Das kurze Leben und der nasse Tod des Ulrich Alexander Boschwitz
Die Originalausgaben des deutsch-jüdischen, fast vergessenen Schriftstellers Ulrich Alexander Boschwitz, der 1942 bei einem U-Boot-Angriff der deutschen Marine starb, sind beim Klett-Cotta-Verlag erschienen.
Zwei Tragödien werfen ihre Schatten auf diese Bücher: die große, weltübergreifende der Schoah und die individuelle, nicht minder erschütternde ihres Verfassers, des jungen Deutschen und Juden Ulrich Alexander Boschwitz. Denn Boschwitz war beides: Sohn einer deutschen Mutter und eines jüdischen Vaters. Symbol einer Assimilation, die dauerhaft schien und abrupt zerstört wurde. Zu anderen Zeiten hätte aus ihm, folgt man dem Eindruck seines außergewöhnlichen, mit Anfang Zwanzig verfassten Romans „Der Reisende“, ein bedeutender Schriftsteller werden können.
Boschwitz kam jedoch im Alter von 27 Jahren ums Leben, im Oktober 1942, durch ein Torpedo, abgeschossen von einem U-Boot der Nazi-Kriegsmarine, das den britischen Transporter versenkte, auf dem der junge Emigrant aus der Internierung in Australien nach England zurückkehren sollte. Boschwitz war 1935 mit seiner Mutter aus Deutschland nach England geflohen, wo er – wie viele andere jüdische Flüchtlinge – in Lagern für „enemy aliens“ interniert wurde, erst auf der Isle of Man, dann im fernen Australien. Dieses Einsperren jüdischer Flüchtlinge ist eins der unrühmlichsten Kapitel der neueren britischen Geschichte. In den Erinnerungen anderer Internierter, etwa in Walter Kaufmanns „Schade, dass Du Jude bist“, kann man nachlesen, wie die unnötige Demütigung auf die Flüchtlinge wirkte, wie sie das Gefühl des Verstoßen-Werdens, der Verfolgung vertiefte. Mit Boschwitz versank das Manuskript eines weiteren, schon geschriebenen Romans in den kalten Fluten des Atlantiks. Wie viele andere Bücher gingen noch mit ihm unter, die der junge Schriftsteller „im Geiste“ bei sich trug?
Die spontane Annahme, Boschwitz hätte noch manches bedeutende Buch schreiben können, wird bestärkt durch die Lektüre der beiden Romane, die seinen frühen Tod überdauerten. Boschwitz ist ein Autor voller Menschenliebe, Hoffnung, Humor und Selbstdisziplin beim Schreiben. Seine Sätze sind kurz und prägnant, seine Figuren glaubwürdig, die Milieus authentisch. Auch durch seine düstersten Schilderungen weht ein Geist des Mitgefühls, sogar mit „negativen“ Figuren. „Es muss doch noch Leute geben“, lässt er seinen Protagonisten, den auf zielloser Flucht durch Deutschland reisenden Otto Silbermann denken, „die trotz aller Gelegenheit anständig und Menschen bleiben.“
Die längst überfällige, durch die Trägheit des deutschen Literaturbetriebs verschleppte Veröffentlichung seines Romans „Der Reisende“ wurde 2018 durch Herausgeber Peter Graf und den Klett-Cotta Verlag nachgeholt. Die Qualität dieser Edition, vor allem des posthumen Lektorats, spricht von Respekt und tiefgehendem Verständnis für einen außergewöhnlichen Autor. Geschrieben wurde der Roman „Der Reisende“ unterwegs, auf der Flucht, erst von Berlin nach Stockholm, von dort nach Paris, schließlich ins vermeintlich sichere England. Dort erschien 1939, wenige Jahre vor Boschwitz' Tod, eine englische Übersetzung mit dem Titel „The man who took trains“ unter einem englisch klingenden Pseudonym, 1945 eine französische Ausgabe, Titel „Le fugitif“, auch dies lange vor dem Erscheinen des deutschen Originals in Deutschland und gleichfalls unter Pseudonym. Schon dieses Detail, das Verbergen des deutsch klingenden Namens, atmet das Elend der Zeit, die zunächst für Europas Juden, dann auch für viele Andere Verstoßung und Verachtung bedeutete.
Es spricht für Boschwitz' große Schreibdisziplin, für seine Determination als Schriftsteller, dass er sein Romanprojekt unter so widrigen, unberechenbaren Umständen zu Ende führte. Der Roman ist erschütternd in seinem kafkaesken Stillstand. Dabei vibriert er von der unterschwelligen Erregung und Unsicherheit einer jüdischen Existenz in Zeiten von Verfolgung und Flucht. Otto Silbermann, der in einer absurden Welt verlorene Protagonist, reist ziellos, immer noch unentschlossen durch Deutschland, auf der Suche nach einem Schlupfloch, einer Möglichkeit des Entkommens. Als er sie endlich gefunden zu haben glaubt, wird er von der Gestapo verhaftet. Dieses Sorry End scheint dadurch bestätigt, dass der junge Verfasser des Romans auf eine fast sinnlos wirkende Weise ums Leben kam.
Er hatte schon vordem, in einem 1937 in Stockholm veröffentlichten Roman „Människor utanför“, die tragische, todgeweihte Seite menschlicher Existenzen dargestellt. Auch dieses zweite erhaltene Manuskript ist erst Jahrzehnte nach der schwedischen Übersetzung im deutschen Original erschienen, 2019, wieder bei Klett-Cotta und ediert von Peter Graf, unter dem Titel „Menschen neben dem Leben“. Außenseiter und Verachtete bilden das Figurenensemble der expressionistischen, an den prosaischen Radikalismus Jakob Wassermanns erinnernden Prosa. Boschwitz projektiert sein eigenes Lebensgefühl als nirgendwo Zugehöriger in Randexistenzen der Gesellschaft, die er ohne Sentimentalität, doch mit nie versiegender Empathie beschreibt.
Dürftiges Schattendasein eines „Mischlings“
Boschwitz, geboren 1915, war durch Geburt ein Außenseiter, Kind einer plötzlich verachteten Verbindung, der zwischen einer Deutschen und einem Juden. Die Nazis stuften ihn als „Mischling“ ein, somit wären ihm noch ein paar Jahre eines dürftigen Schattendaseins in Deutschland möglich gewesen, doch er fühlte sich offenbar jüdisch genug, das Land zu verlassen. Seine Schwester ging sogar ins damalige Mandatsgebiet Palästina, das heutige Israel. Lange hat es gedauert, bis seine Bücher ins Land seiner Geburt zurückkehren konnten und mit ihnen die Erinnerung an einen Autor, der im Wortsinn „untergegangen“ schien und nun überraschend entdeckt wird. Von daher, wenn auch verspätet, doch noch ein Happy End, zumindest für die deutsch-jüdische Literatur. Sie war nach grandiosen Jahrzehnten in Kaiserreich und Weimarer Republik von den Nazis zum Tode verurteilt worden, und wirklich gibt es ihrer in Boschwitz' Generation nur wenige Vertreter. Umso wichtiger die Wiederentdeckung dieses Autors, der auch literaturgeschichtlich eine Lücke füllt.
Bis heute hat sich die deutsch-Literatur nicht wirklich von ihrer Verstoßung aus dem deutschen Sprachraum erholt, und bis heute werden ihre noch immer raren Vertreter im deutschen Literaturbetrieb als eher peinliche Anmahnung, nicht selten als Fremdkörper empfunden. Peter Graf und der Klett-Cotta-Verlag haben hier ein Zeichen der Hoffnung gesetzt. Und durch die Qualität ihrer deutschen Ausgaben einen Maßstab. Möge er verbindlich werden für den Umgang mit den Werken deutsch-jüdischer Literatur.
Ulrich Alexander Boschwitz, Der Reisende. Roman (englische Erstausgabe 1939), Stuttgart (Klett-Cotta), 2018
Ulrich Alexander Boschwitz, Menschen neben dem Leben. Roman (schwedische Erstausgabe 1937), Stuttgart (Klett-Cotta), 2019
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