 1.000 Lira pro Tag. Viele Italiener konnten von einem solchen Monatsgehalt nur träumen. Sie wurden geehrt und nach Mailand eingeladen, um an den ersten Testsendungen von Radiotelevisione, des zukünftigen italienischen Fernsehens, teilzunehmen.

1935 war der Einmarsch der italienischen Armee in Abessinien (Äthiopien) das bestimmende Ereignis des Jahres und das Land hatte eine Explosion pseudopatriotischer Gefühle. Viele beliebte Künstler ergänzten ihr Repertoire mit militärischen Märschen und Liedern, sogar der weltberühmte Tenor Benjamino Gigli nahm die Hymne der Faschistischen Partei, Giovinezza, auf. Das Lescano-Trio hingegen ließ sich von dieser Welle nicht beeinflussen – und das war vielleicht ein weiterer Grund für ihre Popularität, denn viele träumten davon, sich zumindest für eine Weile vom Krieg zu entfernen.

 

Mussolini persönlich war ein Fan

Anfangs haben die italienischen Behörden der Herkunft der Schwestern nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt. Aber im Oktober 1936 wurde der Freundschaftspakt mit Deutschland unterzeichnet, im Juli 1938 kam das „Rassenmanifest“ und im Oktober desselben Jahres das Gesetz zum Schutz der Rasse, das die Nürnberger Gesetze Nazi-Deutschlands kopierte. Die neuen Bestimmungen ließen Juden praktisch keine Rechte; es wurde ihnen auch verboten zu arbeiten. Die Schwestern und ihre Mutter schienen zunächst nicht besorgt, schließlich mochte selbst Benito Mussolini das Trio. Augenzeugen erzählten, dass, als Mussolini die Schwestern auf dem Balkon ihres Hauses aus seinem vorbeifahrenden Auto sah, sein Auto stoppte, hinausging und die Mädchen begrüßte. Ein anderes Mal wurden sie bei einem der diplomatischen Empfänge vom Kronprinzen Umberto an dessen Tisch eingeladen, und bald würde Umberto der letzte König Italiens sein (obwohl er nur 34 Tage auf dem Thron blieb)! Die Presse war den Schwestern gegenüber weiterhin wohlgesinnt und machte ihnen nach wie vor Komplimente… Das überraschte die Mädchen selbst; eine von ihnen soll bemerkt haben: „Wir sind in die besten Häuser eingeladen, wir, die jüdischen Clowns-Töchter!“

Die Lescano-Schwestern hatten die ungarische Staatsbürgerschaft – schließlich stammte ihr Vater aus Ungarn –, die sie gegen die italienische eintauschen wollten. Eine Bürgschaft zu erlangen schien kein schwieriges Unterfangen zu sein; man erzählte, der Duce selbst sei bereit, die Mädchen zu protegieren. Die Zeit war reif: Laut einer Erklärung des Innenministeriums durften „die drei Schwestern sich als [...] Personen betrachten, die nicht dem jüdischen Glauben angehören“. Ein solcher Status wurde ihnen formell trotz ihrer gemischten Herkunft zugesprochen.

 

Die Einbürgerung 1942

Sie bemühten sich, einen ähnlichen Status für ihre Mutter zu erreichen. Das Gesuch war erfolgreich, und am 30. März 1942 gewährte der italienische König Victor Emmanuel III. den Bittstellern die italienische Staatsbürgerschaft. Es war dabei zweifellos hilfreich, dass Ungarn und Italien im Zweiten Weltkrieg auf derselben Seite kämpften. Zeitungen begrüßten das Erlangen der italienischen Staatsbürgerschaft durch die Schwestern und übertrafen sich in Komplimenten: „Drei Grazien am Mikrofon“, „Drei Schwestern, die das Rätsel der Göttlichen Dreifaltigkeit verkörpert haben“…

Der Krieg brachte indes gewisse Änderungen auch fürs öffentliche Konzertleben mit sich. Ausländische, hauptsächlich amerikanische Lieder verschwanden aus dem Repertoire, nur italienische blieben übrig. Man konnte jedoch den Lauf der Dinge nicht stoppen; im Krieg kam es zum Wendepunkt, und im Juli 1943 landeten alliierte Truppen auf Sizilien und rückten langsam ins Landesinnere vor. Im September desselben Jahres nahmen die Deutschen die Macht in Italien selbst in die Hand, und obwohl die Lescano-Schwestern als „arische“ Frauen anerkannt worden waren, sahen sie überhaupt nicht „arisch“ aus – und dies störte eindeutig jemanden. Es geschah, was geschehen musste: Im Gratacello-Theater in Genua wurden die Schwestern direkt während eines Konzerts festgenommen. Die Originalität der gegen sie erhobenen Anklage hätten selbst die Urheber der Stalinschen Prozesse nicht besser hinbekommen: So wurde behauptet – man höre und staune –, dass in den Worten der Liedertexte des Trios Nachrichten an die Alliierten verschlüsselt wurden. Dabei wussten natürlich alle, dass der wahre Grund für die Inhaftierung der Mädchen ihre jüdische Herkunft war. Es gab Gerüchte, und Einige glaubten ihnen, dass die Sänger eines anderen Trios, Capinere, tatsächlich in Spionage verwickelt seien; auf der Bühne waren sie weniger erfolgreich als die Schwestern Lescano, und daher hätten sie ihre Rivalinnen aus Neid beschuldigt.

 

Die Italiener hatten genug von allem, was sie an Mussolini erinnerte

Die Schwestern hatten Glück. Sie wurden nicht in ein Konzentrationslager geschickt und weder nach Ungarn noch in die Niederlande deportiert. Nach einer Zeit im Gefängnis kamen sie frei, jedoch wurden dem Trio weitere Auftritte untersagt. Schließlich versteckten sich die Lescanos, da das Land nun von den Deutschen kontrolliert wurde. Nach dem Ende des Krieges versuchten sie ihre musikalische Karriere fortzusetzen. Ihre Aufmerksamkeit widmeten sie erneut dem Radio, doch hatte sich die Situation verändert. So wollten die Italiener nicht an die Ära Mussolinis und an alles, was damit zu tun hatte, erinnert werden.

Am Schlimmsten waren diejenigen dran, die mit dem Nazi-Regime kooperiert und entsprechende Kriegslieder und Märsche gesungen hatten. Den Lescano-Schwestern konnte man dies indessen nicht nachsagen. Doch wurden ihre Auftritte oft durch Propagandasendungen unterbrochen, was im Bewusstsein des Publikums haften blieb. Darunter litten die Popularität und damit auch die Einnahmen des Lescano-Trios spürbar.

Jahre später nach dem Krieg traten die Schwestern erneut in Italien auf und versuchten, neue Nischen für ihre Künstlerkarriere aufzutun. Impresario Nino Galizio organisierte entsprechende Auslandsreisen für das Trio, doch dann verfolgte die jüngere Schwester Katharina bereits andere Pläne: So wollte sie nicht auf Tour gehen, sondern lieber heiraten. Auf der dringenden Suche nach einem Ersatz wurde schließlich ein sehr junges Mädchen aus der Region, Maria Bria, in das Trio aufgenommen. 1948 tourte das Trio durch Südamerika und trat in Argentinien, Uruguay, Bolivien und Venezuela auf. Ein bedeutender Anteil der Bevölkerung dieser Länder stammt aus Italien, worauf die Hoffnung der Sängerinnen in erster Linie fußte, obwohl das Repertoire an den lokalen Geschmack angepasst wurde. Als aber auch hier das Interesse an den Auftritten des Lescano-Trios allmählich nachließ, löste sich das Kollektiv 1952 auf.

 

Filme über ihr Leben

Das Trio ist bis heute in Erinnerung geblieben. Immerhin haben die Schwestern mehr als 300 Lieder aufgenommen, von denen die meisten überdauert haben. In den Niederlanden wurde ihnen 2007 der Dokumentarfilm „Tulpenzeit: Aufstieg und Fall des Trios Lescano“ gewidmet, und das italienische Fernsehen präsentierte eine Miniserie mit dem Titel „Le Ragazze dello Swing“ („Swing Girls“), welche die Geschichte des Trios behandelt. Ein interessantes Detail am Rande: Die berühmte niederländische Schauspielerin Sylvia Christel, bekannt durch ihre Rolle als Emmanuelle im gleichnamigen Film, spielte die Rolle der Mutter der Schwestern – Eva de Leeuw.

Heute kann man auf YouTube leicht eine umfassende Sammlung von Aufnahmen des Trios Lescano finden – der jüdischen Mädchen, die im faschistischen Italien so außerordentlich Furore machten.

 

Übersetzung aus dem Russischen von Irina Korotkina

Sehr geehrte Leser!

Die alte Website unserer Zeitung mit allen alten Abos finden Sie hier:

alte Website der Zeitung.


Und hier können Sie:

unsere Zeitung abonnieren,
die aktuelle oder alte Ausgaben bestellen
sowie eine Probeausgabe bekommen

in der Druck- oder Onlineform

Unterstützen Sie die einzige unabhängige jüdische Zeitung in Deutschland mit Ihrer Spende!

Werbung


Alle Artikel
Diese Webseite verwendet Cookies, um bestimmte Funktionen zu ermöglichen und das Angebot zu verbessern. Indem Sie hier fortfahren, stimmen Sie der Nutzung von Cookies zu. Mehr dazu..
Verstanden