Das „Jerusalem am Rhein“ soll Weltkulturerbe werden
Die Rabbiner der rheinischen SchUM-Städte Mainz, Speyer und Worms hatten im Mittelalter enorme Bedeutung in der jüdischen Welt. Hintergründe zur Geschichte der SchUM-Städte und ein Interview der JÜDISCHEN RUNDSCHAU mit dem Mainzer Bürgermeister zur Bewerbung bei der UNESCO.
Stifterinschrift von 1034 an der Synagoge von Worms
Ein Getränkemarkt, das Vereinsheim eines Fastnachtsclubs und das eines Amateurfußballvereins oder für das Rhein-Main-Gebiet günstige Mietwohnungen. Die Mombacher Straße war über Jahre der Mainzer Hinterhof – ein Weg für Kenner, um den Hauptverkehrswegen auszuweichen. In der Mombacher Straße liegt auch der jüdische Friedhof. Ein Ort mit einer – tatsächlich – tausendjährigen Geschichte. Doch lange Zeit städtebaulich unscheinbar eingebunden wie ein Wertstoffhof am Rande der Stadt.
Aber nun erfährt der Friedhof eine Wende in seiner ohnehin an Wendungen reichen Geschichte. Nicht nur, weil die Stadt Mainz wächst. In wenigen Jahren hat sie ihre Einwohnerzahl um zehn Prozent vergrößert. Entsprechend muss gebaut werden. In der Folge rückt der Friedhof an das Geschehen der Stadt heran: Ein Hotel ist in der Nähe entstanden, ein großes Studentenwohnheim und ein Büro-Areal für Startup-Unternehmen.
Aber das ist nicht der einzige Grund, warum der jüdische Friedhof stärker ins Bewusstsein der Mainzer rückt. Das Land Rheinland-Pfalz hat eine Initiative gestartet, um die bedeutenden Monumente jüdischen Lebens in Worms, Speyer und Mainz zum Welterbe der Menschheit erklären zu lassen. Gemeinsam mit ihren jüdischen Gemeinden haben die Städte den Antrag eingebracht – die Entscheidung wird für den kommenden Sommer erwartet.
Worms, Speyer und Mainz gelten als „SchUM“-Städte. Es sind die Anfangsbuchstaben ihrer hebräischen Namen. Sie waren Zentren des aschkenasischen Judentums. Die Gründung der jüdischen Gemeinde in Mainz wird im zehnten Jahrhundert nach Christus vermutet. Auf dem Friedhof findet sich der Grabstein von Jehuda ben Senior – datiert auf das Jahr 1049.
Erlasse der Talmudschulen
Die SchUM-Städte waren als Zentren des aschkenasischen Judentums so bedeutend, dass Historiker gerne vom „Jerusalem am Rhein“ sprechen. Die Erlasse ihrer Talmudschulen wirkten weit über das heutige Rheinland-Pfalz hinaus. Der Gelehrte Isaak Or Saura hinterließ gegen 1200 das Zitat: „Wie sehr gehören unsere Lehrer in Mainz, in Worms und in Speyer zu den gelehrtesten der Gelehrten, zu den Heiligen des Höchsten...von dort geht die Lehre aus für ganz Israel...seit dem Tage ihrer Gründung richteten sich alle Gemeinden nach ihnen, am Rhein und im ganzen Land Aschkenas.“
Die Geschichte des aschkenasischen Judentums erlebte am Rhein ab dem 15. Jahrhundert einen Niedergang. Während ihre Mitglieder in Mainz bis ins 18. Jahrhundert hinein dauerhaft vertrieben wurden, bestand die jüdische Gemeinde in Worms durchgängig – bis in die Zeit des Nationalsozialismus.
Die Synagoge in Worms wurde 1034 errichtet und 1096 zerstört – von Kreuzzüglern. 1175 wurde dann ein Neubau beendet, der 1938 in der „Pogromnacht“ zerstört wurde. Worms baute die Synagoge bereits 1961 wieder auf – in Mainz dauerte es bis 2010. Der Zoll hatte an der historischen Stelle gebaut und wollte den hässlichen Klotzbau nicht freigeben.
In Speyer ist die Monumental-Mikwe aus der Zeit um 1120 erhalten und gehört somit zu den ältesten seiner Art in Europa. Die jüdische Gemeinde bestand hier bis ins 16. Jahrhundert. Wie auch die Gemeinden in den anderen SchUM-Städten kam sie bis zur Zeit des Nationalsozialismus wieder zusammen – ohne jedoch die alte Bedeutung wiederzuerlangen.
Diese und andere Stätten jüdischer Kultur in den SchUM-Städten sollen nun zum Weltkulturerbe ernannt werden. Dieses beruht auf einer Konvention aus dem Jahr 1972. Zu Beginn des Jahres umfasste die Liste rund 1.100 Stätten in 167 Ländern. Zu den Auswahlkriterien zählen Einzigartigkeit, historische Echtheit und Unversehrtheit.
Der jüdische Friedhof in Mainz erhält einen Besucherpavillon auf dem Hartenberg, in der Nähe des SWR-Landessendezentrums. Der Friedhof liegt am Hang des Berges und die Besucher sollen den Ort erfahren können, ohne dabei die Totenruhe zu stören.
JÜDISCHE RUNDSCHAU: Wie kam es zu der Initiative, die SchUM-Stätten zum Weltkulturerbe erklären lassen zu wollen, Herr Ebling?
Ebling: Das Projekt war zum einen historisch getrieben. Wir haben als Stadt mit einer reichen Geschichte auch eine reiche jüdische Geschichte. Gerade für das aschkenasische Judentum hat Mainz als Ort der Lehre und der Gesetzgebung eine wichtige Rolle gespielt. Diese historische Phase herauszuarbeiten ist eine Motivation.
JÜDISCHE RUNDSCHAU: Und die andere?
Ebling: Wir leben in einer Zeit, in der jüdisches Leben stärker im öffentlichen Fokus ist. Doch es gibt auch das Problem des wachsenden Antisemitismus. Wir wollen auch ein Zeichen setzen, indem wir zeigen: Es gab in Mainz eine Zeit der Blüte jüdischen Lebens, die wir heute stärker herausstellen möchten und an die wir anknüpfen wollen.
JÜDISCHE RUNDSCHAU: Wie wurde die Bewerbung angegangen?
Ebling: Ausgangspunkt war der Impuls des Landes, die drei Städte Mainz, Worms und Speyer zusammenzubringen mit den jeweiligen jüdischen Gemeinden, und gemeinsam einen Antrag auf Anerkennung durch die UNESCO als Welterbe der Menschheit zu formulieren. Daraufhin wurde ein Verein gegründet, der die Initiative trägt. Das Ziel war es, einen gemeinsamen Management-Plan zu erarbeiten, den die UNESCO zur Voraussetzung macht. Auf dieser Basis konnte die Bewerbung dann gestützt durch eine große wissenschaftliche Expertise starten. Parallel zu unseren Bemühungen gab es Vorfälle wie den Anschlag in Halle, die uns erst recht darin bestärkt haben, jüdisches Leben sichtbar machen zu wollen.
JÜDISCHE RUNDSCHAU: Gelingt das?
Ebling: Wir meinen, dass es gelingt. Dieses Jahr konnten wir zwar leider wegen Corona zum Beispiel die Feier zu zehn Jahren Neue Synagoge nicht begehen. Doch grundsätzlich nehmen wir solche Anlässe gerne wahr, um die jüdische Kultur vor Ort gemeinsam mit unserer jüdischen Gemeinde stärker ins öffentliche Leben zu tragen. Dazu haben wir jetzt unter anderem auch die finanzielle Förderung für viele Aspekte, um die sich die Gemeinde kümmert, bereitgestellt. Eine wichtige Voraussetzung ist, dass wir als Stadt mit der jüdischen Gemeinde partnerschaftlich und offen zusammenarbeiten.
JÜDISCHE RUNDSCHAU: War diese Voraussetzung gegeben?
Bürgermeister Michael Ebling
Ebling: Der Ausgang war schwieriger. Aber durch das Weltkulturerbe-Verfahren haben wir viel Positives erfahren. Das Verfahren hat auch dazu beigetragen, dass es eine ganz besondere Vertrauensbasis gibt. Das hat viele Projekte erleichtert.
JÜDISCHE RUNDSCHAU: Zum Beispiel?
Ebling: Die Neuauflage der Magenza-Broschüre. In dieser haben wir als Stadt bewusst gezeigt, wo die Orte des jüdischen Zusammenlebens sind – auch, wo die Orte waren, die in der schlimmen Zeit des Faschismus zerstört wurden und die wir im Mahnen und Gedenken weitertragen wollen. Auch gab es die Möglichkeit, die Mikwen an der Alten Synagoge im Stadtteil Weisenau zu sanieren oder ein Nachbargebäude vorsorglich zu erwerben, um den Komplex zukünftig weiterzuentwickeln. Auch ist seit 2014 ein Runder Tisch „Magenza“ entstanden, der das Rückgrat aller Aktivitäten bildet. Zum Beispiel für die Reihe der Jüdischen Kulturtage, die wir 2020 zum zweiten Mal ausgerichtet haben.
JÜDISCHE RUNDSCHAU: Die Neue Synagoge ist sehr schnell zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt aufgestiegen, wie der Dom oder die Chagall-Fenster. Ist die jüdische Kultur Teil der Tourismus-Strategie?
Ebling: Wir sehen, neben den anderen beschriebenen Effekten, auch den hohen touristischen Nutzen, den eine Ernennung zum Weltkulturerbe mit sich bringt. Welterbe-Städte sind nun einmal Städte, die besucht werden, weil sie ein außerordentlicher Teil der Geschichte sind. Das berücksichtigen wir natürlich auch.
JÜDISCHE RUNDSCHAU: Wie?
Ebling: Wir haben zum Beispiel in unsere Mainz-App zum Jüdischen Mainz eine Virtual Reality eingefügt, die es ermöglicht, das alte jüdische Viertel mit der Synagoge und der Judenwache digital auferstehen zu lassen. Über die Digitalisierung alter Bilder entsteht so ein guter Eindruck davon, wo jüdisches Leben in Mainz zuhause war. Durch die Schäden des Zweiten Weltkriegs ist das im wirklichen Stadtbild leider nicht mehr erkennbar.
JÜDISCHE RUNDSCHAU: Der jüdische Friedhof lag städtebaulich bisher abgelegen. Nun wird das Gelände jenseits des alten Güterbahnhofs massiv aufgewertet, Studentenheime, Büros oder Hotels entstehen dort. Inwiefern ändert das die Wahrnehmung des Friedhofs?
Ebling: In erster Linie ist der Ort aufgrund seiner hohen historischen Bedeutung Bestandteil des Weltkulturerbes und wird de facto auch so bewahrt und dargestellt. Deswegen wollen wir eine Möglichkeit schaffen, den Ort besser erfahrbar zu machen. Andererseits ist das natürlich ein sensibles Thema. Aus Respekt vor der Totenruhe und den konservatorischen Regeln wollen wir nicht, dass Menschen auf dem Gelände spazieren gehen. Deswegen ist in direkter Nachbarschaft ein Besucherpavillon geplant. Durch die abschüssige Lage des Geländes können wir dem Besucher von dort einen guten Einblick gewähren und das Umfeld des Friedhofs wird attraktiver.
JÜDISCHE RUNDSCHAU: Nun hat die abgelegene Lage den Ort bisher auch geschützt. Wird er unsicherer durch die heranrückende Stadt?
Ebling: Im Moment können wir von Glück sagen, dass der Ort kein Gegenstand von Attacken ist. Aber unser Realismus ist groß genug, zu wissen, dass wir dabei sind, den Ort aus seinem Dornröschen-Schlaf zu erwecken. Wenn er dann wahrnehmbarer wird, steigt auch das Risiko. Das ist ein Teil der Fragen, die wir im laufenden architektonischen Wettbewerb klären müssen.
JÜDISCHE RUNDSCHAU: Wie kann das aussehen?
Ebling: Friedhöfe sind oft ummauert. Hier ist das nicht der Fall, das ist historisch so gewachsen. Und natürlich wollen wir jetzt keine Mauern errichten – das wäre ein fatales Symbol. Deswegen diskutieren wir jetzt die Frage, wie wir den Schutz sicherstellen werden.
JÜDISCHE RUNDSCHAU: Danke für das Gespräch.
Das Interview führte
Mario Thurnes.
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