Das Urteil gegen den Mörder von Halle

In Halle fiel das Urteil gegen den Neonazi Stephan Balliet, der zu Jom Kippur 2019 die jüdische Gemeinde der Stadt zu ermorden versuchte, gerechterweise sehr hoch aus. Gleiche Härte bei islamischen Straftaten gegenüber Juden würde der Glaubwürdigkeit der deutschen Justiz guttun.

Stephan Balliet beim Prozess© Hendrik Schmidt , AFP

Von Dr. Nikoline Hansen

Ein gutes Jahr ist es her, dass Stefan B., von fanatischem Hass auf die Juden getrieben, versuchte an Jom Kippur in Halle in die Synagoge einzudringen, in der sich die Beter versammelt hatten, um den höchsten jüdischen Feiertag zu begehen, mit dem Ziel, sie zu ermorden.

Die zerschossene Tür ist inzwischen ersetzt, und der diesjährige Gottesdienst zu Jom Kippur verlief zwar unter Corona-Bedingungen, aber ohne äußere Störungen. Trotzdem dürfte dieses Ereignis vor einem Jahr an keinem Juden in Deutschland spurlos vorübergegangen sein. Die Nachricht hatte sich schnell verbreitet und die Medien berichteten ausführlich. Der Täter war zuerst noch flüchtig und verletzte auf seiner Flucht weitere Personen. Viele der Beter, die sich 2019 in der Synagoge versammelt hatten, leiden noch heute unter Traumata.

Halle ist mit knapp 240.000 Einwohnern die größte Stadt Sachsen-Anhalts. Die jüdische Gemeinde vor Ort hat eine überschaubare Größe, obwohl sie auf eine lange Tradition zurückblicken kann: Um 970 wird erstmals die Anwesenheit von Juden in Halle zuverlässig erwähnt. 1185 gibt es eine jüdische Ansiedlung mit eigener Synagoge und Friedhof auf dem Terrain der späteren Moritzburg. Es folgen die unruhigen Zeiten des Mittelalters. Erst 1693 weiht die Gemeinde wieder einen eigenen Friedhof ein, 1703 kommt eine Synagoge dazu. Es folgt eine Periode der Konsolidierung, die mit den Deportationszügen nach Theresienstadt 1942 jäh zu Ende geht. Erst 1945 sind die letzten Transporte überführt. Und doch gründet sich bereits am 31. Januar 1947 erneut eine jüdische Gemeinde in Halle. 1953 wird die Synagoge eingeweiht. Durch jüdische Zuwanderer aus Osteuropa vergrößerte sich die Gemeinde seit 1991. Derzeit hat sie 520 Mitglieder. Ihr Vorsitzender Max Privorozki ist einer der nach der deutschen Wiedervereinigung gekommenen Zuwanderer: Er wurde 1963 in Kiew geboren, seine Muttersprache ist russisch.

 

„Heilige Tür“

Die Lage vor Ort hat sich geändert seit diesem Anschlag am 9. Oktober 2019, der nun Teil der jüngsten Geschichte der Gemeinde geworden ist: Inzwischen gibt es den versprochenen Polizeischutz. Die Tür, die am 9. Oktober 2019 den Schüssen des Attentäters standhielt, wurde zu einem Kunstwerk umgestaltet. Bei der Enthüllung dieses Kunstwerks sagte Josef Schuster, Vorsitzender des Zentralrats der Juden: „Die Einschusslöcher erinnern uns daran: Hätte der Täter bessere Waffen gehabt, wäre es zu einem entsetzlichen Blutbad gekommen.“ Die Waffen waren selbstgemacht, mit einem 3-D-Drucker. Die neue Sicherheitstür wurde von dem gleichen Tischler gefertigt, der die Tür gebaut hatte, die dem Attentat standgehalten hatte. Ein Wunder sagen viele und bezeichneten sie gar als „heilige Tür“.

Der Täter, Stefan B., war geständig, aber nicht einsichtig. In seinem blinden Hass und Tatwillen hat er zwei Menschen getötet, die ihm zufällig in die Quere gekommen sind, als es ihm nicht gelingt, die Synagogentür zu öffnen und das geplante Massaker zu vollenden. Das erste Opfer, Jana L., ist einfach an dem Täter vorbeigelaufen. Sie, begeisterter Schlagerfan, schreit ihn an, als sie den Knall des Sprengsatzes hört, mit dem der Attentäter die Tür zur Synagoge aufsprengen will: „Muss das sein, wo ich gerade hier langlaufe?“ Als sie an ihm vorbeigegangen ist, schießt er ihr mehrmals in den Rücken. Kevin S. trifft es in einem nahegelegenen Dönerladen. Auch er ein Zufallsopfer, im falschen Augenblick am falschen Ort.

 

Im Internet radikalisiert

Der Täter hatte sich im Internet radikalisiert. Seine Tat dokumentierte er für das Netz in einem Video nach dem Vorbild des Attentäters von Christchurch in Neuseeland, der den Überfall auf eine Moschee und die Ermordung der Gläubigen im März 2019 live gestreamt hatte. Dass Stefan B. dabei scheinbar in eine virtuelle Rolle schlüpft, hat seiner Schuldfähigkeit keinen Abbruch getan. Er hatte keine Freunde im realen Leben, war sozial isoliert und paranoid. Sein Leben fand virtuell statt. Das Video beginnt mit dem Satz: „Hi, my name is Anon. And I think the holocaust never happened.“ (Hallo, mein Name ist Anon. Und ich denke, der Holocaust ist niemals geschehen.) 35 Minuten lang dokumentiert dieses Video die Tat. Die Polizei lässt lange auf sich warten – der Attentäter kann in dieser Zeit seinen perversen Plan, möglichst viele Juden zu töten, weiterspinnen, aber zum Glück nicht in die Tat umsetzen.

Seine Gedanken und Ideen hat Stefan B. in einem Manifest dargelegt. Vor Gericht zeigt er keinen Gesinnungswandel. Er nutzt die letzte Gelegenheit des Schlusswortes zur Verteidigung seines Weltbilds: Einen Schauprozess habe man ihm in Magdeburg gemacht, in dem das Urteil schon feststehe, er mache sich keine Illusionen darüber, dass er eine lebenslange Haftstrafe erhalten werde und redet von einem bevorstehenden Bürgerkrieg. Vom Kampf gegen die „globalistisch-jüdische Weltverschwörung“ halte ihn das Urteil nicht ab, und „nach dem Bürgerkrieg“ werde man sehen wer Recht behalte. Wie schon mehrmals im Prozess leugnete er auch in seiner Schlussrede den Holocaust. Woher diese Wahnvorstellungen kommen, lässt sich im Prozess nicht klären. Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Halle vermutet sie im familiären Umfeld. Die Eltern und die Schwester hatten von ihrem Recht auf Zeugnisverweigerung Gebrauch gemacht und nicht vor Gericht ausgesagt.

Uneinsichtig bis zuletzt

Reue zeigte Stefan B. zu keinem Zeitpunkt. Das Gericht verurteilte ihn am 21. Dezember wie von der Staatsanwaltschaft gefordert zur Höchststrafe: Lebenslange Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung und der Feststellung der besonderen Schwere der Schuld. Der Verteidiger hatte kein milderes Urteil gefordert. Allerdings plädierte er dafür, den Angriff auf die Synagoge nicht als versuchten Mord zu werten, da der Angeklagte von sich aus von dem Versuch zurückgetreten sei, sie zu stürmen. Außerdem wies er auf die schweren psychischen Probleme des Angeklagten hin, die auch in psychiatrischen Gutachten festgestellt worden waren. In den Gutachten war allerdings auch festgestellt worden, dass der Angeklagte trotz dieser Probleme voll schuldfähig sei.

Dass er keineswegs bereit ist, in Zukunft von Gewalt Abstand zu nehmen bewies Stefan B. gleich nach dem Ende der Gerichtsverhandlung: Er griff zu dem einzigen Gegenstand, dessen er habhaft werden konnte und schleuderte einen Aktenordner auf die Opferanwälte. Diese wurden glücklicherweise nicht getroffen. Die Verurteilung erfolgte wegen Mordes in zwei Fällen, versuchten Mordes in insgesamt 62 Fällen, versuchter schwerer räuberischer Erpressung, fahrlässiger Körperverletzung, Gefährdung des Straßenverkehrs und Volksverhetzung. Die Opferanwälte forderten, ein gesondertes Verfahren wegen der wiederholten Holocaustleugnung anzustrengen.

Die größte Gefahr ist und bleibt die Tatsache, dass Stefan B. möglicherweise doch kein Einzeltäter war. Es gibt strukturelle Neonazi-Netzwerke, die Attentäter wie Stefan B. Nahrung geben und diesen Wahnsinn überhaupt erst möglich gemacht haben. Der Kampf gegen Antisemitismus muss weiter fortgesetzt werden. Es liegt ein weiter Weg hinter uns und es liegt noch ein weiter Weg vor uns.

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